von Wolfgang Schwarz
New START, das neue russisch-amerikanische Abkommen zur Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen, war am 8. April 2010 unterzeichnet worden. Es trat – nach der Ratifizierung durch beide Seiten – am 22. März dieses Jahres in Kraft. Und bereits am 2. Juni meldete Reuters unter Berufung auf Angaben des U.S. State Departments vom Vortage: „Russland hat sein nukleares Arsenal bereits unter das Niveau abgesenkt“, das durch New START festgelegt worden sei.
Im Einzelnen verlautbarte: Russland verfüge derzeit über 1.537 stationierte strategische Sprengköpfe – und damit über weniger als jene 1.550, die innerhalb von sieben Jahren nach Inkrafttreten des Abkommens, also bis 2018, zu erreichen die Vertragsparteien vereinbart hatten. Zum Vergleich – der aktuelle amerikanische Bestand liegt bei 1.800 Sprengköpfen. Darüber hinaus sieht New START vor, dass beide Seiten ebenfalls innerhalb der Sieben-Jahres-Frist die Triade ihrer strategischen Trägersysteme (landgestützte Langstreckenraketen / ICBM, seegestützte Langstreckenraketen / SLBM und Langstreckenbomber) auf eine Obergrenze von 800 Systemen reduzieren, darunter maximal 700 aktive. Auch in dieser Hinsicht ist Russland praktisch bereits am Ziel: Zwar liegt der aktuelle russische Gesamtbestand mit 865 Trägersystemen noch leicht über dem vereinbarten Limit (USA: 1.124), aber davon sind nur 521 Systeme aktiv (USA: 882). Und der Forschungsdirektor der unabhängigen amerikanischen Arms Control Association, Tom Collina, merkte an: „Wenn Russland seine Reduzierungen beschleunigen kann, können die USA dies auch. Es besteht keine Veranlassung für das Pentagon, bis 2018 zu warten, um die Zielgrößen von New START zu erreichen.“
So hören sich gute Nachrichten an, sollte man meinen, obwohl notorische Kritiker bereits an dieser Stelle vermuten könnten, dass da zumindest russischerseits wohl letztlich nur „zugestanden“ worden war, was aus technischen, fiskalischen und anderen Gründen sowieso bereits auf der Restrukturierungstagesordnung der strategischen Streitkräfte Russlands gestanden hatte. Das Fazit allerdings, das im neuesten Jahrbuch des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitutes SIPRI – veröffentlicht am 7. Juni – gezogen wurde, fiel weit harscher aus: Es wäre eine Übertreibung, so SIPRI-Experte Shannon N. Kile, das Abkommen als einen ernsthaften Schritt in Richtung nukleare Abrüstung zu bezeichnen. Bereits die Zahlen, um die es bei New START geht, widerspiegeln weniger als die halbe Wahrheit, denn in dem Abkommen stehen nur „stationierte“ (deployed) Sprengköpfe zur Disposition. Daneben aber gibt es eingelagerte Reserven und auf beiden Seiten Tausende von Sprengköpfen, die zur Demontage anstehen, rein physisch jedoch ebenfalls noch existieren. Alles zusammen genommen kommt SIPRI auf Gesamtbestände von 11.000 Sprengköpfen bei Russland und 8.500 bei den USA. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass beiden Seiten wie seit Ende des Kalten Krieges so auch in den kommenden Jahren ihre überzähligen Arsenale weiter abbauen werden, weil das in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse liegt, aber bindende Vereinbarungen und Zeithorizonte existieren in dieser Hinsicht nicht. Für die USA gibt es schließlich noch eine weitere bemerkenswerte Ziffer: In der zum amerikanischen Kernwaffenkomplex gehörenden Anlage Pantex Plant in Texas lagern nach Angaben der Federation of American Scientists noch circa 14.000 so genannte Plutonium Pits – Zünder für thermonukleare Sprengköpfe. Es ist zu vermuten, dass auch Russland über ähnliche Bestände an solchen Komponenten verfügt. Und hinzu kommt schließlich noch, dass keineswegs alles, was einmal Bestandteil von Abrüstungsvereinbarungen war, auch komplett aus den aktiven Beständen verschwindet. So wurden moderne und stärkere Sprengköpfe von amerikanischen MX-ICBMs – die Trägerraketen wurden gemäß früheren START-Vereinbarungen verschrottet – auf nach wie vor aktive ICBMs vom Typ Minuteman III montiert.
Hat bereits der Blick auf diese Fakten eine gewisse Ernüchterung im Hinblick auf den START-Prozess und seine bisherigen Ergebnisse zur Folge, so könnten die nachfolgenden Sachverhalte die Desillusionierung komplettieren: Beide Seiten verfolgen parallel zu START eine Politik der Modernisierung ihrer strategischen Nuklearstreitkräfte über deren gesamtes Spektrum, wobei die USA allein aufgrund ihrer Wirtschafts- und Finanzkraft die weitaus komplexeren Programme betreiben.
Die Obama-Administration hatte bereits vor dem kontroversen Ratifizierungsprozess um New START im U.S. Senat ein Zehn-Jahres-Programm im Umfang von 80 Milliarden Dollar auf den Weg gebracht, um die amerikanischen Atomwaffenbestände zu erhalten und den industriellen Nuklearwaffenkomplex zu modernisieren. Um für die START-Ratifizierung republikanische Senatoren im notwendigen Umfang zu gewinnen, wurde dieses Programm um weitere fünf Milliarden Dollar aufgestockt. Die Direktoren der drei U.S. Kernwaffenlaboratorien Los Alamos, Lawrence Livermore und Sandia zeigten sich in einer gemeinsamen Erklärung Anfang Dezember 2010 von dieser Entwicklung denn auch „sehr angetan“. Mit diesen Mitteln werden praktisch sämtliche derzeitigen Standardsprengköpfe für die Minuteman-ICBMs und die Trident-SLBMs sowie die Bomben für die strategischen Langstreckenflugzeuge runderneuert, mit moderneren Komponenten versehen und für weitere Jahrzehnte, teilweise bis 2040, diensttauglich gemacht. Angesichts dessen ist die formelle Einhaltung der Selbstverpflichtung der USA, keine neuen Sprengköpfe zu entwickeln, fast schon ein Muster ohne Wert.
Was den Nuklearwaffenkomplex anbetrifft, so werden nicht nur die drei genannten Laboratorien und die Uranium Processing Facility in Oak Ridge modernisiert, es sind auch zwei neue Produktionsanlagen geplant, die nach 2020 Komponenten für Sprengköpfe herstellen sollen. Parallel dazu will die Obama-Administration ebenfalls in den nächsten zehn Jahren weitere 100 Milliarden Dollar für die Modernisierung der Triade der strategischen Trägersysteme ausgeben. Dazu zählen unter anderem Dienstzeitverlängerungsmaßnahmen für Trident-II-SLBMs bis 2042 und Minuteman-III-ICBMs, die sogar schon das Jahr 2050 im Visier haben. Ab 2019 sollen zwölf neue nukleargetriebene Träger-U-Boote mit je 16 bis 20 Raketenschächten in Dienst gestellt werden. Die U.S. Luftwaffe will eine neue ICBM entwickeln sowie eine ebenfalls neue nukleare Cruise Missile für B-52H-Bomber. Die Cruise Missiles sollen ab 2030 in Dienst gestellt werden. All das ist nur ein Teil der aktuellen Vorhaben der USA.
Demgegenüber nehmen sich die russischen Modernisierungsaktivitäten fast schon bescheiden aus, und Experten bezweifeln, dass Russland allein aus wirtschaftlichen Gründen tatsächlich in der Lage wäre, die 1.550 strategischen Sprengköpfe zu stationieren, zu denen New START berechtigt. Dennoch – langsam, aber stetig läuft die Zuführung der neuen mobilen ICBM vom Typ Topol-M mit Mehrfachsprengkopf. Die Einführung einer neuen Generation von Träger-U-Booten (Borey-Klasse) hat begonnen, die mit einem neuen SLBM-Modell mit Mehrfachsprengkopf (Bulava) ausgestattet werden soll. Die strategische Bomberflotte mit dem bereits 1987 in Dienst gestellten Überschall-Modell TU-160, dessen Produktion 2005 wieder aufgenommen wurde, soll bis etwa 2025 auf 30 Maschinen verdoppelt werden.
Hat New START angesichts dieser Entwicklungen überhaupt einen Sinn? Diese Frage ist trotz allem eindeutig zu bejahen. Als ein Element der strategischen Stabilität, Transparenz und Vertrauensbildung verringert das Abkommen das Konfliktrisiko zwischen den nuklearen Supermächten. Jede zahlenmäßige Verringerung der einsatzbereiten Bestände reduziert überdies schon rein rechnerisch die Gefahr von Unfällen und eines unautorisierten Einsatzes. Und jede Vereinbarung über nukleare Abrüstung erhält zumindest die Chance, in einem späteren Stadium Restriktionen für qualitative Rüstungsentwicklungen in den Prozess einzubeziehen, obwohl dazu eine Bereitschaft derzeit weder bei den USA noch bei Russland zu erkennen ist. Nicht zuletzt wären die internationalen Bemühungen zur Verhinderung der Weiterverbreitung oder besser: der noch weiteren Verbreitung von Kernwaffen ohne entsprechende russisch-amerikanische Vereinbarungen wohl noch aussichtsloser, als sie derzeit bereits scheinen. New START befeuert gewiss keine Euphorie in Sachen nukleare Abrüstung oder gar in Richtung einer kernwaffenfreien Welt. Dies zu konstatieren sollte aber nicht dazu verleiten, das Kind mit dem Bade auszuschütten, denn – was wäre die Alternative?
Schlagwörter: Kernwaffen, Sprengköpfe, START, Triade, Weiterverbreitung von Kernwaffen, Wolfgang Schwarz