22. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2019

Mythos „Säkulare Stagnation“

von Jürgen Leibiger

Ulrich Busch beendet seine Besprechung von Heinz D. Kurz’ „Das Gespenst säkularer Stagnation“ mit den Worten: „Vielleicht gibt es diese in der Realität aber auch gar nicht, und sie ist nur ein theoretisches Konstrukt der Ökonomen, ein manchen Angst machendes, anderen durchaus willkommenes „Gespenst“.
Busch hat Recht, sie ist ein Gespenst, nicht totzukriegen aber eben nicht real. Kurz beginnt seinen theoretischen Streifzug mit den englischen Klassikern des 18. Jahrhunderts. Die britische Wirtschaft hat seitdem viele Krisen, Rückschläge und lange Depressionen erlebt; von einer schon damals und in endlosen Debatten seit 200 Jahren immer wieder aufs Neue beschworenen „säkularen Stagnation“ aber kann bis heute keine Rede sein. War die Pro-Kopf-Produktion im Vereinigten Königreich in den 120 Jahren zwischen 1700 und 1820 auf das 1,4-fache gestiegen, so wuchs es in den folgenden, bereits durch zyklische Krisen gekennzeichneten 80 Jahren bis 1900 auf das 2,6-fache, ein Tempo, das sich im 20. Jahrhundert weiter beschleunigte. Zuletzt brauchte es nur noch 45 Jahre, um Großbritanniens Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auf das 2,6-fache zu steigern.
Folgt man dem US-amerikanischen NBER Business Cycle Dating Committee, das die US-Konjunkturzyklen seit 1854 berücksichtigt, dann erleben wir zurzeit einen der längsten konjunkturellen Aufschwünge aller Zeiten; nur der Aufschwung 1991–2001 dauerte mit 120 Monaten länger. Und die historisch fast einmalig schwere Weltwirtschaftskrise von 2008/2009 hat nicht verhindert, dass die jüngsten Innovationen auf dem Gebiet der Digitalisierung sich in einem unvergleichlich rasanten Tempo die Welt eroberten. Ihre Diffusionsgeschwindigkeit übersteigt die von Buchdruck, Werkzeug- und Dampfmaschine oder Elektrifizierung bei weitem. Womöglich siegt sich der Kapitalismus damit wieder einmal zu Tode und dass er kurz vor einer neuen Rezession steht, pfeifen die Spatzen von den Dächern, aber Stagnation?
Wird der territoriale Rahmen weiter gespannt und die Weltwirtschaft betrachtet, dann wird das Bild nicht anders. Das Wachstum folgte einem eher exponentiellen, mindestens jedoch einem linearen, sich keineswegs abflachenden Pfad. Das muss sich nicht in alle Ewigkeit so fortsetzen, aber wer aus dem zurückliegenden Wachstumstrend die Tendenz zu einer Stagnation ableiten will, muss sich eines statistischen Tricks bedienen. Er darf nicht den absoluten Zuwachs innerhalb jeweils gleicher Zeiträume, sondern muss Wachstumsraten miteinander vergleichen. Folgt die Pro-Kopf-Produktion einem gleichbleibend linearen Trend – was ja keine Stagnation ist – dann weisen die Wachstumsraten aus rein mathematischen Gründen einen fallenden Trend auf, weil der immer gleiche absolute Zuwachs auf eine konstant wachsende Basis bezogen wird. Der Statistiker nennt das „Basiseffekt“. So gesehen wäre der Kapitalismus fast von Anfang an ein stagnierendes System gewesen. Nehmen wir als Beispiel wieder das Vereinigte Königreich, für das Angus Maddison durchgängige Zahlen seit 1830 vorgelegt hat: Die durchschnittlichen Wachstumsraten in den Jahrzehnten bis 1900 betrugen 1,3 Prozent, dann 1,6, 1,9, 1,2, 0,8, 1,4 und 1,1 Prozent. Folgte man den Kriterien der Stagnationstheoretiker, dann wäre für Großbritannien schon seit den 1860er Jahren eine „säkulare Stagnation“ zu konstatieren gewesen.
Wer Wachstumsraten als Kriterium für eine Stagnation benutzt, hat eine bestimmte theoretische Prämisse im Kopf. Sie besteht in der Unterstellung, die Wachstumsraten müssten im Zeitverlauf konstant sein. Sind sie längere Zeit niedriger als der gewählte Referenzwert – zumeist der Durchschnitt vorheriger Zeiträume – stagniere die Wirtschaft. Damit wird – abgesehen von kurzfristigen, konjunkturellen Schwankungen – exponentielles Wachstum als Normalität unterstellt.
Statistische Durchschnitte von Wachstumsraten aus der Vergangenheit werden einfach extrapoliert, wobei die Wahl des Zeitraums, der für „Vergangenheit“ steht, willkürlich erfolgt. Soziale Prozesse, wozu auch der Wachstumsprozess gehört, folgen jedoch keinem stabilen, statistisch vorgegebenen Muster, wie das im zwanzigsten Jahrhundert vor allem Rahmen der neoklassischen Wachstumstheorien mit einem steady state growth unterstellt wurde.
Die Wahl des Vergleichszeitraums in der Vergangenheit spielt dabei eine entscheidende Rolle. Vergleicht man die obige Zeitreihe mit den Zahlen der jüngsten Jahrzehnte, in denen der Durchschnitt fast immer nahe, zumeist aber über zwei Prozent und damit über den Durchschnitten des 19. Jahrhunderts lag, dann dürfte dieser Theoretiker zumindest das Attribut „säkular“ wohl kaum verwenden dürfen. Es sind die Durchschnittszahlen der Nachkriegsjahrzehnte des 20. Jahrhunderts, mit denen zumeist verglichen wird, also von Jahrzehnten, die durch außerordentliche Bedingungen infolge der Nachkriegs-Rekonstruktion, des Systemwettbewerbs und der Aufrüstung geprägt waren. Diese zwei, drei Jahrzehnte waren aber für die gesamte Zeit der kapitalistischen Entwicklung eine Ausnahme. Sie folgten der Weltwirtschaftskrise 1929/33, einer langen Depression und dem zerstörerischsten aller bisherigen Kriege, dem Zweiten Weltkrieg.
Wird nicht das Wirtschaftswachstum schlechthin betrachtet, sondern tiefer gegraben, stößt man natürlich auf einige Besonderheiten, die einer Erklärung bedürfen. Dazu gehören beispielsweise die niedrigen Investitionsquoten der OECD-Länder oder der längerfristig fallende Zins. Hier würde vielleicht ein Blick auf den Kapitalexport, die Direktinvestitionen in den Schwellenländern und die Überliquidität der Kapitalmärkte in Zeiten der Finanzialisierung helfen. Joseph Stiglitz hat eine ganz einfache Erklärung. In einem Beitrag für das Project Syndicate nannte er die „säkulare Stagnation“ jüngst einen „Mythos“, geschaffen von denjenigen, die der Welt weismachen wollen, gegen säkulare Trends könne man wirtschaftspolitisch nicht viel machen. Und von manchen Kritikern des Kapitalismus wird die These auch deshalb dankend aufgegriffen, weil dies doch zeige, dass es mit ihm zu Ende gehe.

Dr. rer. oec. habil. Jürgen Leibiger, Wirtschaftswissenschaftler, Dresden/Radebeul, war seit Anfang der 1990er Jahre Leiter der Abteilung Studiengänge und Dozent für Volkswirtschaftslehre an der Sächsischen Verwaltungs- und Wirtschafts-Akademie in Dresden und befindet sich jetzt im Ruhestand. Letzte Buchveröffentlichung: Wirtschaftswachstum. Mechanismen, Widersprüche, Grenzen. Köln 2016.