von Holger Politt, Warschau
In Gedenken an Volker Caysa (1957–2017)
An den Fingern einer Hand sind diejenigen herzuzählen, die ihn für einen der klügsten Köpfe halten, den die Arbeiterbewegung je in ihrem Schoß groß werden ließ. Die meisten, denen der Name Leo Jogiches noch geläufig ist, interessieren sich für ihn vornehmlich wegen der faszinierenden geistigen und politischen Nähe zu Rosa Luxemburg. Leo Jogiches wurde vor 150 Jahren, am 17. Juli 1867, in Wilna (Vilnius) geboren.
Wilna war zu jener Zeit eine jüdisch-polnisch geprägte Stadt im Westen des Zarenreichs, in der insbesondere eine auf die jiddische Sprache gestützte Hochkultur eines ihrer spezifischen Zentren gefunden hatte. Nicht von ungefähr wurde hier 1897 der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund gegründet, der sich sozialdemokratisch ausrichtete, die jüdischen Arbeitermassen in Polen, Litauen und Russland auf der Grundlage der jiddischen Sprache zu binden suchte und sich gegen den aufkommenden Zionismus aussprach. Da hatte Jogiches die Stadt aber bereits längst verlassen und einen anderen politischen Weg eingeschlagen.
Jogiches’ Familie galt als wohlhabend, zu Hause wurde russisch gesprochen, weniger gut beherrschte der junge Jogiches das Jiddische und Polnische. Frühzeitig kam er mit der revolutionären Bewegung in Berührung. Anfangs war er fasziniert von der Attentats-Ideologie der Narodnaja Wolja, wonach der getötete Zar auf direktem Weg das Fanal für den baldigen Untergang der Zarenherrschaft abgeben sollte. Doch die spätere Öffnung zur modernen Arbeiterbewegung machte ihn für immer immun gegen das verlockende Gift naiver Revolutionsromantik. Dem aus gesellschaftlichen Widersprüchen geschöpften Sprengstoff maß er ein ganz anderes Gewicht bei als der unmittelbar ausgeübten Gewalt.
Auf der Flucht vor politischer Verfolgung und bevorstehender Einberufung gelangte Jogiches nach Zürich, wo er Ende 1890 Rosa Luxemburg traf. Sie blieben bis 1907 ein Liebespaar, dessen Beziehung vor anderen sorgsam verborgen gehalten wurde. Erst die über 1000 Briefen Rosa Luxemburgs an Jogiches, die der polnische Historiker Feliks Tych Ende der 1950er Jahre in einem Moskauer Archiv fand, zeigten auf, was an dieser Liebesbeziehung außerdem noch an gewichtigen politischen Inhalten hing. Auch nach der persönlichen Trennung blieben sie die engsten politischen Partner.
Der Hauptgrund war die polnische Partei, die sie gemeinsam mit Julian Marchlewski und Adolf Warski in Zürich im Juli 1893 gegründet hatten. Den gut betuchten Jogiches hatte zunächst die Absicht umgetrieben, eine russische sozialdemokratische Partei zu gründen, doch geriet er in Konflikt mit dem eifersüchtigen Georgi Plechanow, dem der Eindringling aus Wilna überhaupt nicht in den Kram passte. Aus der großen Absicht wurde eine kleinere, denn die Gründung der Sozialdemokratie für das Königreich Polen war zugleich die erste sozialdemokratische Partei im Zarenreich. Das zum Russischen Reich gehörende Land mit dem eigentümlichen Namen war ein Gebilde des Wiener Kongresses von 1815. In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war es zu einem der wichtigsten Industriezentren im riesigen Reich aufgestiegen.
Die von Jogiches geleitete Partei hätte auch Revolutionspartei heißen können, denn ihr Nahziel war die politische Revolution zum Sturz der Zarenherrschaft – im ganzen Reich. Als die Revolution 1905/06 ausbrach und in den polnischen Industriezentren eine ihrer wichtigsten Bühnen der Arbeiterkämpfe hatte, stieg Jogiches als Jan Tyszka zum führenden Kopf der polnischen Arbeiterbewegung auf, die in den Massenkämpfen ihr erstes, allerdings auch opferreiches Bravourstück im 20. Jahrhundert ablieferte. Die Niederlage der Revolution verstand er als einen kurzen geschichtlichen Aufschub, die Revolutionsereignisse 1917 als die logische Fortsetzung der Jahre 1905/06.
Sein Wirken in den Jahren des Ersten Weltkriegs war bereits fester mit der deutschen Arbeiterbewegung verknüpft, seit 1916 war er der führende Kopf der Spartakusgruppe. In den Vorjahren des Ersten Weltkriegs war die polnische Partei zwischen die Mühlen der Fraktionskämpfe von Bolschewiki und Menschewiki geraten, kein Zufall, denn Jogiches galt in weiten Teilen der gesamtrussischen Sozialdemokratie als der eigentliche strategische und taktische Gegenspieler Lenins auf dem revolutionären Flügel.
Vergeblich wehrte er sich Ende 1918, als die Frage der Gründung neuer revolutionärer Parteien in der deutschen und polnischen Arbeiterbewegung auf der Tagesordnung stand, gegen den Namen Kommunistische Partei – er hatte für Revolutionäre Sozialdemokratie plädiert, was ihm in den eigenen Reihen als Tautologie vorgehalten wurde.
Nur wenige Wochen nach Rosa Luxemburgs Ermordung wurde Jogiches am 10. März 1919 im Berliner Gefängnis Moabit hinterrücks erschossen. Mit dieser Tat verlor jener Mann das Leben, der wie sonst niemand mit dem politischen und theoretischen Lebenswerk Rosa Luxemburgs vertraut gewesen war. Diese Fehlstelle ist in der Rosa-Luxemburg-Rezeption bis heute nicht restlos beseitigt.
Die beiden bislang wichtigsten Versuche, das Wirken von Leo Jogiches zu rekonstruieren, seien hier genannt, auch wenn sie erst spät, respektive noch gar nicht publiziert werden konnten. Zdzisław Leder, viele Jahre lang ein enger Mitarbeiter von Jogiches, schrieb in der Sowjetunion in Polnisch eine in ihrer Faktendichte bestechende politische Biografie, die eigentlich 1929 zum zehnten Jahrestag der Ermordung publiziert werden sollte, aber der bereits verschärften Luxemburgismus-Kampagne zum Opfer fiel. Erst 1976 gelang es Feliks Tych, das wertvolle Manuskript zu veröffentlichen. Und der 2015 verstorbene Tych (siehe Blättchen 5/2015) hatte nach 1991 versucht, eine umfassende politische Biografie eigens für den deutschsprachigen Buchmarkt herauszubringen. Die erhalten gebliebenen Ausarbeitungen sind fragmentarisch, doch lohnte es, sie in geeigneter Form der interessierten Öffentlichkeit vorzustellen.
Schlagwörter: Holger Politt, Leo Jogiches, Rosa Luxemburg