22. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2019

Britannien 2019

von Erhard Crome

Zu den vorweihnachtlichen Überraschungen gehörte, dass der rbb in deutscher Synchronisation die sechs Folgen der BBC-Produktion „SS-GB“ gesendet hat. Das ist eine kontrafaktische Kriminal- und Thriller-Geschichte, Ausgangspunkt: Deutschland hat 1940 den Luftkrieg gegen Großbritannien gewonnen, die Landung deutscher Truppen war erfolgreich und Britannien ächzt unter deutscher Besetzung. Besatzungstechnisch haben sich die Autoren an der tatsächlichen Praxis im besetzten Frankreich orientiert: der Süden mit der Hauptstadt London im Zentrum steht direkt unter deutscher Kontrolle, der andere Teil verwaltet sich irgendwie selbst. Es gibt eine aktive Widerstandsbewegung. In dem deutschen Besatzungsgebiet arbeiten die „normalen“ britischen Behörden unter deutscher Aufsicht weiter. So auch Scotland Yard, unter Befehl und Kontrolle der Gestapo beziehungsweise der SS.
Das führt zu interessanten Dialogen, insbesondere die, an denen die Hauptfigur, ein britischer Kriminalist, beteiligt ist. Er muss seinen englischen Leidensgenossen erklären, dass er kein Kollaborateur ist, und betont: „Eines Tages werden die Deutschen wieder verschwinden, und dann muss das Leben weitergehen, muss die Gesellschaft funktionieren, wie vorher.“ Der SS-Mann, der auch über seine eigene Rolle als Deutscher in Britannien nachdenkt, betont: „Wir werden in Großbritannien investieren, Bosch, Siemens und andere deutsche Unternehmen werden investieren und Sie werden Vollbeschäftigung haben.“ Als der Engländer hofft, die USA würden das Land von den Deutschen befreien, entgegnet ihm die US-amerikanische Journalistin, Anglophilie sei „Schnee von gestern, das Heute sind die Deutschen“.
Der Roman, der die Vorlage der Serie bildete, stammt von Len Deighton. Der schrieb insgesamt 35 Romane, Kriminalromane, Thriller, kriegshistorische Geschichten und Kochbücher. „SS-GB“ erschien 1978. Insofern ist die interessante Frage, weshalb die BBC im Jahre 2017 diesen Text verfilmte. Obige Gesprächsausschnitte machen bereits deutlich, dass in die Handlung der 1940er Jahre sehr aktuell klingende Sätze eingebaut sind. Das Brexit-Referendum fand am 23. Juni 2016 statt. Insofern ist ein offenbar nicht nur zeitlicher Zusammenhang zu unterstellen: Wenn die Deutschen – nun gelesen: die von denen geführte EU – wieder verschwunden sind, soll das Leben weitergehen, wie es vorher war.
Schon im Umfeld der berühmt-berüchtigten Premierministerin Margaret Thatcher war vor dem Hintergrund der deutschen Vereinigung 1990 davon ausgegangen worden, dass die Europäische Union im Grunde nur die verkappte und institutionalisierte Vorherrschaft der Deutschen über Europa darstellt, dessen Teil nun auch Großbritannien ist. Das Vereinigte Königreich hatte aber nicht zwei siegreiche Weltkriege geführt und dabei sein Empire verloren, um am Ende einen geopolitischen Platz zugewiesen zu bekommen, den es 1914 auch ohne Krieg hätte haben können.
In vielerlei Betrachtungen über den kommenden Brexit und das zu erwartende Chaos eines „harten Brexit“ wird vor allem hierzulande nur krämerhaft über Kosten und Nutzen – vor allem für Bosch, Siemens und so weiter – geredet, aber nicht über nationalen Stolz, Ehre und Geschichte. Die Mehrheit der Deutschen hält solche Begriffe für veraltet. Nach den Nazi-Verbrechen für den eigenen nationalen Kontext gewiss zu Recht. Das bedeutet aber nicht, dies auch allen anderen Völkern abzusprechen. Die Verbrechen wurden in „SS-GB“ übrigens sehr drastisch gezeigt, filmgeschichtlich stellenweise durchaus vergleichbar mit dem sowjetischen Anti-Kriegsfilm „Geh und Sieh!“
Gewiss ist das Deutschland von heute nicht mit dem von 1940 vergleichbar. Gleichwohl sind es immer noch oder wieder „die Deutschen“, von denen andere in Europa sich herumkommandiert, bevormundet oder belehrt sehen. Vielleicht sollte man über den Brexit noch einmal etwas ruhiger nachdenken, jenseits rein „realpolitischer“ oder „realwirtschaftlicher“ Argumentationen.
Herfried Münkler, der sich immer gern als Vordenker deutscher Hegemonie in Europa präsentiert hat, betonte in seinem 2015 erschienenen Buch über die „Macht in der Mitte“ Europas zwei essentielle Punkte: die „Begrenzung der Flüchtlingsströme […] aus dem Vorderen Orient und dem subsaharischen Afrika“ werde „zu einer der größten Herausforderungen für den solidarischen Zusammenhalt der Europäischen Union“ und es liege im fundamentalen Interesse Deutschlands, dass Großbritannien in der EU verbleibt. Der Preis für die humanistischen Entscheidungen der deutschen Regierung zur Einreise von Flüchtlingen 2015 war eine Reduzierung des Zusammenhalts der EU. Zu den Ländern, auf die Deutschland versuchte Druck auszuüben, gehörte übrigens auch Großbritannien. Darüber wurde nur nicht gesprochen, weil alle über Osteuropa redeten.
Nachdem in Großbritannien die Brexit-Entscheidung gefallen war, hätte es deutsche Politik sein sollen, die Folgen für Großbritannien so weit als möglich abzumildern. Stattdessen halluzinierte man sich die Gefahr weiterer Austritte – die tatsächlich in keinem anderen EU-Land bestand – und überließ es der EU-Kommission und dem französischen Chefunterhändler Michel Barnier, ein Austrittsabkommen auszuhandeln. Für dessen Bedingungen gibt es im britischen Unterhaus offensichtlich keine Mehrheit.
Die britische Wirtschaft bereitet sich auf den Brexit vor. Die Barclays Bank, die weltweit etwa 120.000 Beschäftigte hat und die drittgrößte britische Bank ist, hat ihre Geschäfte in der EU gerade auf ihre Niederlassung in Irland übertragen. Umgekehrt rechnet die britische Regierung offenbar nicht mit einer Zustimmung zu dem Austrittsabkommen mit der EU im britischen Parlament und hat schon mal für 108 Millionen Pfund (das sind etwa 120 Millionen Euro) Charterverträge mit verschiedenen europäischen Reedereien über das Anmieten zusätzlicher Fähren abgeschlossen. Derzeit transportieren Schiffe etwa 16.000 LKW täglich zwischen dem französischen Calais und dem britischen Dover. Da nach dem „harten Brexit“ mit Zollkontrollen und massiven Rückstaus gerechnet wird, sollen die zusätzlichen Fähren, die dann Portsmouth oder Plymouth anlaufen sollen, eine zusätzliche Kapazität von etwa 4.000 LKW pro Tag schaffen. Nutznießer sind vor allem dänische und französische Reedereien. Es heißt, die britische Regierung habe sich bei der Auftragserteilung über die EU-Vergaberichtlinien hinweggesetzt. Aber wenn die Schiffe erst nach dem harten Brexit vom 29. März 2019 fahren sollen, gelten die für das Vereinigte Königreich ohnehin nicht mehr.
Kommentatoren meinen, die Position der britischen Regierung sei halsstarrig und realpolitisch nicht vernünftig. Das hat aber Tradition. Aus der Sicht der Berliner Regierung war es im Frühjahr 1940 ebenfalls unvernünftig, Hitlers Angebot eines Verständigungsfriedens auszuschlagen: die Kampfhandlungen werden eingestellt, die Deutschen machen auf dem Kontinent, was sie wollen, und London herrscht weiter in seinem Empire. (Das war etwas anderes als das fiktive Szenario von „SS-GB“.) Und das zu einer Zeit, da die USA Winston Churchill noch keine definitive Unterstützung zugesagt hatten und die Sowjetunion faktisch Hitlers Kooperationspartner war.
Sollte der Brexit-Vertrag im Unterhaus durchfallen, hätte eine Veränderung der britischen Position neue Angebote aus EU-Europa zur Voraussetzung. Dazu scheinen aber Merkel im Abendlicht ihres Kanzlerinnendaseins und Macron unter dem Druck der französischen Bevölkerung nicht in der Lage.