von Joachim Lange
Zu einem Spielzeitauftakt Goethes „Faust“ auf die Bühne zu bringen, ist allemal ein Statement. Für die Sprache, das Erbe, das Theater, die Bildung. Wenn der bürgerliche Bildungskanon noch etwas gilt in all dem Gezwitscher aus selbstgemachten Kurzwahrheiten, dann gehört Goethes Hauptwerk immer noch dazu.
Wer es jedoch für eine Zumutung hält, nach (oder vor) dem Besuch einer neuen „Faust“-Befragung im Theater nochmal zum Text zu greifen, um Erinnerungen an einmal Erlerntes aufzufrischen, der kann hier aufhören zu lesen. Und sich den Besuch der beiden neuen Faust-Versionen in Halle und Leipzig schenken. Wer nicht, der hat in den beiden aktuellen Fällen ein Abenteuer vor sich. In Halle amüsiert es geistreich in kommoder Länge. Geschlagene sechs Stunden sind es in Leipzig. Aber auch hier besteht kein Absturzgefahr in Langeweile. Diese zufällige Parallelaktion mag dran liegen, dass früher oder später unvermeidlich jeden regieführenden Intendanten der Faust-Hafer sticht.
Brenner und Lübbe landen dabei irgendwo zwischen Peter Steins Vollständigkeits-Orgie und Frank Castorfs an genialische Publikumsquälerei grenzenden dekonstruierten Abschiedsgruß an die Berliner Volksbühne. Dabei verlassen beide die sicheren Pfade der Szenenabfolge Goethes und suchen ihren Lorbeer nicht allein in der Kondensation der Vorlage beider Teile auf ein mehr oder weniger konsumierbares Maß.
Brenner ist dabei deutlich schneller am Ziel. Er hat gemeinsam mit Ronny Jakubaschk eine eigene Fassung aus beiden Teilen gebastelt. Mit dem Ehrgeiz, sie zu verschränken, mit und in dem Text zu spielen, ihn leuchten zu lassen, zu unterhalten, Erkenntnisfunken zu schlagen und zu berühren. Es ist kein Zufall, wenn das Vorspiel auf dem Theater am Ende noch mal als Abräumer kommt und der verdutzte Mephisto vom wiedererstandenen Heinrich gejagt wird – zum Teufel kann man in dem Falle nicht sagen, weil er das ja selber ist.
Dazwischen entfaltet die Inszenierung einigen Charme mit ihrer Melange aus schwebender Leichtigkeit und mitgeliefertem Tiefgang. Nicolaus-Johannes Heyse hat die Spielfläche als Rampe steil an ein paar gewaltige Stufen gelehnt. In der Mitte mit einer Klappe für zusätzlichen Raum oder für Abgänge. Dieses bergan und -ab stellt hohe Anforderung an die Puste der Darsteller, die hier hin und her jagen, erweist sich aber als raffinierter Weg der Erkenntnis, der Komödie und der Schauspielkunst. Wobei auch der Zuschauer voll eingespannt ist. Und Verluste verschmerzen muss. Aus dem zweiten Teil sowieso, aber auch vom ersten Teil fehlt vieles. Keine Verjüngung – Faust bleibt, was er ist: ein junger Mann, der seine Überforderung zelebriert. Der ganze Hexenrummel fehlt und auch Auerbachskeller ist gestrichen.
Eine Überraschung sind die beiden Talente vom Schauspielstudio: Amelie Kriss-Heinrich wechselt spielend zwischen Wagner, Lieschen, Euphorion und Kriegskind. Aber auch Manuel Thiele meistert den Wechsel zwischen Schüler, Valentin und Euphorion souverän. Gleich zu Beginn taucht oben in der Höh der Hofstaat aus dem zweiten Teil auf. Nicoline Schubert (hier mal) als Kaiserin, Enrico Peters als Bischof, Michael Rothmann als Marschalk und Axel Gärtner als Narr. Die vier liefern auch noch die restliche Auswahl aus Goethes Faust-Tableau.
Im Zentrum steht das männliche Theaterpaar schlechthin: Hagen Ritschel übertrifft als langhaariger Spötter und dialektisch provozierender, schnell aber allzeit gut sprechender, sogar mal in eine Klaus Kinsky-Parodie abtauchendes, immer leichtfüßiges Mephisto-Ereignis die hohen Erwartungen, die die Hallenser eh mit ihrem Publikumsliebling verbinden. Und dass Bettina Schneider ihm als Frau Marthe auf den Fersen bleibt und alle Register zieht war auch klar.
Mit Nils Andre Brünning aber einen Schauspiel-Absolventen als Jung-Faust ins Rennen zu schicken ist schon abenteuerlich. Und auf beglückende Weise aufgegangen. Als Regisseur hat Brenner ihn im Optimum seiner schon jetzt beachtlichen Möglichkeiten geführt. Ohne den heute manchmal üblichen Überdruck ins Brüllen, mit einem eigenen inneren Instinkt für Goethes Partitur der Worte und Verse. Die Natürlichkeit und Qualität seiner Sprache ist beglückend! Man muss – sagen wir mal an Lars Leidinger (minus Starkeitelkeit) denken. Und das macht Spaß. Nora Schulte ist seine selbstbewusste, höchst glaubwürdige und aus eigenem Antrieb auf ihn abfahrende Margarete. Die Gretchentragödie hat man selten so nah erlebt.
Dieses Schauspielerfest verführt dazu, die Verschränkungen zwischen den Teilen für bare Goethe-Münze zu nehmen. Also das Geschenk, mit dem Faust Gretchen ködert, mit der der Erfindung des Papiergeldes zu verbinden. Oder das „Habe nun Ach“ des heutigen Zweiflers als Antwort auf die Gretchenfragen nach der Religion zu nehmen. Das kommt so, als müsste es an dieser Stelle so sein.
Die Leipziger Version fasziniert auf völlig andere Weise. Vor allem durch die Kombination verschiedener ästhetischer Formen. Für „Faust I“ schlägt Hausherr Lübbe mit der großen Regiepranke zu. Man wundert sich schon beim Programmzettel und sucht vergebens nach Mephisto. Den gibt es nämlich an diesem Abend auch auf der Bühne nicht. Dass ein suchender, irrender, auf Selbstverwirklichung verpichter bürgerlicher Mensch wie Faust, das Teuflische, sprich den Widerspruch, in sich trägt und Goethe die Ambivalenz des bürgerlichen Zeitalters sein Leben lang im Visier hatte, ist eine gut abgehangene Sekundärweisheit zum Faustischen im Deutschen. Aber das man ihn (beziehungsweise einen Teil seines Texts) auch als Theaterfigur in den Titelhelden projiziert bleibt der (sehr) hohe theatralische Preis bei Lübbes „Faust“-Annäherung. Die im ersten Teil vor allem eine an Margarete und den Preis der Frauen ist, den die für männlich dominierte Selbstverwirklichung und Triebbefriedigung zahlen. Die Szene am Brunnen „Hast nichts von Bärbelchen gehört?“ kommt wieder und wieder. Julia Preuß gelingt tatsächlich das Kunststück, Margaretes Schicksal ganz nah an unsere emanzipierte Gegenwart heranzuholen. Wenn sie am Ende allein vorm Vorhang steht, dann hängt das berühmte „Heinrich mir graut vor dir!“ in der Luft – ohne, dass die Worte gesprochen werden. Mit der Verspartitur geht Lübbe überhaupt geradezu tollkühn um. Wie er zum Beispiel den 34-köpfigen Chor choreografiert, ist hochvirtuos. Wenn der Osterspaziergang im Sprechsingsang mit Dirigentin irrlichtert, oder wenn dem Faust-Darsteller Wenzel Banneyer beim „Habe nun Ach“-Monolog die Vokale gestrichen sind, dann zieht das dem Abend, ziemlich raffiniert, eine zusätzliche Ebene ein: Die Auseinandersetzung mit der Rezeption des Nationalepos’ und seiner Degeneration zum Bildungsmythos.
Den Rahmen bildet eine Drehbühne mit ankippbarer Mittelscheibe und einem entsprechenden Riesenspiegel oben drüber. Dazu Kostüme von Sabine Blickenstorfer, die von der Entstehungszeit inspiriert sind.
Mit der Abfolge der Szenen bricht Lübbe. Immer wieder gibt es Wiederholungsschleifen von im Chor- oder kollektiv gesprochenen Passagen – Sorge, Mangel, Not und Schuld sind von Beginn an präsent. Wagner und der Schüler (gleich acht Schauspielstudenten) nerven und bedrängen jenen Faust, der seine Überforderung vom eigenen Anspruch und der Welt vor sich her trägt.
Nach der großen Pause gibt es (noch im Schauspielhaus) ein kurzes Zwischenspiel, das „Goethes Apartes“ Kistchen (das mit dem Faust-Manuskript) und den Dichterfürsten in Puppengestalt aus drei Lebensphasen mit dem Fräulein Göchhausen und Eckermann ins Gespräch kommen lässt, ein bissl was von einem Nachspiel auf dem Theater hat und das Publikum köstlich amüsiert.
Von da ab muss man sich entscheiden, ob man in der alten Handelsbörse etwas über die Erfindung des Papiergelds, in einem Anatomiehörsaal der Uni über „Schöpfungsträume“ oder am Völkerschlachtdenkmal etwas übers Umsiedeln erfahren will. Die Mini-Talkshow zwischen Kirchenfrau und Wirtschaftshistoriker in der Handelsbörse – nun ja: Goethe kann man mit hingeplauderter Populärwissenschaft nicht so leicht übertreffen. Aber egal. Ein Quantum Volkshochschule und Stadtführung schadet ja nie. Zurück im Theater gibt es dann noch mal eine Dreiviertel Stunde Faust II in der radikalen Ästhetik von Faust I.
Schüler, die in Halle oder Leipzig darauf spekulieren, sich durch einen Theaterbesuch die Lektüre zu ersparen, haben Pech – sie müssen schon noch mal ran. Sie haben aber auch Glück, denn eine so lustvolle Aufforderung dazu wie diesmal gibt es nur selten.
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