22. Jahrgang | Nummer 2 | 21. Januar 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Monument der Trostlosigkeit, Prinzessin Salome als haariger Fettberg sowie Erinnerung an Heiner Müller zu Haus …

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Das ganze Theater ein gespenstisch verräuchertes Dämmerloch, die Bühne das schwarze Nichts voll von wabernden Nebelschwaden. Es ist das Gehäuse für „Macbeth“, der Raum, mit dem eine durch Hybris und Angst vergiftete, mörderische Menschenwelt delirierend zugrunde geht. Bei William Shakespeare winden sich die Figuren noch um ihre übel zerzausten oder krankhaft zerrissenen Seelen; bleibt es bei der Tragödie, bei „einem Märchen, erzählt von einem Dummkopf voller Klang und Wut“. Heiner Müller aber malt in seiner Übersetzung (1971) die Mär noch viel kräftiger aus mit gleißend schwarzem Pessimismus, dass da selbst die schäumenden Ströme von Blut wie Teer kleben.
In der Inszenierung von Michael Thalheimer am Berliner Ensemble schäumt und zaust nichts mehr; allein der unendliche Nebel wallt aus dem Nichts ins Nichts. Das Grauen einer gefallenen Menschheit erscheint als gegeben. „Der Mensch ein Dreck, sein Leben ein Gelächter.“ So treten denn die Menschenfiguren auf und ab wie vergipst, stehen wie starre Skulpturen an der Rampe und schleudern ihre entsetzlich hellsichtigen, lebensvernichtenden, ausweglosen Texte wie scharfe Speere ins All. „Die gingen los, geladen / Wie zwei Kanonen mit doppeltem Gepäck / Und räumen auf mit Feind und Feind vierhändig / Also ob sie baden wolln in den Wundlöchern / Und spielen mit den Knochen Golgatha …“ Wir hören, staunen, frieren. Mitunter müssen wir insgeheim lachen über eine derart finstere Wortmacht.
Wie zuletzt schon bei Thalheimers „Pentesilea“, „Antigone“, „Medea“ ist das Szenische extrem minimalisiert, knapp skizziert oder völlig aufgehoben. Die Theaterkunst liegt ganz im unerhörten, überwältigenden Wort. Die Inszenierung wie ein wuchtiges Wortkonzert. Diese Art Theater, nahezu entleert vom Sozialen wie Psychologischen, hat in seiner gewissermaßen eindimensional geballten Wirkung eine unglaubliche Bannkraft. Eine Unerbittlichkeit, Ausweglosigkeit und Gnadenlosigkeit. Gott ist hier endgültig tot. Das Tor zur Erlösung endgültig zugeschlagen und fest vernagelt. Das ist unheimlich groß. Sogar schön. Und unendlich traurig. Doch so ist unsere Welt. Oder?
Freilich, die Titelfigur kommt auch in dieser Sicht nicht völlig ohne Schillern und Krampfen aus: Sascha Nathan, hier kein kerlig kaputter Held (und Constanze Becker als Lady keine Megäre, sondern eher ein schon abgewirtschaftetes Weibchen). Nathan als Macbeth ist vielmehr – drastisch komisch (eine Shakespearsche Nuance) – ein dicklicher Mops, dessen Antriebsmotor Geilheit bereits erstaunlich weniger in Richtung Sex und Krone als in Richtung Tod und Allesvernichtung läuft. Eine faszinierende Studie in Sachen Untergang. Und dann die immer wieder wundersam wirkungsstarke Kathrin Wehlisch in mehreren Rollen, die zu Hauptrollen werden. Sonderlich am Schluss, stumm und zerbrechlich mit Tränen im Augapfel an der Rampe stehend als Zukunftsfigur Malcom, da wirkt sie selbst in dieser Endspielgruft geradezu betörend. Aber eben zukunftslos. Denn es gibt keine Zukunft, nirgends.

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Hausbesuch bei Heiner Müller. Eine Erinnerung zum 90.Geburtstag des Dichters:
Er paffte in aller Seelenruhe, nippte hin und wieder und ließ in höflichst, aber nicht eben eilfertigst weggeststeckter Gelangweiltheit meinen Besuch Anfang 1994 samt meiner Fragerei – dienstlich – über sich ergehen; die teure Zigarre als mein Mitbringsel. Das war in Müllers Fabriketage in einem Kreuzberger Hinterhof, seinem so warmen wie unübersichtlichen, neuen riesigen West-Großwohnnest, das er getauscht hatte gegen das alte, etwas weniger riesige ziemlich weit oben im Ost-Hochhaus. Schon dort war es keine Schwierigkeit, ihm fragend zu kommen. Besucher gaben sich die Klinke in die Hand; er residierte und empfing. (Wann eigentlich schrieb der Mann?). Er blieb gelassen, gelangweilt, zuvorkommend. Er paffte, nippte, nickte.
Dieses nüchterne Nicken! Es konnte alles bedeuten zwischen heftigstem Ja und Nein. Müller war sanfter Sanguiniker und eisige Sphinx. Unheimlich verführerisch. „Heiner le diable“ lästerte Müllers früher Nebenbuhler Peter Hacks.
Man sitzt am Tapeziertisch voller Bücher in der schlicht renovierten Etage einer ehemaligen Fabrik; zwei Jahre vor seinem Krebstod 1995 mit knapp 67. Er wusste: „Kommt Zeit, kommt Tod.“ Glaubte aber, wie von einer Indianerin geweissagt, an acht Jahrzehnte Daseinsfrist. Die brauche er, Tochter Anna heranwachsen zu sehen. Verzücktes spätes Vaterglück. Was sei all sein „Wortschlamm“ angesichts eines neuen Lebens …
Er paffte, nippte, zückte einen frischen Text. „In den Augen meines Kindes las ich / Der zuviel gesehen hat/ die Frage/ Ob die Welt die Mühe des Lebens noch aufwiegt / […] Soll ich ihm ein langes Leben wünschen / Oder aus Liebe einen frühen Tod“. – Alles Wortschlamm. Nichts ist Wortschlamm. In diesem Widerspruch wurzelt Kunst.
Die gebe keine Antwort, die beschwöre Konflikte, sagte der Dichter. Der Vater meinte: Der letzte Ton sei Liebe, die letzte Antwort Musik – „Tristan“, Anna. Heiner nickt und nippt.

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Geradezu populär wurde „Salome“ weltweit erst durch Richard Strauss; der Komponist nahm sich das 1893 erschienene gleichnamige Schauspiel von Oscar Wilde als Libretto, das er nahezu Wort für Wort vertonte, womit er auf Anhieb durchstartete in den Ruhm. Freilich, die philosophisch-moralisch provokante, sexistisch aufgeladene Geschichte der Prinzessin Salome aus Judäa am verbrecherisch dekadenten Hof ihres Stiefvaters Herodes, die auch erotisch fasziniert ist von einem eingekerkerten fundamental-religiösen „Dissidenten“, der sie jedoch verschmäht und dessen Tod sie deshalb fordert, diese Story rüttelte extrem aufreizend an Grundfesten des (nicht nur) damaligen gesellschaftlichen Konsens‘. Skandal!
Das war zur Uraufführung an der Dresdner Hofoper anno 1905 nicht anders. Dort allerdings kamen noch die spätromantisch aufgetürmten, raffiniert neutönerisch durchsetzten Klangmassen eines Riesenorchesters hinzu sowie die Salomes Kehlkopf enorm strapazierenden Spitzentöne samt eines Nackttanzes. Empörter öffentlicher Aufruhr.
Jetzt also am Gorki-Theater Oscar Wilde ohne Richard Strauss, garniert mit ein bisschen Popmusik von Gerrit Netzlaff, aber alternativ à la mode besetzt: Salome ist kein gertenschlankes Mädel, sondern der mit massiger Fülle und Ganzkörperbehaarung gesegnete Schauspiel-Star Benny Claessens. Und auch sonst ist zumindest äußerlich alles anders: Die Männer spielen Frauen und umgekehrt; bloß der religiös prophetische Menschen- und Weltverbesserer Jochanaan zeigt unübersehbar sein an passender Stelle der Strumpfhose angenähtes Geschlecht, bleibt ansonsten aber gut verhüllt mit Cape, Kapuze, Rauschebart, dafür aber vervielfacht: gleich fünf Spieler mimen ihn mit Laternchen in den Händen quasi als Heinzelmännchens Sprechchor.
Ansonsten bleibt Thomaspeter Goergens Textfassung dem Autor erstaunlich dicht auf den Fersen. Dafür hat Regisseur Ersan Mondag seine in vernebelter Düsternis schaurig kreiselnde „Salome“-Show bis zum Überlaufen verfüllt mit Zeichen für und Anspielungen auf alle nur erdenklich aktuellen Schlagzeilen und Diskurse. Dem farcehaft zugerichtetem Wirrwarr aus Bibel und Boulevard, Ohnmacht, Macht und Missbrauch, aus Fanatismus, Fatalismus, Liberalismus, Rassismus, Sexismus, Antisemitismus sowie selbstredend Gendercrossing setzt schließlich eine neu erfundene Hinzufügung die über-über-ironische Krone auf. Nämlich: Die tolle, als solche erkennbar gebliebene israelische Schauspielerin Orit Nahima knallt im virtuos kabarettistischen Schnellsprech ihren hemmungslos sarkastischen Senf auf alles und jedes, was da wabert und dampft im brutal metaphorisierten und politisierten Schnellkochtopf.
Was nun wiederum den schauspielerisch freilich glänzend bewältigten, hoch gestochenen, für Spezies streckenweise durchaus amüsanten „Salome“-Wahnsinn schlicht als den totalen Blödsinn denunziert. Mit der finalen Aufforderung zur „Endlösung“, also dem kollektiven Selbstmord aller auf der Bühne sowie bestenfalls gleich noch von allen im Saal.
Ersan Mondtag ist, ich halte daran fest, womöglich eine Hochbegabung seines Fachs, die allerdings Gefahr läuft, durchzudrehen im Bedeutungswahn, falls es – wie im gegebenen Fall – fehlt an dramaturgisch stringent ordnender Beihilfe. Offensichtlich wollte er dem genialen Richard Strauss hinterhereilen, der die per se schon starke Vorlage noch massiv überhöhte durch Musik. Ersan hingegen als – pädagogisch ätzend gesagt – Möchtegern-Genie stinkt da mit seinem aufgeblasenen Trash einfach ab.