von Jürgen Leibiger
Landauf, landab werden die Konjunkturprognosen für 2019 nach unten korrigiert und die Risiken für den weiteren Aufschwung geprüft. Alle Institute und Institutionen, die damit befasst sind, haben ihre Prognosen für das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2019 teils drastisch gesenkt. Die Schätzungen reichen von 0,6 Prozent (ifo-Institut München im März) bis zu dem vom gewerkschaftsnahen IMK vor wenigen Tagen geschätzten 1,1 Prozent Wachstum. Interessant ist, dass das ifo-Institut seiner Prognose die Überschrift „Deutsche Wirtschaft im Abschwung“ gibt, das IMK jedoch nur von einer „gedämpften Wirtschaftsentwicklung“ spricht, woraus die linke Tageszeitung neues deutschland sogar ein „Kein Ende des Aufschwungs in Sicht“ macht. Na ja, das ist dann wohl ein Fall von halber Flasche voll, halber Flasche leer.
Fast einheitlich werden in allen Prognosen dieselben Risiken für die Konjunkturentwicklung angesprochen. Beispielhaft sei das IMK zitiert: „Die Abwärtsrisiken sind gegenwärtig erheblich. Sie resultieren in erster Linie aus der Gefahr eines harten Brexit, einer weiteren Wachstumsverlangsamung in China und einer Eskalation des Handelskonflikts der USA mit der EU.“ So ähnlich kann das auch beim Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung oder in der Konjunktureinschätzung der Bundesbank nachgelesen werden. Alle diese Einschätzungen verorten die Konjunkturrisiken also im Ausland und in der Wirtschaftspolitik. Über Risiken, die eventuell in Deutschland selbst liegen, ist nirgends etwas zu lesen. Steigende Beschäftigung, höhere Löhne und zunehmender privater Konsum sorgten für höhere Binnennachfrage; damit könnten negative Schocks aus dem Ausland in ihrer Wirkung auf die deutsche Konjunktur abgefedert werden, so der Tenor.
Nach diesen Einschätzungen gibt es offenbar keinerlei Risiken, die in Deutschland liegen und es gibt auch keine Rezessions- oder Krisenursachen, die marktinhärent sind und vom Aufschwung selbst erzeugt werden. Aber schon die Benutzung des Begriffs „Risiko“ weist in diesem Zusammenhang in die falsche Richtung. Ein Risiko geht immer mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einher, das heißt eine Rezession oder Krise kann, muss aber nicht eintreten. Nach den genannten Prognosen können sie vermieden werden, wenn der Handelskrieg beendet wird, wenn der Brexit abgesagt wird und wenn China wieder ausreichend wächst. In Wirklichkeit ist es jedoch sicher, dass auch in diesem Falle eine Konjunkturkrise kommen wird; unsicher ist lediglich, wann sie kommt, welche Formen sie annimmt und wie heftig sie wird. Das kann die Wirtschaftspolitik innerhalb gewisser Grenzen natürlich beeinflussen. Die Bundebank schreibt in diesem Zusammenhang von „zyklischen“ Risiken. Aber das von ihr verwendete Prognosemodell, das sogenannte DSGE (Dynamic Stochastic General Equilibrium)-Modell, beruht auf den Prämissen der Mainstream-Theorie, nach denen es markt- oder systemgenerierte zyklische Krisen gar nicht geben kann. Krisen seien vielmehr immer das Resultat externer, politischer, technologischer oder natürlicher Schocks: Handelskrieg, Brexit, neue Abgasregeln für die Autoindustrie, Niedrigwasser im Rhein, der Weltmarkt außerhalb Deutschlands und natürlich China.
Es ist der lange Aufschwung seit 2010, der, unterbrochen durch eine kurze Rezession (zwei Quartale im Jahr 2012), die Voraussetzungen für die nächste Krise schafft. Die hohe Auslastung der Produktionskapazitäten, die stabile Binnennachfrage und gut laufende Weltkonjunktur haben die Investitionen beflügelt. Während sich der private und staatliche Konsum seit 2010 um 25 Prozent erhöht hat, wuchsen die Bruttoanlageinvestitionen, angeheizt durch die internationale Konkurrenz um 40 Prozent. Eine Zeitlang generieren die Investitionen natürlich selbst Nachfrage, aber irgendwann muss das gesamtwirtschaftlich geschaffene Produktionspotential konsumtiv verbraucht werden, soll seine Verwertung gelingen. Auch der Export schafft hier nur zeitweilig Entlastung, denn alle Länder stehen vor diesem Problem. Wenn die Diskrepanz ein bestimmtes Ausmaß erreicht hat, verlangsamt sich das Wachstum der Auftragseingänge, der Absatz und die Preise stagnieren und die geschaffenen Kapazitäten stellen sich als Überkapazitäten, als überakkumuliertes Kapital heraus. Die Rezession beginnt. Die ersten Zeichen dafür lieferte die Industrie schon das ganze Jahr 2018 über; Umsatz und operatives Ergebnis sanken im Jahresvergleich. Das Muster des Aufbaus von Krisenpotential ist immer dasselbe: Überschießende Investitionen kündigen ein „Überhitzen“ der Konjunktur und deren Verfall an. Von 2002 bis 2007 wuchsen die Investitionen im Vorfeld der damaligen Weltwirtschaftskrise um 17, der Konsum nur um 12 Prozent. Auch damals zeigten sich die Überkapazitäten wie heute zuerst in der internationalen Chip- und in der Autoindustrie. Lange bevor im September 2008 die Lehman-Pleite eintrat, standen die Zeichen in den produzierenden Bereichen auf Sturm. Wenn dann aufgrund des langsameren Gewinn- und Einkommenswachstums oder sogar deren Verfall das Bedienen von Krediten ins Rutschen kommt, bricht die Krise aus und wird zuerst im Finanzsektor offenbar. Ein kleiner Anlass reicht dann, das wacklige Gebäude zum Einsturz zu bringen und einen Schneeball-Effekt (negative Multiplikatorprozesse) in Gang zu setzen. Auch der Rezession von 2012 ging übrigens ein im Vergleich zum Konsum mehr als doppelt so rasches Investitionswachstum voraus, was damals zunächst für äußersten Konjunkturoptimismus sorgte; eine Rezession schien höchst unwahrscheinlich.
Der tatsächliche Beginn einer Krise, der Kipppunkt im Konjunkturverlauf, kann kaum exakt vorausgesagt werden, zumal die Daten in Qualität, Tiefe, Breite und Aktualität der Wirklichkeit hinterherhinken. Außerdem schwingt auch bei den verwendeten Modellen und Prognosen immer ein interessenbedingtes Moment mit. Für manche Linke befindet sich die kapitalistische Wirtschaft ja permanent in der Krise; jeder negative Indikator wird dann entsprechend interpretiert. Die Bunderegierung wird ihre Prognose auch eher verhalten ansetzen, um dann, wenn es denn nicht so schlimm kommt, das als Folge ihrer Wirtschaftspolitik verkaufen zu können. Für die Gewerkschaften sind negative Wachstumsprognosen eher Gift für anstehende Tarifverhandlungen. Und manche Wirtschaftswissenschaftler verweisen auf das Phänomen der „self fullfilling prophecy“. Im September 2008, als die Krise längst offenbar war, mokierte sich Steffen Kampeter, damals haushaltspolitischer Sprecher der CDU im Bundestag (heute Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände), über entsprechende Warnungen und rief in den Saal: „Noch drei, vier solche Reden und wir haben wirklich eine Krise am Hals.“ Und Klaus Zimmermann, der damalige Chef des Berliner DIW-Instituts kündigte an, erstmal überhaupt keine Konjunkturprognose mehr vorzulegen. Er hatte Angst, mit negativen Aussagen die erwartungsgesteuerten Investitionen weiter einzutrüben.
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