von Gerd Hainichsen
Mit der Bewilligung der Kriegskredite im Reichstag durch die Abgeordneten der SPD 1914 wurde offensichtlich, dass die Auseinandersetzung innerhalb der Partei in Richtung reformistischer Entwicklung entschieden war. Unter dem Eindruck der russischen Revolution von 1917 strebten Sozialdemokraten eine Abspaltung von der SPD an mit dem Ziel, den Krieg zu beenden. Nach dessen Beendigung fehlte der Partei der „Kitt“, der sie zusammenhielt. Linke Kräfte in der Partei wollten eine Partei mit revolutionärem Ziel, das heißt den Sturz des Kapitalismus in Deutschland, gründen. So entstand im Januar 1919 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD).
War bisher die sachbezogene Diskussion strittiger Fragen innerhalb der sozialdemokratischen Parteien gang und gäbe, so nahm die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden in den nun auch in anderen Ländern entstehenden kommunistischen Parteien den Charakter von persönlichen Abrechnungen an. Unter dem Einfluss der von Lenin in seinem Werk „Was tun?“ begründeten Konzeption der Parteien neuen Typs wurde die demokratische Auseinandersetzung über politische Grundfragen mit persönlichen Angriffen auf Personen verbunden, die sich Alternativen zum Entwicklungsmodell in Russland und den Bolschewiki vorstellen konnten. Schon bald begann die Verfolgung Andersdenkender auch in der KPD, die wie die sogenannte Fischer-Maslow-Gruppe sich nicht mit einer Bolschewisierung der Partei abfinden wollten und andere Wege zur Verwirklichung ihrer Vision von einer besseren, gerechteren Welt gehen wollten.
Von nun an wurde in der gesamten kommunistischen Bewegung die Diskussion von Standpunkten lebensgefährlich, die nicht mit der Linie der KPdSU übereinstimmten. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Todesurteile in den Staaten Osteuropas gegen Andersdenkende ausgesprochen. In der Tschechoslowakei, in Ungarn, Bulgarien, aber auch in der DDR wurden Kommunisten unter Anklage gestellt, die der offiziellen Parteilinie insbesondere hinsichtlich der Ausgestaltung der Parteien und des Parteilebens und des Weges zu einer anderen Gesellschaft widersprachen.
In der BRD etablierte sich zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die SPD an der Macht (1966) und tat nichts gegen das seit 1956 in der BRD bestehende Verbot der KPD und die Berufsverbote gegen Funktionäre und Aktivisten der KPD.
Mit dem Anschluss der DDR an die BRD schrumpfte die ehemalige Regierungspartei SED von 2,2 Millionen Mitgliedern sehr schnell auf 400.000 und ihre Nachfolgerinnen PDS und später DIE LINKE auf 62.000 Mitglieder (31.12.2017). Auch die SPD verlor trotz neuer Mitglieder aus den neuen Bundesländern kontinuierlich an Mitgliedern. Im Dezember 2017 waren es noch insgesamt 443 000. Die Zersplitterung linker Kräfte wurde mit der Gründung von Bündnis 90/Die Grünen mit derzeit 65.000 Mitgliedern noch offensichtlicher. Damit sind die linken Kräfte in der Gesellschaft zwar nicht erschöpfend erfasst, dennoch rückt die Möglichkeit, eine Veränderung der Gesellschaftsordnung über Wahlen und die Gewinnung einer Mehrheit der demokratischen Kräfte zu erreichen, in immer weitere Ferne.
Auch die unterschiedlichen Positionen von Sozialdemokraten, Grünen und Linken insbesondere in der Außenpolitik, besonders in der Haltung zur NATO, und hinsichtlich der Ziele gesellschaftlicher Veränderungen, den Wegen zur Erreichung dieser Ziele sowie in der Innenpolitik – in Bezug auf das Verständnis, was soziale Gerechtigkeit ist und dabei wiederum insbesondere die Haltung zu Hartz IV – lassen gemeinsames Handeln dieser Parteien in und außerhalb der Parlamente nicht erwarten.
Gleichzeitig vertreten diese Parteien immer weniger Wähler. Repräsentierten SPD, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen im Jahr 1994 bei den Bundestagswahlen noch 37,4 Prozent der Wahlberechtigten, so waren es 2017 nur noch 29,2 Prozent der Wahlberechtigten.
Mit ihren organisatorischen Strukturen, der Vertretung von Klientelinteressen, dem Fraktionszwang und so weiter entsprechen diese Parteien nicht mehr den immer stärker sich differenzierenden Interessen der Bürger. Es ist zu erwarten, dass zukünftig weitere kleine Parteien die Fünfprozenthürde für die Vertretung im Bundestag überwinden werden. Einheitliches Handeln demokratischer Kräfte im Parlament wird dadurch nicht einfacher. Damit scheint die Parteiendemokratie sich ihrem Ende zu nähern. Statt in Parteien wirken immer mehr Bürger lieber in Bürgerbewegungen, regionalen Initiativen und Vereinen mit. Diese sind jedoch, genauso wie Gewerkschaften, nicht in gesetzgebenden Körperschaften vertreten.
Die Zersplitterung linker Kräfte in der Gesellschaft, ihre unterschiedlichen Ziele, ihre abnehmende Repräsentanz und Akzeptanz als Parteien legen den Schluss nahe, dass Veränderungen in der Gesellschaft kaum auf dem Weg der Einheit der bestehenden linken Parteien erreichbar sein werden. Warum können übrigens nur Parteien Interessenvertreter der Bürger im Parlament sein? Das Bundeswahlgesetz gestattet nur Parteien sich zur Wahl zu stellen. Gesetze kann man ändern, dazu braucht man jedoch eine Mehrheit im Parlament, und die wird mit steigender Zahl der im Parlament vertretenen Parteien immer unwahrscheinlicher.
Inzwischen muss man der nicht nur von Sarah Wagenknecht vertretenen Auffassung zustimmen, dass die demokratischen Kräfte in der BRD zurzeit nicht in der Lage sind, auf Bundesebene regierungsbestimmend und damit politikgestaltend zu sein. Es gibt eine Mehrheit in der Bevölkerung für eine Friedenspolitik, für größere soziale Gerechtigkeit und mehr Demokratie, diese spiegelt sich aber nicht wider in den Mehrheitsverhältnissen in den gesetzgebenden Körperschaften Deutschlands. Weder eine organisatorische Einheit der Linkskräfte, noch wenigstens einheitliches beziehungsweise abgestimmtes politisches Handeln sind gegenwärtig absehbar. Mindestens letzteres wäre aber für politische Gestaltungsmacht auf Bundesebene unverzichtbar.
Bedarf es daher nicht eines neuen politischen Ansatzes, der sicherlich nicht mehr auf der Basis von Parteien beruhen kann?
Eine wirkliche Veränderung der Gesellschaft hin zu mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit wird zukünftig sicher nur noch durch Bewegungen möglich sein, die unterschiedlichste demokratische Kräfte bündeln können, ohne selbst eine Partei zu sein.
Diese demokratische Bewegung sollte in erster Linie das Ziel verfolgen, durch außerparlamentarische Aktivitäten Druck auf die gesetzgebenden Körperschaften auszuüben. Durch gemeinsame Aktionen, durch Unterstützung gemeinsamer Kandidaten auf den Listen von Parteien könnte die demokratischen Kräfte Macht- und damit Veränderungsoptionen erlangen, ohne dass eine organisatorische Einheit demokratischer Parteien hergestellt wurde.
Auch heute noch geht die Auseinandersetzung darum, ob eine Veränderung der Gesellschaft und die Erreichung einer größeren sozialen Gerechtigkeit auf evolutionärem Wege möglich sind. Die Zukunft wird es zeigen. Bis dahin aber können kleine Schritte gegangen werden, die den demokratischen Kräften schließlich eine Machtoption geben werden, um dem zu erwartenden wachsenden Widerstand des Großkapitals wirkungsvoll begegnen zu können. Dann werden revolutionäre Veränderungen vielleicht auch auf friedlichem Wege möglich werden.
Der Autor hat das Institut für Internationale Beziehungen in Moskau (IMO) absolviert, arbeitet seit 1995 als Unternehmensberater für Existenzgründer sowie kleine und mittlere Unternehmen und lebt in Berlin.
Schlagwörter: demokratische Bewegung, Gerd Hainichsen, Gesellschaft, KPD, Linke, Parteien