22. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2019

Im Zeichen der roten Fahne

von Holger Politt

Entschlossener geht es nicht: Ich werde Naturwissenschaftlerin! Mit diesem festen Vorsatz verließ die blutjunge Rosa Luxemburg Anfang 1889 ihre Heimatstadt Warschau, überhaupt ihre Heimat – den zum Russischen Reich gehörenden Teil Polens –, um schließlich im fernen Zürich ein Studium der Zoologie oder Botanik aufnehmen zu können. In Warschau oder anderswo im Zarenreich war ein Hochschulstudium für Frauen ausgeschlossen.
Allerdings durchkreuzte eine andere Sehnsucht, nämlich die nach einer sozial gerechten Welt, schnell alle kühnen Träume. Nicht Naturwissenschaft, sondern das Wissen um die Geheimnisse und Zusammenhänge der sozialen und politischen Welt wurde für Rosa Luxemburg zum lebenslangen Gegenstand des Interesses. Dass sie bereits 1893 in Zürich die Mitbegründerin der ersten sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Russischen Reich werden wird, war ihr keinesfalls in die Wiege gelegt. Dafür brauchte es die nähere Bekanntschaft mit Leo Jogiches (siehe Das Blättchen 18/2017), die schließlich schnell in tiefe Liebe umschlug. Ohne diese Liebesbeziehung wäre die Liste berühmter politischer Streitschriften heute um einiges ärmer.
An Marxens Theorie zog Rosa Luxemburg vor allem der gesetzmäßige Charakter an, mit dem die soziale und politische Welt schlüssig und – wie es schien – völlig ausreichend erklärt werden konnte. Auch wenn sie den großen italienischen Geschichtsphilosophen Giambattista Vico in ihren Arbeiten wohl nur einmal erwähnte, so teilte sie zumindest dessen tiefe Überzeugung, dass wir Menschen die geschichtliche Welt umso besser erkennen müssten, weil sie im Unterschied zur natürlichen Welt schließlich menschengemacht sei. Aus Sicht der an Marx geschulten Rosa Luxemburg spielten allerdings die jeweiligen sozialen Interessen dabei eine entscheidende Rolle.
Keine Frage, dass sie das moderne Proletariat Europas grundsätzlich bereits als ein solches Erkenntnissubjekt begriff, dem keine objektiven Grenzen der Erkenntnismöglichkeit mehr gesetzt sind – außer derjenigen der eigenen Zeit. Daraus erklärt sich übrigens ihre tiefe Skepsis gegen alle Art von Prophezeiungen, die sie unnachgiebig als utopisch apostrophierte und somit als unwissenschaftlich qualifizierte. Hier und heute wird zum Tanz geladen! Wie ein künftiger Sozialismus im Detail auszusehen habe, interessierte sie weniger – entscheidend war der Weg dorthin, der in den Kämpfen der Zeit mit dem zuverlässigen Kompass der materialistischen Geschichtsauffassung herauszufinden sei. Sozialismus, so teilte sie die Überzeugungen der meisten damaligen Marxisten, sei die planmäßige, von der ganzen arbeitenden Bevölkerung bewusst organisierte und geleitete Wirtschaftsordnung, wenn die anarchische Wirtschaft des Kapitalismus ihre Rolle ausgespielt habe.
Der unerschütterliche Erkenntnisoptimismus schleppte freilich auch eine Kehrseite mit – alles war scharf, fast gleich scharf im Bilde, die Kontraste waren klar und wohlgeschieden, noch der letzte Winkel schien genügend ausgeleuchtet, um erkannt zu werden. Was sich der klaren Erkenntnis entzog, schien allein ein überkommener Rest längst vergangener Zeiten zu sein, mit dem zu befassen kaum noch lohne. Dem auf umfassenden gesellschaftlichen Fortschritt hinauslaufenden Weltengang müsse zum Durchbruch verholfen werden – dies die Aufgabe der auf den Klassenkampf sich stützenden Arbeiterbewegung. Wer sich den verbleibenden Resten dennoch hingebe, laufe Gefahr, vom eigenen Weg abzukommen und sich zu verlieren.
Nie hätte Rosa Luxemburg für das soziale Gebiet den Gedanken durchgehen lassen, dass erst in den Falten, in den feinen Bruchstellen des aufgeklappten Schirms der Erkenntnis das Eigentliche sitze, das es zu ergründen gelte. Mit der akribischen Geduld der Naturwissenschaftlerin wäre sie dem in der Pflanzen- und Tierwelt allerdings nachgegangen, doch für das soziale Gebiet war die tätige Seite des erkennenden Subjekts schließlich entscheidend. Was Rosa Luxemburg in der Naturerkenntnis lediglich als ein anspornender Makel der Verständnislosigkeit gegolten hätte, die schließlich mit fortschreitender Erkenntnis überwunden werde, ließ sie der aus dem Kapitalismus herausführenden Klasse für die gesellschaftliche Erkenntnis nicht durchgehen: Da werde nach dem Deckmantel gesucht, um Nichtwissen und mangelnden Erkenntniswillen zu bemänteln, so dass Vernunft schließlich umschlage in den Unsinn.
Den tiefen Rückfall, den der Ausbruch und der Verlauf des Ersten Weltkriegs für das europäische Industrieproletariat bedeutete, reflektierte Rosa Luxemburg allerdings auf bemerkenswert selbstkritische Art. Das Proletariat habe nicht verstanden, sich dem Weltkrieg entgegenzustellen, habe keine selbständige Politik mehr machen können und habe so zunächst das Schicksal der bürgerlichen Gesellschaft geteilt: Es sei ebenso zerrissen und gespalten, zerklüftet in nationale Trupps, gespalten zudem in jedem Land in die verschiedenen Lager. Aber aus dieser Gärung und Verschiebung, so zeigte sie sich am Ende des Krieges wieder hoffnungsvoll, werde sich der Wille zur Liquidierung der bürgerlichen Gesellschaft formen und kristallisieren. Unerschrocken und überzeugt hielt Rosa Luxemburg zur roten Fahne.