von Wolfgang Schwarz
Es gibt keinen Zweifel, dass es
in einem Atomkrieg keine Sieger geben kann
und dass ein solcher niemals entfesselt werden soll.
Sergei Lawrow
(Außenminister Russlands)
Seitdem das Feindbild Russland in den Führungsetagen des Westens, in Sonderheit der NATO, und auch nicht nur in deutschen Mainstreammedien wieder stimmt, sind die Verlautbarungen der Vernunft, die Kooperation mit Moskau den Vorzug vor Konfrontation geben, zwar nicht gänzlich verstummt, finden aber in der veröffentlichten Meinung nahezu keinen Niederschlag mehr. Um solcherlei Gleichschaltung landesweit herzustellen und durchzuhalten, bedurfte es früher einer Abteilung Agitation beim ZK der SED, mit einem entsprechenden Zuchtmeister an der Spitze. Der letzte seiner Art, Heinz Geggel, galt als besonders rigide und wäre wahrscheinlich, weilte er denn noch unter den Lebenden, fürbass erstaunt, dass das ohne ihn und seine Mannen heute weit effizienter funktioniert …
Doch zu den Stimmen der Vernunft.
Zu denen gehörten in den vergangenen Monaten vor allem auch jene, die vor den negativen sicherheitspolitischen Konsequenzen der von US-Präsident Trump verfolgten Aufkündigung des INF-Vertrages warnten. Der war 1987 zwischen Washington und Moskau abgeschlossen worden und hatte zum Verbot und zur Abrüstung einer ganzen Kategorie atomarer (und konventioneller) Trägermittel bei deren Streitkräften geführt, nämlich der landgestützten Mittelstreckenwaffen (ballistische Raketen und Cruise Missiles) mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern. Seit einigen Jahren werfen sich beide Seiten wechselweise Vertragsverletzungen vor, ohne dass substanzielle Gespräche zu deren Klärung aufgenommen worden wären. Der Hauptvorwurf seitens der USA lautet, dass Russland mit dem System 9M729 (NATO-Code: SSC-8) eine landgestützte Cruise Missile mit verbotener Reichweite entwickelt und eingeführt habe.
Trump hatte im Oktober erklärt, den INF-Vertrag aufkündigen zu wollen, und im Dezember hatte Washington Russland ein Ultimatum von 60 Tagen gestellt: Man werde sich vom 2. Februar 2019 an nicht mehr an den Vertrag gebunden fühlen, wenn Moskau bis dahin nicht die Zerstörung seiner 9M729-Marschflugkörper zusage. Moskau wurde zu verstehen gegeben, dass diese Position nicht verhandelbar sei. Auf ein russisches Angebot, das laut Außenminister Lawrow bei einem bilateralen Treffen in Genf am 15. Januar unterbreitet worden sei, „sich auf der Expertenebene zu überzeugen, worum es sich in Wirklichkeit bei der Rakete 9M729 handelt“ sei keine Reaktion erfolgt.
Am vergangenen Freitag, dem 1. Februar, haben die USA dann auch offiziell ihren Austritt aus dem INF-Vertrag erklärt. Rechtskräftig wird dieser Schritt laut Vertrag in sechs Monaten.
Zu den expliziten US-Kritikern der eingetretenen Entwicklung zählt zum Beispiel Richard Burt, während der Präsidentschaft von George Bush senior Chefunterhändler bei den Verhandlungen mit der Sowjetunion zur Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen bis zum Abschluss des START-Vertrages im Jahre 1991. Er sieht die Glaub- und Vertrauenswürdigkeit der USA im Hinblick auf künftige sicherheitspolitische Vertragsabschlüsse mit anderen Staaten generell untergraben. Seine Antwort auf die Frage „Wenn Sie Kim Jong-un wären, würden Sie […] ein Atomwaffenabkommen mit den Vereinigten Staaten unterzeichnen?“ lautet: Der müsse „es sich zweimal überlegen“. Und im Hinblick auf „die Rede vom Bau einer deutschen Atombombe“ äußerte Burt: „[…] ich habe mit einigen Leuten gesprochen, die zumindest an dieser Debatte teilnehmen […]. Ich glaube nicht, dass es ein wirklich unabhängiges deutsches Abschreckungsmittel wäre. Die Deutschen würden versuchen, diese Fähigkeit irgendwie zu multilateralisieren. […] Vielleicht mit den Franzosen.“
Zu den warnenden Stimmen hierzulande gehört der Willy-Brandt-Kreis. In bisher drei Erklärungen zur INF-Problematik hat das Gremium Position bezogen. So hieß es am 10. Dezember: „Die einseitige Aufkündigung des INF Vertrages durch die USA ist die verhängnisvolle Einladung zu einem neuen nuklearen Wettrüsten. Sie wird unweigerlich zu mehr Unsicherheit und Instabilität führen, weltweit und vor allem auch in Europa. Sie wird nukleare Schwellenländer veranlassen, eigene Kernwaffenarsenale zu errichten oder auszubauen und es droht die Rückkehr von Illusionen hinsichtlich der Fähigkeit zur Begrenzung nuklear geführter Kriege.“ Und am 19. Januar verlautete: „Eine Kündigung des INF-Vertrages durch die USA wird Russland nicht zur Vertragseinhaltung zurückbringen Die gegenseitigen Vorwürfe ließen sich technisch recht einfach klären, aber offensichtlich ist keine Seite dazu bereit, obwohl Experten gegenseitige Inspektionen oder Modifikationen der INF-Systeme vorgeschlagen haben. Angesichts der Tragweite des INF-Vertrages ist ein russisch-amerikanisches Gipfeltreffen zur Zukunft der nuklearen Abrüstung ebenso dringend notwendig wie eine deutliche Erklärung von führenden europäischen Staatschefs wie Kanzlerin Merkel oder Präsident Macron zur Weiterführung von Abrüstung und Rüstungskontrolle.“
Zum Zeitpunkt dieser Erklärungen war Deutschland im NATO-Rahmen allerdings bereits auf die Linie der bedingungslosen Unterstützung des ultimativen US-Kurses eingeschwenkt. Außenminister Heiko Maas (SPD) versuchte sich zwar anschließend noch in Pendeldiplomatie zwischen Moskau und Washington, aber warum hätte er auch nur an einem der beiden Orte ernst genommen werden sollen? Für Moskau hat sich Deutschland vasallentreu ins NATO-Glied gestellt, und Trump scheint Berlin, mit den Worten Richard Burts, „den Krieg erklärt zu haben“; es werde „handelspolitisch, verteidigungspolitisch, beim Energieeinkauf aus Russland und jetzt mit dem INF-Vertrag angegriffen“.
Klammerbemerkung: Die treuen Schildknappen Washingtons hierzulande – etwa um Friedrich Merz bei der Atlantik-Brücke, im Bundestag und auf den Kommentatorensesseln bei FAZ, Welt und anderen deutschen Leitmedien – ficht das allerdings ebenso wenig an wie weiland die Moskau-Jünger in den Eliten der DDR. Sie beschwören weiter die unverbrüchliche Verbundenheit mit dem Großen Bruder. Das scheint einfach zu den systemneutralen, aber unvermeidlichen Kollateralschäden von ideologiegeleiteten Glaubensbekenntnissen zu gehören.
Das erwähnte Treffen zwischen Washington und Moskau zur INF-Problematik am 15. Januar in Genf sowie Gespräche im NATO-Russland-Rat am 25. Januar brachten keinerlei Bewegung in die Sache. Experten weisen zwar darauf hin, dass die Sechs-Monate-Frist theoretisch noch eine Spanne darstelle, in der der Vertrag zu retten wäre, aber realistische Ansätze dafür sind aktuell nicht erkennbar.
Zur Vollständigkeit – last but not least – aber auch folgendes: Dass dem INF-Vertrag das definitive Ende droht, geht zwar vornehmlich auf die Kappe der USA, aber nicht ausschließlich. Denn Zweifel daran, dass Moskau wirklich ernsthaft am Erhalt des Abkommens interessiert ist, wie es wiederholt erklärt hat, sind durchaus angebracht. Erst jahrelanges bloßes Beharren auf der Erklärung, die Reichweite des Flugkörpers 9M729 verletze den INF-Vertrag nicht, und dann fünf vor zwölf das Angebot, Experten ins Spiel zu bringen, dem am 23. Januar noch die öffentliche Präsentation eines 9M729-Startcontainers unweit Moskaus nachgeschoben wurde, waren kaum der geeignete Weg, den US-Torpedierern des Vertrages den Wind aus den Segeln zu nehmen.
So wird ab Mitte des Jahres wahrscheinlich der New START-Vertrag von 2010 das letzte noch in Kraft befindliche nukleare Rüstungskontrollabkommen zwischen Washington und Moskau bleiben. Diesen Vertrag hatte Trump bereits im Januar 2017, bei seinem ersten Telefonat mit Putin nach seiner, Trumps, Amtseinführung als einen von verschiedenen schlechten von der Obama-Administration ausgehandelten Deals abqualifiziert. Der Vertrag, so Trump, würde Russland bevorteilen.
New START läuft am 5. Februar 2021 aus.
Ein Anschlussvertrag?
Derzeit völlig unvorstellbar.
Und selbst die Minimalvariante einer Vertragsverlängerung um fünf Jahre, wie von Russland wiederholt vorgeschlagen, ist unter den gegebenen Umständen mehr als unwahrscheinlich. Damit scheint nicht zuletzt die Frage Richard Burts „Wollen wir in eine Lage kommen, in der es für interkontinentale Systeme – Bomber, ballistische U-Boot-Raketen, landgestützte Raketen – keinerlei Einschränkungen gibt?“ eine eher rhetorische, respektive bis auf Weiteres beantwortet zu sein.
Schlagwörter: Abrüstung, Atomwaffen, INF-Vertrag, Mittelstreckenwaffen, Nuklearwaffen, Russland, Rüstungskontrolle, START, USA, Westen, Wolfgang Schwarz