22. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2019

Berlin zeigt die Kunst der Novembergruppe

von Wolfgang Brauer

Die große Treppenhalle der Galerie ist leer. Das zeugt angesichts der Schätze der großen Sonderausstellung in den Sälen vis-à-vis vom Museumseingang freundlich gesagt von Gedankenlosigkeit. Das verwundert, findet sich doch hinter solcherart unsichtbarer Schwelle die wohl wichtigste Ausstellung der Berlinischen Galerie im Jahre 2018. Die von Vielen immer noch unterschätzte Berliner Sammlung moderner Kunst, Architektur und Fotografie ab 1870 versucht anlässlich des Novemberrevolutionsjubiläums eine Überblickschau der „Novembergruppe“ zu geben.
Diese „Vereinigung der radikalen bildenden Künstler“ – so die Eigenbezeichnung in den Satzungen der Gruppe vom Dezember 1918, ein genaues Gründungsdatum ist nicht überliefert – strebte die „engste Vermischung von Volk und Kunst“ an. Ihre Mitglieder sehnten sich nach Überwindung der kriegsbedingten internationalen Isolierung der deutschen Avantgarde. Sie verlangten ein Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht für alle Dinge, die ihre Arbeit angingen: öffentliches Bauen, der Unterricht an den Kunstschulen, die Forderung nach Umwandlung der Museen zu „vorurteilslosen […] Volkskunststätten“, Vergabe von Ausstellungsräumen, Kunstgesetzgebung. Alles Forderungen, die bis auf den heutigen Tag, dramatisch verschärft durch die Ateliersituation, nicht eingelöst sind! Thomas Köhler, Direktor der Berlinischen Galerie, weist angesichts der „tristen Realität im zeitgenössischen Städtebau“ und der misslichen Lage der „kulturellen Bildung“ auch in Berlin im Vorwort zum Katalog der Ausstellung dezidiert auf das visionäre Potenzial dieses kulturpolitischen Ansatzes hin.
Allerdings wäre es falsch, so Janina Nentwig in ihrer „Chronik der Novembergruppe“, diese als revolutionär-politischen Zusammenschluss zu verstehen. „Wir wenden uns […] gegen jedes Hineinziehen geistiger Schöpfungen in die Machtsphären politischer und merkantiler Art und fühlen uns darin einig mit den Künstlern der ganzen Welt“, erklärt die Gruppe im April 1919. Zu dieser Zeit umfasst sie bereits über 60 Mitglieder. Eine Mitgliederliste vom Januar 1930 führt über 100 Namen auf. Aber diese unvollständig erhaltenen Listen sind nur das Eine, das Andere – letztendlich Entscheidende – sind die Aktivitäten der Gruppe. So stellten zwischen 1919 und 1932 über 480 Künstlerinnen und Künstler gemeinsam mit der Novembergruppe aus. Sie ist mit einer eigenen Abteilung mit Ausnahme von 1925 regelmäßig an der Großen Berliner Kunstausstellung der Weimarer Zeit beteiligt. In ihren Katalogen finden sich beinahe alle wieder, die nach unserem heutigen Verständnis die Kunstlandschaft der Republik prägten.
Dabei reicht das Spannungsfeld von Vertretern der proletarisch-revolutionären Kunst über die Neue Sachlichkeit und expressionistisch Arbeitenden bis hin zu prägenden Künstlern der abstrakten Stile. Einen eigenen Schwerpunkt setzten die Architekten. Mit Namen von Peter Behrens über Walter Gropius und Mies van der Rohe bis Heinrich Tessenow liest sich die Liste der Baukünstler wie ein „Who is Who“ des Neuen Bauens der Weimarer Republik. Allerdings verließen sie Anfang 1927 geschlossen die Gruppe.
Logischerweise lag die Novembergruppe den Nazis schwer im Magen. Für sie war die Künstlervereinigung die Inkarnation des „Kulturbolschewismus“. 1937 erschien im Münchner J.F. Lehmann Verlag Wolfgang Willrichs „Säuberung des Kunsttempels. Eine kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geiste nordischer Art“. Janina Nentwig zählte 174 Mitglieder der Novembergruppe, die in Willrichs Schmähschrift namentlich genannt und als „entartet“ an den Pranger gestellt werden. Die Diffamierungsschauen der „Entarteten Kunst“ waren so die letzten, auf denen viele Arbeiten von Mitgliedern der Gruppe in Deutschland gemeinsam zu sehen waren. Offiziell wurde ihr am 24. Juli 1935 durch Entzug der Rechtsfähigkeit als Verein das Licht ausgeblasen.
Die von Ralf Burmeister und Janina Nentwig kuratierte Schau beginnt furios: Arbeiten von Karl Völker („Geburt“, 1919), Georg Tappert („Komposition I“, 1919) und Johannes Molzahn („Ur-Formen“, 1921) setzen klar konturierte Akzente. Moriz Melzers Lamellenbild „Segnung“ (1917–1922) zeugt ebenso wie sein „Der Frosch“ (etwa 1920) von experimentierfreudiger Formsuche in dieser Zeit des Umbruchs. Max Dungerts in einem blauen Grundton gehaltener „Turm“ (1922) ist hingegen ein klassisches Paradebild kubistischer Gestaltung, das jedem internationalen Vergleich – den die Novembergruppe immer wieder sucht, auch das machte sie den Völkischen suspekt – standhält. Zu den Höhepunkten deutscher Grafik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählen Otto Freundlichs mit dem Pinsel nachbearbeitete Zinkgravuren „Die Zeichen“ (1920), abstrakte Arbeiten von hoher Symbolkraft und starker bildnerischer Ausstrahlung. Melzer trat am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein, Freundlich wurde im März 1943 von den Nazis im Vernichtungslager umgebracht. 2017 zeigten das Kölner Museum Ludwig und das Kunstmuseum Basel eine große Retrospektive der Arbeiten Otto Freundlichs.
Ganz anders dagegen die Bilder von Georg Scholz, der 1921 mit seinem Ölbild „Industriebauern“ (1920) auf der Großen Berliner Kunstausstellung einen handfesten Skandal und nachfolgend eine heftige Auseinandersetzung über den Umgang mit politischer Zensur in der Novembergruppe auslöste. Scholz stellt karikaturistisch-überhöht ein bigottes und geldgieriges Großbauernpaar nebst vollkommen verblödetem Sprössling dar. Stilistisch bedient der Künstler sich von Dada angeregter Collage-Elemente, die in seinen Lithografien wiederum zugunsten einer hohen zeichnerischen Qualität nur scheinbar zurücktreten. Scholz findet Mitte der 1920er Jahre zur Neuen Sachlichkeit. Viele ihrer Vertreter, genannt seien hier nur Bernhard Klein, Peter Foerster und Issai Kulvianski, fanden unter dem Dach der Novembergruppe den Weg in die Berliner Kunstöffentlichkeit.
Die Kuratoren konfrontieren die neu-sachlichen Arbeiten – Otto Nagel (gezeigt werden die „Weddinger Jungen“ von 1928) hier einzureihen ist zumindest hinterfragenswert – in etwas zu stark didaktisch motivierter Hängung mit konstruktivistischen Kunstwerken wie El Lissitzkys Proun-Arbeiten (1921–1923), Walter Dexels „Komposition 1927 I“ oder auch Karl Völkers sich zwischen den Stilen bewegendem Ölbild „Beton“ (um 1924), das jeglichem Fortschrittsglauben abhold scheint und stattdessen auf den seelentötenden Entfremdungsprozess der modernen Industriegesellschaft aufmerksam macht. Am Rande bemerkt: Karl Völker wäre es wert, wieder entschiedener aus den Tiefen der Depots herausgeholt zu werden.
Auch der erwähnte Issai Kulvianski bedient sich mit dem zauberhaften Gemälde „Mein Töchterchen Kiki“ (1927) sehr verschiedener Stilmittel. Diese Künstler waren mitnichten „festgelegt“ und sind mit den besten ihrer Bildfindungen geradezu aktuell: Hannah Höch etwa malte 1925 „Die Journalisten“. Aber dieses Thema wollen wir hier lieber nicht vertiefen …
Faszinierend sind die ausgestellten Architekturzeichnungen und -modelle. Max Taut, Hugo Häring (der sich nicht zu schade war, 1922 in der Formensprache des organischen Bauens einen Kuhstall zu entwerfen), Hans Scharoun und Ludwig Mies von der Rohe seien hier nur genannt. Natürlich findet die Plastik (Rudolf Belling und Ewald Mataré) gebührenden Raum. Den Experimenten um den absoluten Film ist eine eigene Abteilung gewidmet. Viking Eggeling, Hans Richter und Walter Ruttmann („Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“, 1927) gehörten zur Novembergruppe. Weniger bekannt sein dürfte, dass die Novembergruppe über eine Musiksektion verfügte: Max Butting, Hans Heinz Stuckenschmidt, Kurt Weill sind nur einige Namen, die hier eine Rolle spielten.
Im Herbst 1929 feierte sich die Künstlervereinigung mit einer Jubiläumsschau „Zehn Jahre Novembergruppe“ in den Räumlichkeiten der Berliner Juryfreien Kunstschau. Diese Künstlerinnen und Künstler wussten, dass sie kunstpoltisch gesehen für die Republik standen. In der Breite aber, da sollte man sich keinen Illusionen hingeben, herrschten Mittelmaß und völkischer Kitsch. Die übernahmen wenige Jahre später die „Alleinvertretung“ deutscher Kunst. Zumindest innerhalb der Grenzen des Reiches. Der Katalog zitiert Paul Westheim (1931): „Aber es ist zu bedenken: ein Volk, das sich selbst kulturell aufgibt, gibt auch wirtschaftlich und politisch sich auf.“ Die Ausstellung entlässt ihre Besucher mit César Kleins Bild „Kreuz vor Barbaren“ (1933). Düsterer lässt sich eine Vision kaum darstellen. Auch Kleins Bild wirkt sehr, allzusehr heutig.

Freiheit. Die Kunst der Novembergruppe 1918–1935, Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, 10969 Berlin; noch bis zum 11. März 2019, täglich außer dienstags 10.00 bis 18.00 Uhr; Katalog.