22. Jahrgang | Nummer 2 | 21. Januar 2019

Die Friedensfrage und die deutsche Außenpolitik in der Gegenwart

von Wilfried Schreiber

„Frieden ist nicht alles,
aber ohne Frieden ist alles nichts.“

Willy Brandt

Für unsere Eltern und Großeltern entsprach es weitgehend sowohl ihrer Lebenserfahrung als auch ihrem Schulwissen, dass sich die Menschheitsgeschichte als eine Geschichte von Kriegen darstellte. Bis weit ins 20. Jahrhundert bewerteten viele Historiker die Leistungen der Staatslenker zumeist an ihren Erfolgen als Heerführer.
Besonders der europäische Kontinent mit seinen zahlreichen Klein- und Einzelstaaten ist in seiner gesamten Geschichte reich an Kriegen. Der Mai vergangenen Jahres erinnerte uns zum Beispiel an den Beginn des dreißigjährigen Krieges vor 400 Jahren, der ganz Mitteleuropa verwüstete. Kriegsgräuel, Hunger und Seuchen führten zu einem Massensterben, das die Bevölkerung im heutigen Süddeutschland auf bis zu ein Drittel absinken ließ. Dem im Jahre 1648 geschlossenen westfälischen Frieden zu Münster und Osnabrück gingen sieben Jahre intensive Verhandlungen voraus. Aber dieser Frieden war nicht von Dauer. Es folgten im 18. und 19. Jahrhundert die zahlreichen Hegemonialkriege eines zerrissenen Kontinents sowie die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, für die Deutschland die Hauptverantwortung trug.
In Zentraleuropa erleben wir gegenwärtig die längste Friedensperiode der letzten 2000 Jahre. Als Bestandteil und Ergebnis des europäischen Integrationsprozesses konnte hier über 73 Jahre ein relativ stabiler Frieden bewahrt werden. Dazu gehört auch die Zeit der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges. Die daraus gewonnenen Erfahrungen dürfen angesichts der neuen Herausforderungen nicht verlorengehen und müssen mehr denn je in die aktive Politik einfließen.
Gleichwohl sollten wir uns bewusst sein, dass im gesamten Geschichtsverlauf die Frage von Krieg oder Frieden stets nur von den politischen Führern entschieden wurde. Bis heute ist Außenpolitik lediglich eine Angelegenheit der Regierungen und nicht der Parlamente. Auch im Deutschen Bundestag gibt es keine Grundsatzdebatten zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Alle Weißbücher zur Sicherheitspolitik der Bundesrepublik sind ausschließlich Regierungsdokumente. Eine Parlamentsdebatte oder gar eine Parlamentsentscheidung darüber hat es nie gegeben. Die Bundeswehr als Parlamentsarmee ist eine Schimäre. Das Abstimmungsrecht des Bundestags über militärische Auslandseinsätze ist äußerst begrenzt, bezieht sich lediglich auf Umfang, Dauer und Einsatzgebiet. Aber selbst diese vage Mitbestimmung ist in Europa ein Ausnahmefall, dessen Zukunft gegenwärtig völlig offen ist. Auch das europäische Parlament kann keine außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen treffen. Die Stimme der Bürger hat in der parlamentarischen Debatte der Europäischen Union bei der Frage von Krieg und Frieden keine Rechtskraft.

Friedensfrage stellt sich in neuen Dimensionen

Dabei stellt sich die Friedensfrage gegenwärtig in völlig neuen Dimensionen. Mit Beginn des Kernwaffenzeitalters ist diese Frage zur Existenzfrage der Menschheit geworden. Die Hoffnungen auf eine stabile Friedensdividende nach dem Ende der Blockkonfrontation haben sich nicht erfüllt. Der Prozess der Kernwaffenkontrolle und nuklearen Abrüstung ist ins Stocken geraten. Die Zahl der Kernwaffenmächte hat sich erhöht, und eine grundlegende Modernisierung der bestehenden Nuklearwaffen ist im Gange. Eine Fülle sicherheitspolitischer Herausforderungen hoher Komplexität beunruhigt die Welt. Insbesondere seit Beginn der Präsidentschaft von Donald Trump erleben wir einen Konfrontations- und Aufrüstungstaumel des transatlantischen Westens wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Die USA, die NATO und die Europäische Union versuchen damit auf die neuen inneren und äußeren Widersprüche zu reagieren, die von einem Zerfallsprozess der unipolaren Weltordnung zeugen. Das zeigt sich vor allem an zwei miteinander zusammenhängenden Prozessen, die besonders seit Anfang des Jahres 2018 zu erkennen sind:
Erstens: Der Nahen Osten kommt nicht zur Ruhe. Mit der Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem im Mai 2018 wurde zunächst der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern angeheizt. Zugleich mischte sich die Türkei mit Angriffen gegen die Kurden in den Bürgerkrieg in Syrien und im Irak ein. Den militärischen Erfolgen Syriens und Russlands im Antiterrorkampf gegen den Islamischen Staat begegnete der Westen völlig konzeptionslos. Statt eine konstruktive Initiative für den Friedensprozess in Syrien zu starten, machten die USA durch die Kündigung des Atomabkommens mit dem Iran sowie durch scharfe Wirtschaftssanktionen gegen Teheran, wie auch durch Strafandrohungen gegen alle Länder beziehungsweise Firmen, die diese Sanktionen unterlaufen, eine völlig neue Front in der Region auf. Offensichtlich vollzieht sich im Nahen und Mittleren Osten ein Kampf um die Neuordnung der Region, bei dem der Einfluss des Irans und Russlands zurückgedrängt und Syrien als selbständiger Staat zerschlagen werden soll. Das hätte insbesondere für Europa verhängnisvolle Folgen.
Zweitens: Als besonders beunruhigend muss das Verhältnis zu Russland angesehen werden. Daran ändern auch die Treffen von Trump und Putin im Juli in Helsinki sowie von Merkel und Putin im August 2018 auf Schloss Meseberg nichts. Bei aller berechtigten Kritik an Russland ist es in erster Linie der transatlantische Westen, der für die Verschlechterung der Beziehungen zu Moskau verantwortlich ist. Ausgangspunkt dieser Entwicklung waren die Einkreisung Russlands durch die NATO-Osterweiterung sowie eine Dämonisierung Putins als Inkarnation des Bösen – ähnlich wie zuvor Husseins, Gaddafis oder Assads. Es waren Entwicklungen, die lange vor der Ukrainekrise – für die man allein Russland verantwortlich macht – begannen beziehungsweise sich vollzogen. Symptomatisch für gezielte Stimmungsmache gegen Russland war die Skripal-Affäre vom März 2018, bei der Moskau und Putin persönlich für einen Giftanschlag im britischen Salisbury gegen einen ehemaligen Doppelagenten und seiner Tochter verantwortlich gemacht wurden. Die USA und die EU verhängten Sanktionen gegen Russland, ohne dass je glaubhafte Beweise für eine russische Schuld vorgelegt wurden. Die NATO braucht das „Feindbild Russland“ als einigendes Band zur Rechtfertigung eines unsinnigen Rüstungsschubs. Seit dem NATO-Gipfel von Wales 2014 werden Rüstungsausgaben in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als für alle NATO-Länder verbindlich behauptet, ohne dass bisher ein plausibles Verwendungskonzept auf nationaler wie auf NATO-Ebene vorgelegt wurde und ohne dass auch nur hinterfragt würde, welchen realen sicherheitspolitischen Nutzen dies bringen könnte. Das „Feindbild Russland“ ist wieder der Kitt für alle außenpolitischen Divergenzen und zugleich die Tünche zur Verschleierung der innenpolitischen Widersprüche des Westens.
Die anhaltende Labilität der Situation im Nahen Osten und das zunehmende Spannungsverhältnis zu Russland sind Faktoren, die in erster Linie die sicherheitspolitische Lage in Europa berühren. Während Deutschland und die EU im Nahen Osten weitgehend konzeptionslos und gewalttolerierend agieren, setzen sie gegenüber Russland Gewaltandrohung als Mittel der Abschreckung ein. Eine Politik der gegenseitigen Abschreckung hat sich aber bereits im Kalten Krieg als ein äußerst fragiles Mittel für Stabilität und Friedenssicherung erwiesen.
Seit dem Ende der Blockkonfrontation haben sich die inneren und äußeren Rahmenbedingungen für die Sicherheit Europas grundlegend verändert. Die Hegemonialrolle der USA und ihrer Verbündeten ist durch den Aufstieg neuer Mächte infrage gestellt. Wir stehen nach rund 30 Jahren erneut an einem geopolitischen Wendepunkt – und zwar von einer unipolaren zu einer multipolaren Weltordnung. Die Randzonen der alten und neuen Kräftegruppierungen sind durch außerordentliche Labilität und zahlreiche Bürger- beziehungsweise Stellvertreterkriege gekennzeichnet. Hinzu kommen die dramatischen Folgen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik des Westens in der Dritten Welt sowie die Auswirkungen der Klimaveränderungen. Als neue und nahezu unberechenbare sicherheitspolitische Herausforderung erweist sich der Islamische Staat beziehungsweise der islamistische Fundamentalismus insgesamt mit seinen globalen terroristischen Attacken. Verbunden mit einem starken Bevölkerungswachstum in Afrika und der arabischen Welt schlagen sich all diese Faktoren in einem hohen Migrationsdruck auf Europa nieder. Insgesamt steht besonders der europäische Kontinent vor völlig neuen sicherheitspolitischen Risiken und Unwägbarkeiten.
Dabei dürfen drei Entwicklungen nicht unterschätzt werden, die nach dem Ende der Blockkonfrontation insbesondere für die Industriestaaten Europas kennzeichnend sind:
1. Die Empfindlichkeit dieser Staaten gegen destruktive Einwirkungen ist mit der Globalisierung und Digitalisierung enorm gestiegen. Insbesondere die Abhängigkeit von Elektroenergie sowie von digitaler Kommunikation macht die gesamte Infrastruktur dieser Länder leicht verletzbar. Selbst konventionelle Kriege sind auf dem Territorium der westlichen Welt nicht mehr führbar und gewinnbar, da sie zivilisationsgefährdende Folgen hätten. Resilienz, wie sie im Weißbuch 2016 als Konsequenz auf diese Herausforderung gefordert wird[1], ist blanker Selbstbetrug.[2]
2. Dazu kommt, dass neue Technologien völlig neue Möglichkeiten eines destruktiven Einwirkens auf Streitkräfte und Gesamtgesellschaft geschaffen haben, die unterhalb der Schwelle konventioneller Waffenwirkung bleiben. Insbesondere die Ausdehnung von Konflikten auf den Weltraum und den Cyberspace verwischen die Grenzen zwischen militärischen und nichtmilitärischen Aktivitäten – und damit zwischen Krieg und Frieden –. Vor allem verringert sich durch die Tendenz zur Automatisierung militärischer Entscheidungen der Spielraum für politische Entscheidungen.
3. Schließlich fehlt gegenwärtig weitgehend das Deeskalationsinstrumentarium, das seit Mitte der 1970er Jahre die Blockkonfrontation reguliert beziehungsweise eingedämmt hat. Hierzu gehörten zum Beispiel die vereinbarten Mechanismen zur Verifikation von Abrüstung und Rüstungsbegrenzung, zur Manöverbeobachtung sowie eine Vielzahl von Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM).
Durch diese Entwicklungen sind vor allem die Industriegesellschaften Europas und Nordamerikas im Falle einer direkten Einbeziehung in gewaltsame Auseinandersetzungen verletzbarer geworden. Die Gefahren einer nicht gewollten beziehungsweise zufälligen Eskalation von Konflikten sind gewachsen. Das bisher im Denken von Militärs vorherrschende Ringen um Eskalationsdominanz wird damit zum Risiko für einen politischen Prozess der Deeskalation. Das umso mehr, als auf allen potenziellen Kriegsschauplätzen mit Aktivitäten nichtstaatlicher Akteure zu rechnen ist.
Angesichts der Sprunghaftigkeit und Spontaneität des gegenwärtigen US-Präsidenten bei der Durchsetzung seiner „America-first“-Politik und der Kennzeichnung Deutschlands als strategischer Gegner müssen die USA zurzeit selbst als sicherheitspolitischer Risikofaktor für Europa betrachtet werden.

Manichäisches Weltbild des Westens und missionarische Außenpolitik

Deutschland und die EU stehen damit vor der Aufgabe, die Friedensfrage konsequenter und kreativer in den Vordergrund ihrer Außenpolitik zu rücken. Nun gehörte es seit jeher zum Selbstverständnis aller Bundesregierungen, dass sie eine Außenpolitik im Sinne von Frieden und Stabilität in Europa betreiben wollen. Anspruch und Wirklichkeit dieser Außenpolitik stehen jedoch im Widerspruch zueinander. Diese Widersprüchlichkeit ist aber nicht ohne weiteres zu erkennen, da sie sich hinter den Floskeln einer werteorientierten Außenpolitik verbirgt. So heißt es bei Ischinger/Messner: „Deutschland sollte sich als Ganzes stärker zu seiner gewachsenen internationalen Verantwortung bekennen und diese auf Basis unserer Werte […] annehmen und ausfüllen.“[3] Als Leitbegriffe werden dabei vor allem solche wie „Frieden“, „Freiheit“, „Demokratie“, „Wohlstand“ und „Gerechtigkeit“ genannt.[4] Das alles sind sehr wohlklingende Begriffe mit viel Interpretationsspielraum und Auswahlmöglichkeiten. Bei ihrer außenpolitischen Umsetzung sollten wir nur nicht vergessen, dass das keineswegs die zentralen politischen Kategorien aller Staaten dieser Erde sind, sondern lediglich „die Werte einer offenen freiheitlichen Gesellschaft“[5].
Hinter diesem Wertebewusstsein steht das manichäische Weltbild des transatlantischen Westen insgesamt: die Teilung der Welt in Gute und Böse, in „wir und die Anderen“. Dieses Weltbild beruht auf dem Selbstverständnis des Westens, die höchste Stufe der menschlichen Zivilisation zu verkörpern – im Unterschied zu allen anderen real bestehenden Kulturen beziehungsweise Zivilisationen, die in den meisten anderen der annähernd 200 Staaten dieser Welt vorherrschen. Man sollte sich an Samuel P. Huntington erinnern, der bereits Mitte der 1990er Jahre darauf aufmerksam machte, dass „der Glaube an die Universalität der westlichen Welt an drei Problemen [kranke]: er ist falsch, er ist unmoralisch, und er ist gefährlich“[6]. Huntington sah in einer Politik des Westens, die „unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen“ nicht berücksichtige, die Wurzel für Konflikte zwischen den Staaten unterschiedlicher Zivilisationen und Kulturkreise – insbesondere an deren Randzonen.[7] Genau diese Vorhersage hat sich mit den Kriegen auf dem Balkan sowie im Nahen und Mittleren Osten bestätigt.
Man muss die Vision Huntingtons vom „Kampf der Kulturen“ nicht teilen; unbestreitbar bleibt jedoch die tiefe Widersprüchlichkeit zwischen dem Westen und dem Rest der Welt.
De facto hat die Verabsolutierung der Werteorientierung in der Außenpolitik Deutschlands und der EU missionarischen Charakter mit neokolonialistischen Zügen. Das Wertesystem des Westens wird als Verkörperung allgemeinmenschlicher Werte dargestellt. Aus der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen werden selektiv und einseitig die westlichen Vorstellungen über Grundrechte, Freiheit und politische Demokratie in den Vordergrund gestellt. Der damit einhergehende Überlegenheitsanspruch der westlichen Zivilisation ist konfliktfördernd und friedensgefährdend. Zwei Beispiele, die zum Kern der deutschen und europäischen Außenpolitik gehören, mögen das verdeutlichen:
So zielt die sogenannte Politik der „Östlichen Partnerschaft“ (ÖP) der EU – als Teil der „Europäischen Nachbarschaftspolitik“ (ENP) – auf eine Transformation und Bindung der sechs postsowjetischen Staaten Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, Ukraine und Weißrussland an das westliche Wertesystem. Am deutlichsten und folgenreichsten verkörperte eine solche Haltung das Barroso-Ultimatum[8] vom Februar 2013 an die Ukraine, als diese sich der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft[9] anschließen wollte. Barroso schloss für diesen Fall eine Annäherung der Ukraine an die EU aus. Es folgten „Euromaidan“, der Sturz von Janukowitsch, der Aufstand in der Ostukraine und die Abspaltung der Krim durch Russland – also die komplette Ukrainekrise.
Das zweite Beispiel betrifft das Prinzip der sogenannten Doppelstrategie von Abschreckung und Dialog gegenüber Russland. Hier gibt es eine Kontinuitätslinie seit dem Harmel-Bericht von 1967 bis zum NATO-Gipfel 2018 in Warschau. Abschreckung und Dialog seien demzufolge zwei Seiten einer Medaille. Aber im Endeffekt zielen beide Seiten – mit mehr oder weniger Gewaltandrohung – auf Transformation nach westlichen Vorstellungen und keineswegs auf Anerkennung des Status quo und der gegenseitigen Gleichberechtigung. (Dabei soll nicht bestritten werden, dass Dialogpolitik durchaus eine kriegsverhindernde Wirkung haben kann.)
De facto zeigt sich in der werteorientierten Außenpolitik der Bundesrepublik ein grundlegender Widerspruch zur deutschen Innenpolitik: Der regierungsoffiziell praktizierten Toleranz einer kulturellen Vielfalt nach innen steht die kulturelle Intoleranz nach außen gegenüber. Die werteorientierte Außenpolitik Deutschlands und des Westens insgesamt ignoriert die für friedlichen Ausgleich unerlässliche gleichberechtigte Anerkennung der Wertesysteme anderer politischer Kulturen.

Friedensfrage umfasst mehr als Antimilitarimus und Pazifismus

Eine linke Kritik an der Außenpolitik Deutschlands und der EU muss also viel grundsätzlicher als derzeit üblich ansetzen. Sie darf sich keineswegs nur auf den Militarisierungsaspekt konzentrieren, sondern muss sich auf alle Schwächen der gegenwärtigen Außenpolitik richten. Bisher  allerdings unterlässt auch die Links-Partei – wie die anderen Bundestagsparteien – die kritische Kontroverse mit dem Problem der Werteorientierung in der außenpolitischen Praxi.
Das Dilemma der Linkspartei besteht darin, dass sie kein konstruktives Konzept und keine Vision für die Bewältigung der außenpolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts hat. Die Linken sind eine Contra-Partei und keine Pro-Partei. Ihre Konzentration in der Friedensfrage auf den Antimilitarismus ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Sie sind konsequent gegen jegliche Auslandseinsätze der Bundeswehr, gegen die NATO, gegen jeglichen Rüstungsexport, gegen eine europäische Militärunion, gegen eine Militarisierung der Sicherheitspolitik insgesamt. Entscheidend dabei ist, dass die Linken in ihrem Selbstverständnis als Friedenspartei keinen Plan für eine Außenpolitik des Friedens haben.
Die Friedensfrage umfasst aber mehr als Antimilitarismus und Pazifismus. Man kann engagiert für den Frieden eintreten, ohne Pazifist zu sein und auch ohne konsequentem Antimilitarismus in jedem Detail zustimmen zu müssen. Eine Reduzierung der Friedensfrage auf Pazifismus und Antimilitarismus birgt in sich vielmehr die Gefahr des Sektierertums und der Ausgrenzung potenzieller Partner. Angesichts der neuen Dimensionen und der Komplexität der Friedensfrage in der Gegenwart ist eine solche Einengung für die Friedensbewegung geradezu kontraproduktiv.
Das ist keine Polemik gegen die klare antimilitaristische Haltung der Linkspartei. Das ist ein Plädoyer für eine komplexe friedenspolitische Vision. Eine echte Außenpolitik des Friedens muss über Pazifismus und Antimilitarismus hinausgehen. In diesem Sinne möchte ich thesenartig sechs Orientierungspunkte in den Mittelpunkt und zur Debatte stellen:
1. Aktive Friedenspolitik heißt Eintreten für Gewaltverzicht und aktive kooperative internationale Beziehungen auf Basis der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker. Das sind zugleich die obersten Verhaltensgrundsätze der Charta der Vereinten Nationen.[10] Außenpolitik des Friedens ist Außenpolitik auf gleicher Augenhöhe. Das verlangt die Anerkennung anderer politischer Kulturen, anderer historischer Erfahrungen, anderer Lebensweisen und Werte als legal und gleichberechtigt. Es bedeutet zugleich den Verzicht auf Missionierung, Transformation und Regime Change.
2. Zugleich geht es um die Berücksichtigung der Interessen anderer Staaten. Das setzt voraus, sie in ihrem historischen Kontext zu kennen. Man muss also selbst den politischen Gegner „verstehen“. Verstehen heißt keineswegs, mit ihm übereinzustimmen. Die andere Seite zu „verstehen“ ist vielmehr die Voraussetzung für jede vernünftige Außenpolitik. Insofern ist „Putinversteher“ kein Schimpfwort sondern Grundbedingung einer realistischen Außen- und Sicherheitspolitik mit Russland.
3. Friedenspolitik heißt immer auch vorausschauende Außenpolitik, die Konflikte von vornherein zu vermeiden sucht. Deutsche und europäische Außenpolitik in den Krisenregionen dieser Welt – im Nahen und Mittleren Osten, in Afghanistan oder in Afrika – waren und sind aber in der Regel nichts Anderes als Bemühungen zur Krisenbewältigung und zur Beseitigung, mindestens Linderung von Krisen- und Kriegsfolgen, zum Teil sogar mit den falschen Mitteln. Was bisher fehlt, ist eine langfristige Sicht auf die Probleme. Eine konsequente Außenpolitik des Friedens verlangt eine Verlagerung des Schwerpunkts von der Krisenbewältigung auf die Krisenprävention. Das heißt, sie muss mehr von zukunftsorientierten, grundsätzlichen Zielen aus – also von den angestrebten Folgen her – konzipiert und gestaltet werden.
4. Friedenspolitik heißt auch Verzicht auf Feindbilder. Feindbilder sind stets mit Hass, Intoleranz und Ausgrenzung verbunden. Gefragt sind aber Kooperation, Versöhnungsbereitschaft und Toleranz – nach innen wie nach außen. Anregungen bieten hier vor allem die christliche Friedensethik und die praktische Friedensarbeit der christlichen Kirchen.
5. Friedenspolitik heißt insbesondere Durchsetzung und Stärkung des Völkerrechts – statt der De-facto-Anerkennung des Rechts des Stärkeren. Gemeint ist hier vor allem die Überwindung von Doppelstandards bei der Bewertung von internationalen Problemen bis hin Rechtsverstößen. Nur dadurch ist auch die Glaubwürdigkeitskrise des Westens zu überwinden. Außenpolitische Praxis ist derzeit eher die einseitige Schuldzuweisung an den politischen Gegner. So werden offensichtliche Völkerrechtsverstöße der USA wie der Irak-Krieg oder Drohnenangriffe gegen vermeintliche Terroristen von Regierung und deutschen Mainstreammedien ignoriert, toleriert oder gerechtfertigt, während fragwürdige Aktionen von Russland aufgebauscht oder gar frei erfunden werden. Das Musterbeispiel hierfür aus dem Jahre 2018 ist die Affäre um den russisch-britischen Doppelagenten Skripal und seine Tochter. Die friedenspolitische Konsequenz muss hier vor allem in der Stärkung solcher internationalen Organisationen wie der UNO oder der OSZE sowie von deren Fachinstitutionen liegen.
6. Schließlich geht es bei einer konstruktiven Friedenspolitik auch um die Einheit von Friedensfrage und sozialer Frage. Stabilen Frieden zwischen den Staaten und Völkern wird es nur geben, wenn Armut, Unterentwicklung, Umweltzerstörung und neokolonialistische Ausbeutung überwunden werden. Frieden – nach innen wie nach außen – beruht auf Solidarität und Gerechtigkeit. Hier könnte zum Beispiel auch der Kern für eine Werteorientierung linker Außenpolitik liegen.

Europäische Sicherheit nur mit, nicht gegen Russland

Diese sechs Orientierungspunkte sind kein Selbstzweck. Sie stehen mit der Militärfrage in einem engen Zusammenhang. Sie sind Maßstab und Kriterium zur Beurteilung der aktuellen Tendenzen der Rüstungs-, Militär- und Bündnispolitik der Bundesregierung und weisen auch den Weg zu Alternativen.
Kernpunkt der Friedensfrage aus deutscher Sicht ist das Problem der europäischen Sicherheit. Es geht um Frieden und Stabilität auf dem europäischen Kontinent und an seinen Randzonen. Der Schlüssel hierfür liegt in der Gewährleistung partnerschaftlicher Beziehungen zu Russland als der größten Kontinentalmacht. Zumindest geografisch ist uns Russland 5000 Meilen näher als die USA. Denn Russland ist – wie Egon Bahr immer wieder betonte – unverrückbar unser Nachbar.[11] Frieden in und für Europa ist nur mit und nicht gegen Russland zu gewährleisten. Insofern muss die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsstruktur unter Einbeziehung Russlands im Zentrum deutscher und europäischer Sicherheitspolitik stehen.
Es sind gerade die Differenzen mit Russland, die uns zwingen, an diesem Ziel festzuhalten und zumindest in kleinen Schritten in diese Richtung voranzuschreiten. Über alle bestehenden Meinungsverschiedenheiten mit Russland hinweg ist diese Sicherheitspartnerschaft tatsächlich alternativlos. Daran ändern auch die – historisch erklärbaren – Ängste der Balten und der Polen vor Russland nichts. In diesem Zusammenhang kann es auch keinen Zweifel geben, dass Deutschland bei der Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in Europa andere Interessen hat als Amerika.

Friedensbewegung nur als breite Bündnispolitik erfolgreich

Angesichts der Vielfalt und Komplexität der Probleme, die Frieden und Stabilität in Europa entgegenstehen, stellt sich die Frage, wie wir dennoch auf diesem Wege vorankommen können. Die Antwort liegt in erster Linie bei der Friedensbewegung selbst. Sie kann nur erfolgreich sein, wenn ihre Aktivitäten als breite Bündnispolitik praktiziert werden. Das ist auch die Konsequenz aus dem Verständnis der Friedensfrage als Menschheitsfrage.
Obwohl die Friedensbewegung in Deutschland gegenwärtig eher unauffällig agiert, verbindet der Friedensgedanke breiteste Bevölkerungskreise. Er ist in allen Klassen, Schichten und Parteien verankert und reicht weit ins bürgerliche Lager hinein. Deutschland gehört zu den Ländern Europas, in denen die negativen Erinnerungen an zwei Weltkriege im Bewusstsein der Bevölkerung besonders präsent sind. Davon zeugen alle soziologischen Untersuchungen zur Frage von Krieg und Frieden der letzten Jahre. Zugleich gibt es kaum ein Thema, das so konträr diskutiert wird, wie die Friedensfrage. Selbst das linke Lager ist in dieser Frage tief gespalten. Es gibt innerhalb dieses Lagers geradezu eine Rivalität um das Selbstverständnis als einzig wahre Friedenskraft in Deutschland. Genau das ist aber auch die entscheidende Schwäche der Friedensbewegung, die einen größeren Erfolg verhindert.
Wie eine friedensorientierte Außenpolitik die Akzeptanz anderer politischer Kulturen, Werte und Traditionen verlangt, gilt das in der Friedensfrage vor allem auch nach innen. Das heißt, es geht um Toleranz für den Umgang mit dem potenziellen Bündnispartner, der aus einem anderen sozialen, politischen oder religiösen Milieu kommen kann. Die Friedensbewegung wird nur dann Einfluss auf die reale Außenpolitik haben, wenn sich ihre einzelnen Teile oder Kräfte auf grundlegende gemeinsame Ziele verständigen können. Das setzt voraus, dass durchaus berechtigte Einzelforderungen im Interesse eines gemeinsamen Zieles von Fall zu Fall zurückgestellt werden müssen und oft nur ein Minimalkonsens erreichbar ist.
Angesichts der Vielfalt und Diversifizierung der Friedensbewegung ist die Bereitschaft der Linken für breite politische Bündnisse – sowohl als Partei als auch im Sinne des gesamten linken Spektrums – eine wichtige Voraussetzung, um Erfolg zu haben. Dabei darf es keine Scheuklappen, keine Berührungsängste und keine Ausgrenzungen geben. Auch keine ideologische Arroganz im Sinne einer „führenden Rolle“. Die Geschichte lehrt, dass es in der Vergangenheit gerade der Anspruch auf eine Führungsrolle war, der die linken Kräfte gespalten und in den Untergang geführt hat. Spaltung der Linken hat immer nur die bellizistischen Kräfte gestärkt.
Was wir brauchen, ist eine Friedensbewegung, die als breite Sammlungsbewegung über alle Parteigrenzen hinausgeht. Diese Aussage steht keineswegs im Widerspruch zur linken Sammlungsbewegung, die im Sommer 2018 ins Leben gerufen wurde. Die Friedensbewegung ist Teil dieser Sammlungsbewegung und geht zugleich darüber hinaus, da sie auch Kräfte beinhalten kann, die eher im bürgerlichen Lager stehen. Dabei sollten wir keine Illusionen und überzogenen Ansprüche haben. Es wird auch in Zukunft keine Homogenität in der Friedensbewegung geben. Mehr gegenseitige Toleranz schließt Auseinandersetzungen nicht aus. Ein breites Friedensbündnis bedeutet vor allem aktionsbezogene Kooperation und keineswegs Verbrüderung.
Es gibt genügend Ansätze für solche breiten Friedensbündnisse. Man muss sie nur wahrnehmen und unterstützen.
Im Herbst 2017 gab es zum Beispiel einen „Abrüstungsaufruf der Friedensbewegung“, zu deren Erstunterzeichnern Sarah Wagenknecht, Sigmar Gabriel, Antje Vollmer, Sevim Dagdelen und andere gehörten.
Bereits im November 2016 war die parteiübergreifende Initiative „Neue Entspannungspolitik JETZT“ an die Öffentlichkeit getreten, die auch von Politikern der Linkspartei unterzeichnet wurde. Diese Initiative ist nach wie vor hochaktuell und hat viel Zuspruch auch aus bürgerlichen Kreisen erfahren. Im Kern geht es um die Überwindung der neuen Ost-West-Konfrontation, was sich gegenwärtig als Schlüsselproblem der Friedensfrage in Europa darstellt.
In dieser Hinsicht lohnt sogar die Rückbesinnung auf das letzte außenpolitische Leitliniendokument der alten Bundesregierung zum Thema „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“[12]. Es wurde kurz vor den Bundestagswahlen im September 2017 von Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Sigmar Gabriel unterzeichnet und veröffentlicht, verschwand danach aber sofort in der Versenkung. Grundlage für dieses Dokument war ein breiter öffentlicher Diskussionsprozess, der unter dem Motto „PeaceLab2016: Krisenprävention – weiter denken“ stand. Dieses Dokument ist insofern bedeutsam, als es eine völlig andere politische Handschrift trägt als das Bundeswehrweißbuch 2016. Bemerkenswert ist vor allem, dass es Russland explizit nicht als Bedrohung und sicherheitspolitische Herausforderung darstellt, dafür aber der Krisenprävention einen völlig neuen Stellenwert gibt.[13]
Ich plädiere hier keineswegs für eine kritiklose Übernahme dieses Dokuments. Dafür enthält es zu viele Elemente neoliberaler Missionierungs- und Transformationspolitik. Als Ansatz und Aufhänger, um in einem breiten gesellschaftlichen Konsens für eine neue Entspannungspolitik in der Friedensfrage voran zu kommen, taugt es aber allemal.

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[1] – Siehe Die Bundesregierung. Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2016, S. 48/49.

[2] – Siehe dazu ausführlicher Max Schmidt/Wolfgang Schwarz: Zur Kriegsuntauglichkeit Europas, in: WeltTrends, Nr. 146/Dezember 2018, S. 20 ff. sowie Wolfgang Schwarz: Nachbemerkung aus heutiger Sicht, in: ebe3nda, S. 25 ff.

[3] – Wolfgang Ischinger/Dirk Messner: Deutschlands neue Verantwortung. Die Zukunft der deutschen und europäischen Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik, Berlin 2017, S. 209.

[4] – Siehe ebenda. S. 4 und 7.

[5] – Ebenda, S. 209.

[6] – Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Hamburg 2006/2007, S. 509.

[7] – Siehe ebenda, S. 22.

[8] – Josè Julio Barroso war zu dieser Zeit Kommissionspräsident der Europäischen Union.

[9] – Die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft wandelte sich zum 1. Januar 2015 in die Eurasische Wirtschaftsunion als Binnenmarkt mit Zollunion. Ihr gehören die fünf postsowjetischen Staaten Armenien Kasachstan, Kirgistan, Russland und Weißrussland an.

[10] – Siehe Charta der Vereinten Nationen, Kapitel 1, Artikel 1.

[11] – Vgl. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-11/russland-putin-dialog/seite-3 – Aufruf am 06.01.2019.

[12] – Auswärtiges Amt (Hrsg.): Die Bundesregierung. Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern. Leitlinien der Bundesregierung, Berlin, September 2017.

[13] – Lediglich im Kapitel 3 – Ziele, Ansätze und Instrumente der Friedensförderung – gibt es auf S. 72 eine Aussage zu Russland, die in der Sprache des Weißbuchs gehalten ist.