von Herbert Bertsch
Am 21. Mai 2019 sind es auf den Tag 50 Jahre her: „Die Welt schaute auf Kassel“, schrieb die Hessische Niedersächsische Allgemeine (HNA) zum 40. Jahrestag. Da trafen sich Bundeskanzler Willy Brandt und Ministerpräsident Willi Stoph. Es war der Gegenbesuch zur Brandt-Reise nach Erfurt, seinerzeit ein Ereignis von europäischer Bedeutung mit allerlei Überraschungen. Von dem vorausgegangenen Treffen der Ost- und Westexperten verschiedenster Branchen, die dafür tätig waren, wurde kolportiert, der Vertreter der Sicherungsgruppe Bonn sei dadurch aufgefallen, dass er kaum etwas sagte. Darauf angesprochen, gab er – sinngemäß – eine überzeugende Begründung: Was das offizielle Programm angehe, habe er volles Vertrauen in die ostdeutschen Kollegen, und von der Bevölkerung her gäbe es keine Gefährdung für den Bundeskanzler. Im Prinzip war das alles richtig.
Wie aber in Kassel? Um 9.30 Uhr hält der Sonderzug mit der DDR-Delegation, deren Mitarbeitern und Journalisten am Gleis 3 im Bahnhof Wilhelmshöhe. Nach Begrüßung geht es zum Schlosshotel „Wilhelmshöhe“. Der Konvoi wird angeführt von einer überlangen Limousine mit dem Kennzeichen „S – VC 600“ und den Standarten von BRD und DDR. Plötzlich scharfer Stopp der dicht auffahrenden Wagen. Ein Passant hat sich über die Motorhaube des Spitzenfahrzeugs geworfen; gellendes Geschrei, dennoch klar zu verstehen im mehrstimmigen Sprechchor: „Willy Brandt – an die Wand“.
Ein weiterer Zwischenfall nach der Ankunft im Hotel (laut HNA): „Bevor die Gespräche überhaupt inhaltlich werden können, unterbricht Stoph den Bundeskanzler. Gerade hat man ihm einen Zettel in den Tagungssaal gereicht. Drei Rechtsextremisten aus Schleswig-Holstein, die sich als Journalisten getarnt in den Sperrbezirk schleichen konnten, haben die DDR-Flagge vor dem Schlosshotel vom Mast geholt. Stoph protestiert, Brandt entschuldigt sich, die Gesprächsatmosphäre ist gereizt.“
Brandt ist tief betroffen aus doppeltem Grund: weil der Vandalismus nicht verhindert wurde, aber auch, weil ihm die eigenen Leute nichts davon berichten. Zumindest einige der DDR-Gäste bekommen ob dieser Szenen Zweifel, ob ihre bisherige Einschätzung der Person des Bundeskanzlers und des inneren Kräfteverhältnisses in der BRD zutrifft. Ungeachtet dessen bleibt die Frage nach der politischen Grundstruktur der BRD angesichts solcher Ereignisse. Wer sind „Rechtsextremisten“?
Man rufe bei Wikipedia Dietrich Murswiek auf: „Am 21. Mai 1970 war Murswiek an einer Aktion im Rahmen einer Demonstration gegen das Treffen von Willy Brandt und Willi Stoph in Kassel beteiligt, bei der ‚die DDR-Spalterflagge‘ vom Mast gerissen wurde. Murswiek war für die Aktion von dem rechtsextremen Deutschen Studenten-Anzeiger besonders gelobt worden.“ Gemäß der Maxime der Extremistenbeschlüsse (unter der Ägide Brandts mit besonderer bayerischer Ausformung eingeführt und dort 1991 zusätzlich aktualisiert), wonach gleich stark nach rechts und links zu exekutieren sei, könnte der Eintrag hier enden, wenn man Beispiele der Beendigung von Universitätskarrieren „linker“ Wissenschaftler anführt.
Professor Dr. Murswiek, inzwischen Emeritus, machte als Rechtswissenschaftler jedoch steile Universitätskarriere, war und ist als Gutachter und Prozessvertreter tätig. „Er gehörte von 1972 bis 2015 der CDU an und berät Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU-Fraktion in staats- und völkerrechtlichen Fragen, hat aber auch Gutachten für Die Grünen, DIE LINKE und die ödp erstellt sowie diese in Prozessen vertreten.“
Jüngstes Beispiel ist sein Gutachten im Auftrag der AfD vom 22. Oktober 2018, das häufig mit einem Gutachten des Bundesamts für Verfassungsschutz über die AfD vermischt oder verwechselt wird. Zu Letzterem Spiegel online vom 17. Januar 2019: „Klares Urteil der Verfassungsschützer: […] 436 Seiten ist es dick, und in seiner Bewertung glasklar. Die Auswertung der Aussagen von Funktionären und Mitgliedern der Alternative für Deutschland (AfD) lasse ‚erste deutliche Anhaltspunkte für eine Ausrichtung der Partei gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung erkennen‘. […] BfV-Präsident Thomas Haldenwang hat die AfD am Dienstag auf Grundlage des Gutachtens zum ‚Prüffall‘ erklärt. Die Nachwuchsorganisation ‚Junge Alternative‘ (JA) und die vom Thüringer Landeschef Björn Höcke angeführte AfD-Gruppe ‚Der Flügel‘ wurden als ‚Verdachtsfälle‘ deklariert. Gegen sie kann das Bundesamt nun auch nachrichtendienstliche Mittel einsetzen.“
Das bedeutet die Freigabe sämtlicher nachrichtendienstlichen Verfügbarkeiten, insbesondere den Einsatz von Spitzeln, geheime Ermittlungen und Befragungen. Eine weitere Auswirkung ist die Praxis in Medien, die Einordnung von Personen und Organisationen als „Prüffall“ so zu interpretieren, als seien sie der Verfassungsfeindlichkeit fast schon überführt. Die KPD, die DKP, die MLPD und Teile der „Linken“, auch Bundestagsabgeordnete, erfahren diese Behandlung und deren Auswirkungen seit Jahren. Selbst Ministerpräsident Bodo Ramelow wurde erst nach langwierigen Verhandlungen als Person von der Beobachtung ausgenommen. Übrigens unterliegen immer noch Politiker der DDR und anderer Ostblockstaaten der Überwachung vermittels “Abhöraktionen/Analysen“ – was immer das bedeuten mag. (Angaben nach Wikipedia: Bundesamt für Verfassungsschutz, Absatz: Beobachtete Organisationen und Personen.)
Weit daneben lag die Fehlinterpretation zahlreicher Medien hinsichtlich des Murswiek-Gutachtens: Sie nannten es ein törichtes Eigentor der AfD, weil die Partei es selbst in Auftrag gegeben habe und nun bestätigt bekomme, dass man häufig verfassungswidrig agiere. Dazu Murswiek am 4. November 2018 erläuternd: „Mein Gutachten befasst sich überhaupt nicht mit der Frage, ob die AfD vom Verfassungsschutz beobachtet werden darf, sondern es stellt allgemein die rechtlichen Voraussetzungen dar, die erfüllt sein müssen, damit der Verfassungsschutz eine politische Partei beobachten darf.“ Also enthält es gewiss nützliche Warnhinweise für die Auftraggeber, aber auch Signale an die berufsmäßigen Verfassungsschützer, was sie sollen, dürfen, können – und im Gegenteil.
Klarheit darüber ist für das Spannungsfeld zwischen den Rechten politischer Parteien und dem Schutzgut „freiheitlich demokratische Grundordnung“ wesentlich. Das betrifft keineswegs nur die AfD, sondern ist von allgemeinem Interesse. Bereits in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom 9. März 2016 wurden als „unvereinbar“ mit der BRD-Grundordnung diese „Bestrebungen“ angeführt: „Staats- und Gesellschaftsordnungen, die an den Nationalsozialismus angelehnt sind und beispielsweise Rassismus, Antisemitismus oder eine dem Individuum absolut übergeordnete ‚Volksgemeinschaft‘ propagieren, die eine ‚Diktatur des Proletariats im klassisch marxistisch-leninistischen Sinne‘ vorsehen oder die zugunsten islamischer Herrschaft insbesondere die Menschenwürde, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen sowie die Religionsfreiheit missachten“.
In diese Interpretation des Verfassungsschutzauftrags passt die Beispiel-Feststellung in Murswieks Gutachten, auch Geschichtswissenschaft könne die Aufmerksamkeit des Verfassungsschutzes erregen: nämlich in Gestalt von „‚Geschichtsrevisionismus‘ als Versuch, ein wissenschaftlich, politisch und gesellschaftlich anerkanntes Geschichtsbild zu relativieren, indem bestimmte Ereignisse wesentlich anders als in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft dargestellt, erklärt oder gedeutet werden“. Dafür gibt es in der deutschen Geschichte hinreichend Material.
Da kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der weit gefächerte Themenkanon des Verfassungsschutzes Bereiche erfasst, die man in dessen Aufgabenprofil nicht vermutet. Und Zweifel, ja Besorgnis stellen sich ein hinsichtlich der Qualifikation der Mitarbeiter für all dieses. Von der Zulässigkeit gar nicht erst zu reden. Es gibt also hinreichend Gründe und Anlässe für alle verfassungstreuen Demokraten, auf Grenzüberschreitungen in jeder Richtung zu achten und gegebenenfalls zu reagieren, auch wenn man nicht betroffen scheint.
Schlagwörter: AfD, Dietrich Murswiek, Herbert Bertsch, Kassel, Verfassungsschutz, Willi Stoph, Willy Brandt