von Bernhard Mankwald
Heino Bosselmann klopft im Blättchen 22/2018 die „Demokratie“ auf etwaige „Bruchstellen“ ab und findet diese im anthropologischen, im ethischen und im strukturellen Bereich. Er setzt dabei den Begriff, ohne ihn weiter zu hinterfragen, mit den gegenwärtigen Zuständen im „Westen“ gleich. Ein Klassiker der politischen Theorie wie Jean-Jacques Rousseau hätte das sicher anders gesehen, zweifelte er doch generell an der Umsetzbarkeit des Konzepts: „Wenn man das Wort in der ganzen Strenge seiner Bedeutung nimmt, so hat es noch nie eine wahre Demokratie gegeben und wird es auch nie geben. Es verstößt gegen die natürliche Ordnung, daß die größere Zahl regiere und die kleinere regiert werde. Es ist nicht denkbar, dass das Volk unaufhörlich versammelt bleibe, um sich den Regierungsgeschäften zu widmen, und es ist leicht ersichtlich, daß es hierzu keine Ausschüsse einsetzen kann, ohne die Form der Verwaltung zu ändern.“ „Repräsentative Demokratie“ erscheint aus einer solchen Perspektive als Mogelpackung. Rousseaus resignierte Folgerung: „Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.“
Dieses pessimistische Menschenbild teilt Bosselmann nicht; nach seiner Einschätzung waren die notwendigen Fähigkeiten früher durchaus vorhanden, sind aber zurzeit von einem rapiden Verfall der „intellektuellen Qualitäten“ bedroht. – Ähnliche Tiraden über die „geistig verwahrloste und spärlich erzogene“ Jugend kann man allerdings schon bei Platon lesen; wenn dieser Trend sich seither stetig fortgesetzt hat, müssten wir eigentlich längst auf das intellektuelle Niveau von Plattwürmern und Seegurken regrediert sein.
Eine solche Argumentation geht vom Dogma einer unwandelbaren menschlichen Natur aus, die allenfalls von „Verblödung“ bedroht ist. Dabei wird unser Leben in ungleich höherem Ausmaß als das aller anderen Spezies von der Kultur bestimmt. Anstelle des Fells haben wir Kleidung, Zähne und Klauen ersetzen wir durch Werkzeuge, Instinkte durch Sprache, Künste und Wissenschaften.
Beim Thema „Ethik“ nimmt Bosselmann Zuflucht zum Diktum eines konservativen Juristen, der seine eigene, alles andere als demokratisch organisierte Religionsgemeinschaft als Stütze in der vorgeblichen Haltlosigkeit anpreist. Dabei kannte schon Benedikt Spinoza einleuchtendere Argumente: er plädierte für den demokratischen Staat, „da er der natürlichste scheint, und der, welcher der Freiheit, welche die Natur Jedem gewährt, am nächsten kommt. Denn in ihm überträgt Niemand sein natürliches Recht auf einen Anderen so, dass er niemals deshalb später gefragt zu werden braucht; sondern die Übertragung geschieht an die Mehrheit der ganzen Gemeinschaft, von der er einen Teil bildet. So bleiben Alle sich gleich, wie in dem natürlichen Zustande.“ Wer sich also einer gegenwärtigen Mehrheit fügt, behält die Freiheit, sich selbst um eine künftige Mehrheit zu bemühen – und eine sehr alte und einfache ethische Regel verbietet es ihm, anderen diese Freiheit zu nehmen.
Strukturelle Schwächen schließlich behandelt Bosselmann am Beispiel der Weimarer Republik, deren Verfassung er als parlamentarisch bezeichnet. Der von ihm vielfach gepriesene Carl Schmitt wusste es besser: Er beschäftigte sich eingehend mit der „Diktatur des Reichspräsidenten“, die dieser aufgrund seiner Vollmachten ausüben konnte, und setzte sich für eine sehr weitgehende Auslegung dieser Rechte ein. – Der Begriff „Diktatur“ enthielt dabei noch eine Verharmlosung; nach Auffassung etwa von Rousseau stand dem Inhaber eines solchen Amtes keine gesetzgebende Gewalt zu, die der Reichspräsident mit seinen Notverordnungen sehr wohl hatte. Letzten Endes blieb also in der Verfassung der Republik ein Stück vom Despotismus des wilhelminischen Imperiums erhalten; und das Parlament versagte vor der Aufgabe, die vorgesehene gesetzliche Regelung für die Ausführung dieser Bestimmungen zu treffen.
So war der Weg frei für den Staatsstreich von 1932, der die republikanisch gesinnte preußische Regierung durch Beauftragte des Präsidenten ersetzte, und den von 1933, der die Grundrechte außer Kraft setzte und durch Verfolgung der kommunistischen und etlicher sozialdemokratischer Abgeordneter die Mehrheit für Hitlers Ermächtigungsgesetz schuf. – Die Verfassung enthielt also die Grundlagen für ihren Sturz selbst, und die „klassischen bürgerlichen Kompetenzen“ derjenigen, die ihn besiegelten, waren sicher nicht durch übermäßigen Gebrauch von Mobiltelefonen eingeschränkt.
Das Grundgesetz zog aus diesen Vorgängen vielfältige Lehren: Die Stellung des Kanzlers wurde gestärkt, die Rechte des Präsidenten stark eingeschränkt, die Auflösung des Bundestags möglichst erschwert, eine funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit installiert. – Auf verbleibende Schwächen habe ich in früheren Beiträgen hingewiesen. Rezepte zu ihrer Behebung aber sollten wir ganz sicher nicht bei einem Autor suchen, der die vorprogrammierte Bruchstelle einer früheren Verfassung erkannt und ihren Missbrauch legitimiert hat. Stattdessen gilt es, wie ich schon 2010 in meinem Buch „Das Rezept des Dr. Marx“ feststellte, „bereits vorhandene Möglichkeiten zu demokratischer Einflussnahme zu nutzen und auszubauen“.
Schlagwörter: Bernhard Mankwald, Demokratie, Grundgesetz, Heino Bosselmann