21. Jahrgang | Nummer 24 | 19. November 2018

Aspergers Kinder – Die Geburt des Autismus im „Dritten Reich“

von Lars Niemann

Der österreichische Psychiater Hans Asperger, nach dem das heute so „populäre“ Asperger-Syndrom benannt ist, soll die „autistische Persönlichkeit als psychologisches Gegenteil der nationalsozialistischen Persönlichkeit“ definiert haben. So heißt es in der deutschen Übersetzung eines unter dem Originaltitel „Asperger’s Children: The Origins of Autism in Nazi Vienna“ veröffentlichten Buches der amerikanischen Historikerin Edith Sheffer. Darin wird zunächst die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wien in der Zeit vom Ende des Ersten Weltkrieges über die Phasen des „Roten Wien“ und des austrofaschistischen „Ständestaates“ der 1930er Jahre bis zu der von einer übergroßen Bevölkerungsmehrheit gewollten Annexion durch Nazideutschland erzählt.
Sheffer schildert, wie in den 1920er Jahren auf Initiative der politischen Linken in der Stadt ein international als vorbildlich angesehenes öffentliches Wohlfahrtssystem etabliert wurde. Dessen Schwerpunkte lagen auf der Verbesserung der Wohn- und hygienischen Verhältnisse, auf Gesundheitspflege und Jugendhilfe mit Entwicklung der „Heilpädagogik“ als interdisziplinärer Schnittstelle. Es beinhaltete aber auch weitgehende staatliche Eingriffs- und Sanktionsmöglichkeiten, wenn die Familien die Vorgaben nicht umsetzten, und nicht zuletzt eine umfassende Erfassung gesundheitlicher und sozialer Daten. Dieses System wurde ab 1938 von den Nazis umfunktioniert und missbraucht – zur Erfassung, Internierung, Selektion und letzten Endes Ermordung körperlich und geistig behinderter, psychisch kranker oder schlichtweg sozial auffälliger Kinder und Jugendlicher.
Die Autorin beschreibt die Einbindung der Kliniken und der dort tätigen Ärzte, darunter an durchaus prominenter Stelle auch Hans Asperger, in dieses System, in dem die Entscheidungen über Leben und Tod auf psychiatrischen Diagnosen und Prognosen beruhten. Die Berichte von Überlebenden der Wiener Spiegelgrund-Anstalt mit ihren „Tötungspavillons“ sind schwer zu ertragen.
Sheffer geht auch auf die Nachkriegszeit und die letztendlich vollkommen unzureichende Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels ein. Sie weist darauf hin, dass die nazistischen Vorstellungen von „Volksgesundheit“ nicht aus einem Vakuum heraus entstanden sind, sondern dass die Idee, die Fortpflanzung erwünschter und „erbgesunder“ Menschen und Bevölkerungsteile zu fördern und die der anderen zumindest einzuschränken, international durchaus en vogue war.
Ein zweiter Schwerpunkt des Buches liegt in der Untersuchung der Wechselbeziehung psychiatrischer Diagnosen mit der nationalsozialistischen Ideologie. Sheffer betrachtet das NS-Regime explizit als „Diagnoseregime“ und betont die „Besessenheit“ der Nazis von der Erfassung, Einordnung und Kategorisierung von Menschen, woraus sich dann deren gruppenbezogene „Behandlung“ bis hin zur Vernichtung ergab. Damit erklärt sie auch die Vielzahl psychiatrischer Syndrome, die in dieser Zeit erstmals beschrieben worden sind.
Bei der Bewertung menschlichen Verhaltens bildete in der Psychiatrie der NS-Zeit offenbar der (heute unübliche) Begriff des „Gemüts“ eine zentrale Kategorie. Er wurde nicht mehr, wie im 18. Jahrhundert, als Synonym für „Seele“ verstanden, sondern als die Summe der Fähigkeiten zur Entwicklung fester sozialer Bindungen. Das „Gemüt“ umfasste alle positiven soziale Emotionen und sollte darüber hinaus den Deutschen besonders eigentümlich sein, etwa in Abgrenzung zur „Ratio“ bei anderen europäischen Völkern. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist Sheffers Satz bereits in der Einleitung: „Das Individuum musste Gemüt besitzen, um eine Verbindung mit dem Kollektiv herstellen zu können, und die Integration ins Kollektiv war ein wesentlicher Bestandteil des faschistischen Empfindens.“ Tatsächlich war „Gemütsarmut“ eine Diagnose, die zur Aussonderung und Ermordung führen konnte.
Das dritte große Thema des Buches ist die Auseinandersetzung mit der heutigen diagnostischen Praxis. Die Diagnose „Autismus“ ist eine klinisch-psychologische. Es gibt keinen biologischen „Marker“, mit der sie zum Beispiel aufgrund einer Blutuntersuchung, einer humangenetischen Analyse oder eines bildgebenden Verfahrens bestätigt oder ausgeschlossen werden könnte. Medizinhistorisch wurden hauptsächlich zwei Ausprägungen unterschieden, die auf den „klassischen“ Beschreibungen von Leo Kanner und eben von Hans Asperger beruhen.
Kanner beschrieb in den 1940er Jahren eine Gruppe von Kindern, die zumeist wenig oder keine Sprache entwickelt hatten, in ihrem Kontakt zu anderen Menschen und ihren Reaktionen auf Umweltreize auffällig waren, zumeist als in sich gekehrt und fokussiert auf Objekte oder Rituale. Die von Asperger als „autistisch“ bezeichneten Jugendlichen dagegen konnten sprechen, wenngleich häufig mit auffälliger Intonation, ungewöhnlicher Wortwahl oder einer Fokussierung auf bestimmte Themen, und fielen hauptsächlich durch ihre Schwierigkeiten im Sozialverhalten auf. Nachdem seine Habilitationsschrift von 1944 knapp vierzig Jahre später im englischsprachigen Raum bekannt wurde (Sheffer beschreibt, wie das geschah und dass dabei die NS-Bezüge verschwiegen wurden), hat sich die Diagnose „Asperger-Syndrom“ weltweit verbreitet.
Heute überwiegt in der psychiatrischen Praxis die Auffassung eines Kontinuums (Autismus-Spektrum). Die diagnostischen Kriterien haben sich im Laufe der Jahre geändert. Aktuell liegen der Diagnose einerseits eine anhaltende Einschränkung in der sozialen Kommunikation und Interaktion und andererseits eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten zugrunde.
Während Sheffer auf die Diagnosestellung in Anlehnung an Kanner nicht näher eingeht, sieht sie die Übernahme der in der NS-Zeit entwickelten Diagnose von Asperger sehr kritisch, wenn sie auch über seine persönliche Schuld zu keinem abschließenden Urteil gelangt. So kritisiert sie unter anderem die geringe Aufmerksamkeit für Mädchen und Frauen im Autismus-Spektrum und deren Abwertung. Ihre Hauptargumente sind jedoch der Schwerpunkt der Diagnosestellung auf einer „mangelnden Anpassung an die Gemeinschaft“ und die zu weit gefassten Kriterien, die zu einer Inflationierung der Diagnose geführt hätten. So fürchtet die Autorin einerseits eine Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen, die „sich nicht richtig in eine perfektionistische, von rasanten Veränderungen gekennzeichnete Welt“ einfügen können und andererseits eine Differenzierung in „potentiell Integrierbare“ und „nicht Anpassungsfähige“.
Solch eine Unterscheidung hatte auch Asperger in den 1930er und 1940er Jahren getroffen, was damals die Ermordung zur Folge haben konnte. Sheffer zufolge werde die Betonung der Anpassungsprobleme dem kontinuierlichen Charakter des Spektrums und der Heterogenität autistischer Menschen mit ihren jeweils sehr individuell ausgeprägten Kompetenzen und Defiziten, Interessen und Bedürfnissen nicht gerecht. Außerdem warnt sie vor einem Trend zur Pathologisierung kindlichen Verhaltens mit immer neuen psychiatrischen Diagnosen.
Autismus ist eine Realität. Konstituierend sind Unterschiede in der Aufnahme und Verarbeitung von Reizen und Informationen aus der Umwelt, die zu einer anderen Ausprägung des Denkens und Fühlens im Vergleich zur Mehrheit der „neurotypischen“ Menschen führen. Im Unterschied zu psychiatrischen Erkrankungen wie Depression oder Schizophrenie kann und muss Autismus nicht „geheilt“ werden.
Autismus ist nicht im „Dritten Reich geboren“ worden, aber dessen Umgang mit autistischen und anderweitig behinderten oder auffälligen Menschen muss eine ständige Mahnung sein. In Zeiten neoliberaler Dominanz mit ihrer Betonung ökonomischer Verwertbarkeit, der Diffamierung sozialstaatlicher Leistungen und einem gesellschaftlichen Druck zur ständigen „freiwilligen“ Selbstoptimierung und wegen des wachsenden Zuspruchs für rechtsextreme und „völkische“ Positionen ist dieses kenntnisreiche und emotional aufwühlende Buch sehr wichtig.
Aspergers Name wird sich von dem beschriebenen Syndrom kaum mehr trennen lassen, insbesondere weil er, so Sheffer, „mittlerweile Teil unseres Alltags“ und sogar zu einem „Persönlichkeitsarchetypus in der Popkultur“ geworden sei. Das mag so sein, aber Betroffene und Fachleute sollten über den historischen Hintergrund Bescheid wissen.

Edith Sheffer: Aspergers Kinder. Die Geburt des Autismus im „Dritten Reich“, Campus Verlag, Frankfurt a.M./New York, 2018, 29,95 Euro.

Lars Niemann arbeitet als Toxikologe und ist Vater eines inzwischen erwachsenen autistischen Sohnes.