22. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2019

Unter Freunden

von Herbert Bertsch

Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig
verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei.

Angela Merkel im Bierzelt von Trudering, Mai 2017

Gegen diesen Befund, bezogen auf die gegenwärtige Lage ist nichts einzuwenden, wohl aber gegen die implizierte Annahme, dies sei davor anders gewesen. Dieser Irrtum ist zwar weit verbreitet und galt bis zum Amtsantritt von US-Präsident Trump geradezu als feste Konstante für die auswärtige Politik der Bundesrepublik. Nach Befragungen ist die Mehrheit der Deutschen mit der Bundeskanzlerin gegenwärtig der Meinung, mit Donald Trump sei der beklagte Wandel eingetreten. Eine trotzige politische Konsequenz, zunächst ausgesprochen vom französischen Präsidenten Macron, auch mit Applaus des SPD-Politikers Sigmar Gabriel und von Teilen der deutschen Politik und Öffentlichkeit unterstützt: Wir müssten und könnten selbst als Rumpf-Europäer „eine eigene Streitmacht mit Blick auf China, auf Russland und sogar auf die USA“ aufstellen. Die Bundeskanzlerin, auch mit Bezug auf die Werbung für eine europäische Armee durch EU-Kommissionspräsident Juncker, feierte Macron demonstrativ im Europaparlament und fügte gleichsam schelmisch hinzu, dies Projekt wäre eine „Ergänzung zur NATO“. Das hätten nicht nur die staunenden Generale und Admirale der Bundeswehr, sondern auch die NATO-Stäbe gern näher erläutert bekommen. Präsident Trump twitterte, diese Idee sei „sehr beleidigend“. Antwort aus Paris: Seit seinem Amtsantritt seien die USA „ein wenig verlässlicher Partner“. Also, an Offenheit unter Freunden fehlt es derzeit nicht.
Vielleicht vermeinen jetzt aktive Akteure in deutscher Politik, der veröffentlichten Meinung, weniger hervorragend in der Wirtschaft, in offenbarter Unkenntnis der Nachkriegsgeschichte in und um Europa herum, solche Konfrontation mit wechselnden Partnern und Gegnern sei absolut neu, wie im Zitat von Frau Merkel vorgestellt. Möglicherweise lebten sie und andere bislang wirklich in dem Irrtum, das Ziel der amerikanischen Politik nach dem Sieg über die – wie derzeit gern formuliert wird – „Nationalsozialisten“ sei es gewesen, für und in Europa das Wohlergehen seiner Bürger, bei dauerhaftem Ausschluss der Russen, zu sichern. Dazu käme oben drauf eine besondere und herzliche Fürsorge für die Deutschen. Dies sei als eine Art Prämie für die antikommunistische Grundhaltung mit der Bereitschaft zu militärischer Gefolgschaft innerhalb der NATO auch verdient. Diese Fehleinschätzung ist keineswegs jüngeren Datums, nicht erst seit „America first“. Das hat seine Geschichte, auch wenn dies als „Nicht wissen wollen“ nicht so empfunden wird. Da sollten wir prophylaktisch einem weiteren, künftigen Irrtum gegensteuern: der Vermutung in Hoffnung, ohne oder nach Trump werde es wieder so, wie es nie war. Zum Beispiel hinsichtlich der NATO.
Die NATO wurde im April 1949 in Washington gegründet. Das strategische Kalkül: Die alliierte Front war mit dem militärischen Sieg über Deutschland und seine Verbündeten zerfallen. Jetzt gab es alte und neue Wirkkräfte der beginnenden Systemauseinandersetzung weltweit, was in den Koreakrieg, später als Kubakrise und dann in Vietnam eskalierte. Insbesondere Großbritanniens starker Mann Winston Churchill schürte die Befürchtung, es könne auch in Europa zu militärischen Auseinandersetzungen kommen. Man musste die Bedrohung und das eigene Potenzial analysieren, sortieren und die Stimmungslage beachten – noch war der Krieg mit seinen Auswirkungen in Europa gegenwärtig.
Nach anfänglichem Zögern bei Churchills Angebot ließ sich Lord Ismay zum ersten Generalsekretär der NATO (1952–1957) ernennen, der deren Funktion der NATO in drei Essentials zusammenfasste: Die Russen aus Europa fernhalten, die Amerikaner in Europa festbinden, die Deutschen unten halten. Am 5. Juli 2017 warf die New Yorker National Review die Frage auf, wie Lord Ismay im Lichte dessen die Ergebnisse gegenwärtig beurteilen würde, und gab zur Antwort: „Russland ist etwas drin, Amerika ziemlich raus, und Deutschland mehr oben als unten.“ Diesem Befund geht eine umfängliche Information und Analyse voraus, die so beginnt: „Ismays Generation begrüßte den Wiederaufstieg Deutschlands als positive demokratische Kraft sowohl auf dem europäischen Binnenmarkt als auch im aufstrebenden NATO-Bündnis. Aber Ismays Vorstellung von der Funktion der NATO, ‚Deutschland niederzuhalten‘ wurde nicht erreicht, im Bewusstsein der Nachbarn und Mitglieder der Nato aber nicht etwa getilgt“. Die Bundesrepublik Deutschland hingegen hat diesen Aspekt als obsolet behandelt.
Warum wird diese Frage jetzt aufgeworfen, warum dieser Befund zur Geschichte der Beziehungen Deutschlands zu seinen Partnern aus amerikanischer Sicht? Vermutlich aus dieser Befindlichkeit heraus: „Die jüngsten internationalen Pew-Umfragen zeigen, dass Deutschland von allen Ländern der Europäischen Union bei weitem das anti-amerikanischste ist. Nur 52 Prozent hätten eine positive Einschätzung der Vereinigten Staaten, und dies auch schon lange bevor Donald Trump sein Amt antrat. In der Berichterstattung der deutschen Presse zu internationalen Ereignissen hat Trump mit 92 Prozent kritischer Betrachtungen die negativste Bewertung. Eine reelle Zusammenfassung der gegenwärtigen deutschen Ansichten zu den Vereinigten Staaten würde sich nicht wesentlich von den Stereotypen der 1930er Jahre unterscheiden: undiszipliniert, anfällig für wilde Schwankungen der Politik, eine unmenschliche und kommerzialisierte Kultur von schlecht informierten und hoch verschuldeten Verbrauchern.“
Nun gibt es eine Vielfalt an Informationsquellen in den USA, von und zur Befriedigung jeweiliger Interessen, dennoch mit gewisser Rangfolge darin, wer die öffentliche Meinung aufbereitet. National Review, ein zweiwöchentlich erscheinendes Magazin mit 90.000 Stück Auflage, gilt als „Bibel des Konservatismus mit rechtem Einschlag“. Ein Vergleich mit Pew-Umfragen im Original verweist auf das Fehlen wesentlich wichtigerer und in Einzelheiten auch anderer Ergebnisse. Im Tenor der Erhebungen bleibt aber die beklagte reservierte Haltung bei der Quelle bestehen: „Frustration über die USA in der Ära Trump ist insbesondere unter einigen der engsten Alliierten und Partner Amerikas verbreitet. In Deutschland, wo nur 10 Prozent Vertrauen in Trump haben, geben drei Viertel der Menschen an, dass die USA heute weniger tun, um globale Probleme anzusprechen, und der Anteil der Menschen, die glauben, dass die USA persönliche Freiheiten respektieren, ist seit 2008 um 35 Prozentpunkte gesunken.“ (Pew Research Center, 11. Oktober 2018).
Der Schlagabtausch mit und ohne statistische Basis, dafür aber mit Missionsanspruch und Befindlichkeiten ist im vollen Gange. Bemerkenswert dabei, dass die aktuell (noch) nicht vorherrschende Tendenz zunimmt, auf Erfahrungen mit-, also auch gegeneinander, zurückzugreifen, um den gegenteiligen Standpunkt zu erschüttern. Da ist es von der geschönten Faktenauswahl bis zur Erfindung nicht sehr weit. Die „Lehren der Geschichte“ werden bemüht. Und die sind erfahrungsgemäß von aktuellen Erfordernissen oder Annahmen geprägt, sind jeweils von Macht- und Eigentumsverhältnissen abhängig. Die jeweilige „Opposition“ erfreut sich besonderer Beliebtheit beim Kontrahenten. Das Arsenal psychologischer Kampfführung bietet allerlei und wird reichlich genutzt.
Dazu gehören auch subtile Methoden, als deren Beispiel nachfolgender narrativer Text dienen mag: Der Spiegel stellte unter dem Rubrum „Zeitgeschichte“ eine knappe, ausgefeilte Nachricht ins Blatt, gewiss in der Absicht, damit der selbst gewählten Informationspflicht nachzukommen. Ein Schelm, der mehr oder anderes vermutet. „Amerikaner wollten Deutsche ‚eindämmen‘“ heißt die Überschrift. Und dann als redaktionelle Zusammenfassung: „Die US-Truppen in Europa sollten während des Kalten Krieges nicht nur die Sowjetunion abschrecken, sondern auch die verbündete Bundesrepublik ‚eindämmen‘“. Dazu als sprachliche Belehrung vom Spiegel: „Der Begriff ‚Eindämmung‘ wurde in der Öffentlichkeit sonst nur für die US-Politik gegenüber der Sowjetunion verwendet.“ Und weiter informativ: „Während des Kalten Krieges waren zeitweise mehr als 400.000 US-Soldaten in Europa stationiert“. In der Sache selbst handelt es sich um den Fund eines Briefes des damaligen Verteidigungsministers McNamara an Präsident Johnson mit der Information, die US-Militärpräsenz in Europa diene der „Abschreckung jeder bilateralen Sicherheitsabsprache zwischen Bonn und Moskau und solle die Deutschen von einem ‚Wiederaufleben des Militarismus‘ abhalten. Diesem Ziel diene auch die NATO“. Vor zwei Jahren wäre vermutlich diese wenig sensationelle Information unterblieben; falls doch nicht, wäre der Text nicht so eindeutig boshaft gegen die US-Besetzung formuliert worden.
In der Sache bestätigt dieser Beleg, dass das von Kanzler Adenauer 1954 angenommene Angebot zur NATO-Mitgliedschaft keineswegs das Wegfallen der Zielstellung bedeutete, auch mit dem „Instrument NATO“, eine Formulierung von Lord Ismay, „die Deutschen niederzuhalten“. Bemerkenswert, dass in den bekannten und vermutlich auch in noch nicht frei gegebenen Unterlagen die bereits vorhandene Zweistaatlichkeit in Deutschland keineswegs den Oberbegriff „die Deutschen“ eliminierte oder ersetzte.
Bei Inanspruchnahme historischer deutscher Verantwortlichkeiten wird aktuell von Griechenland, häufig und besonders von Polen darauf verwiesen, dass endgültige Regelungen einem künftigen Friedensvertrag aller Kriegführenden vorbehalten bleiben sollten. Nach dem Wegfall von zwei deutschen Nachfolgestaaten mit unterschiedlich auch schon geleisteten Entschädigungen und Reparationen zu einem Staat in Nachfolge ist eine ambivalente Lage entstanden. Selbst eine erneute Aufbröselung der Notlösung „zwei plus vier“ nun aus amerikanischer, zumindest präsidialer Sicht ist nicht außerhalb des Vorstellbaren. Und das ginge dann wirklich an die Substanz der Bundesrepublik.
Abbrüche davon gab es schon – mehr als genug aus deutscher Sicht. Trotz aller häufig beschworenen Freundschaft sei hier daran erinnert, dass Verteidigungsminister McNamara nicht nur besagte Information an seinen Präsidenten schrieb, sondern auch daran mitwirkte, dass die von der BRD geforderten Reaktionen ihrer Verbündeten auf den Mauerbau des Warschauer Vertragsbündnisses unterblieben.
„Im November suchte Strauß persönlich Kennedy, McNamara und Nitze (hoher Abrüstungsexperte, zeitweilig auch Stellvertretender Verteidigungsminister der USA – H.B.) von der Notwendigkeit der ‚nuklearen Abschreckung‘ zu überzeugen. Alles andere komme einem Bruch der geltenden NATO-Strategie gleich. Zum Schluss drängten Strauß und Oberst Friedrich Beermann (wurde später der erste General der Bundeswehr mit SPD-Parteibuch von 1947 – H.B.) im Dezember 1961 in Washington erneut vergebens darauf, eine oder wenige Atombomben demonstrativ ‚against no target‘ über der Ostsee oder einem Truppenübungsplatz in der DDR abzufeuern. Bonn hatte machtpolitisch hoch gepokert, aber Washington setzte Grenzen“ (Detlef Bald: „Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955–2005“). So endete dieser Bonner Versuch, die USA dafür in Haftung zu nehmen, dass die Franzosen und die Engländer eigene Atomwaffen mit eigener Verfügungsgewalt haben, Deutschland dies aber verwehrt blieb. Die USA nutzen dies heute vielmehr als Zwickmühle, um von „den Deutschen“ Wohlverhalten und finanzielle Mittel zu verlangen, gegen das vage Versprechen, dann atomare Schutzmacht zu sein. Da wäre es doch die beste Lösung, „das Teufelszeug“ (Erich Honecker) aus Kerneuropa und dem ganzen Kontinent als Drohung und zur gegenseitigen Abschreckung zu verbannen. Mit Sitz im Sicherheitsrat könnte man dabei sogar über Europa hinaus wirken.