von Ulrich Busch
Seit der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise praktizieren die Zentralbanken eine Politik des billigen Geldes. Ausdruck dessen ist eine beispiellose Ausweitung der Geldmenge und ein historisch niedriges Zinsniveau. Dadurch konnte verhindert werden, dass die Weltwirtschaft nach dem Finanzcrash von 2008 kollabiert ist. Zudem ist es inzwischen gelungen, in einer Reihe von Volkswirtschaften einen moderaten Aufschwung herbeizuführen.
In den USA und in Großbritannien wurde deshalb inzwischen eine Zinswende eingeleitet. Nicht aber im Euro-Raum, obwohl sich auch hier mittlerweile einige Staaten, darunter Deutschland, in einer Hochkonjunktur befinden. Die Europäische Zentralbank hält trotz immer lauter werdender Forderungen nach einer Beendigung der Niedrigzinspolitik bis auf weiteres daran fest, was insbesondere für die deutschen Sparer mit erheblichen finanziellen Verlusten verbunden ist. Wie ist dies zu erklären?
Die privaten Haushalte in Deutschland verfügen derzeit über ein Geldvermögen von rund sechs Billionen Euro. Dem stehen Verbindlichkeiten in Höhe von 1,7 Billionen Euro gegenüber, woraus sich ein Nettogeldvermögen von 4,3 Billionen Euro errechnet. Diese Größen unterliegen nun ökomischen Einflüssen, insbesondere der Verzinsung, der Inflation und der Steuer. Zudem verteilt sich das Geldvermögen auf diverse Anlageformen, was als Portfoliostruktur erscheint. Welchen Effekt die Geldpolitik nun auf die Vermögenslage der Bevölkerung hat, lässt sich anhand der Entwicklung der realen Gesamtrendite darstellen. Diese wird von drei Faktoren bestimmt: von den nominalen Zinsen (Rendite), der Inflationsrate und der Portfoliostruktur.
Normalerweise übersteigen die nominalen Zinssätze die Inflationsrate, so dass für fast alle Anlageformen unterm Strich eine positive reale Rendite zu verzeichnen ist. Dann zahlt sich für die Bevölkerung das Sparen finanziell aus, sonst eher nicht. Mit der Absenkung des allgemeinen Zinsniveaus rutschte die reale Rendite für Sparbücher, Tagesgeld, Festgeld und ähnliche Anlageformen schon bald nach 2008 unter null. Die Gesamtrendite war aber noch positiv, solange das Preisniveau stabil blieb und Kursgewinne am Kapitalmarkt erzielt wurden. 2016 betrug sie +0,9 Prozent, 2017 sogar +1,4 Prozent. Inzwischen aber ist die Inflation angestiegen und sind die Kurseffekte bei Wertpapieren passé, so dass nunmehr, erstmals seit vielen Jahren, die Gesamtrendite mit -0,8 Prozent ins Negative abgerutscht ist.
Dies bedeutet, dass die privaten Haushalte 2018, bezogen auf das Gesamtvermögen, einen finanziellen Verlust realisieren – zum einen durch die Inflation von 2,0 Prozent, , zum anderen durch Niedrigzinsen und Kursverluste, die die Inflation nicht mehr ausgleichen und woraus sich eine insgesamt negative reale Rendite errechnet.
Das trifft natürlich nicht alle Haushalte gleichermaßen: Hauptverlierer sind die Sparer, die Girokonten- und Sparbuchbesitzer und die Halter von Bankeinlagen. Dazu kommen die Versicherungssparer und zuletzt auch die Aktien- und Fondsanleger.
Neben dem unmittelbaren Einnahmeverlust der privaten Haushalte infolge der Niedrigzinspolitik, der für die Jahre 2010 bis 2017 im Vergleich zur Vorperiode auf 436 Milliarden Euro geschätzt wird, ist der Wertverlust der Geldvermögen infolge steigender Inflationsraten zu sehen. Ein Prozent Inflationsanstieg bedeutet bei einem Bruttogeldvermögen von rund sechs Billionen Euro immerhin eine Einbuße von 60 Milliarden Euro. Und das jedes Jahr. Mit jedem Zehntel Prozent, um das die Inflation anzieht, schmilzt die Kaufkraft der Geldvermögen dahin wie ein Alpengletscher durch die Erderwärmung. Es gilt dabei jedoch zu berücksichtigen, dass fast die Hälfte der Bevölkerung gar kein nennenswertes Nettogeldvermögen besitzt, weil ihre Verbindlichkeiten ihre Forderungen übersteigen, sie vor allem Immobilien- oder Produktivvermögen haben oder sie schlichtweg zu arm sind, um überhaupt Vermögen zu akkumulieren. Diese Haushalte leiden nicht unter der Niedrigzinspolitik beziehungsweise profitieren sogar davon, indem sie für ihre Kredite kaum etwas bezahlen müssen.
Auf der Verliererseite stehen aber nicht nur private Geldvermögensbesitzer und Sparer, sondern auch Versicherungsgesellschaften, Sozialkassen, Kirchen und andere Einrichtungen, denen eine spekulative Anlage ihrer Gelder untersagt ist, sowie monetäre Finanzinstitute, also Banken und Sparkassen, die ihre Gewinne aus dem Einlagen- und Kreditgeschäft ziehen und für welche das Zinsergebnis die wichtigste Komponente der operativen Erträge bildet.
Wo es Verlierer gibt, müssen aber auch Gewinner auszumachen sein. Das heißt, was den Sparern und anderen Gläubigern an Zinseinnahmen entgeht, kommt dem Staat, den Unternehmen und anderen Schuldnern zugute, indem sie Geld für Zinsausgaben einsparen.
Eindeutige Gewinner der Niedrigzinspolitik sind die Staatshaushalte, insbesondere dann, wenn sie hoch verschuldet sind. So hat allein in Deutschland der Bund seit 2008 162 Milliarden Euro beim Schuldendienst eingespart, Mittel, die nun für andere Verwendungen zur Verfügung stehen. Insgesamt beläuft sich die durch die Niedrigzinsen zu verzeichnende finanzielle Entlastung der Staaten im Euro-Raum für die Jahre 2008 bis 2017 kumuliert auf über eine Billion Euro oder gut zehn Prozent des BIP. Das ist ein gewaltiger Effekt, der weit mehr Aufmerksamkeit verdient, als ihm gegenwärtig entgegen gebracht wird.
Ferner sind es nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften, also Unternehmen, die von der Niedrigzinspolitik massiv profitieren, da sie in der Regel mehr Verbindlichkeiten als Forderungen in ihren Büchern zu stehen haben. Darüber hinaus sind es alle übrigen Wirtschaftssubjekte, sofern sie Nettoschuldner sind und/oder in ihrem Portfolio vor allem Sachvermögen, also Immobilien und Produktivkapital, halten. Sie haben daher ein Interesse an der Beibehaltung des niedrigen Zinsniveaus, möglichst noch kombiniert mit einer steigenden Inflationsrate, wodurch es ihnen möglich ist, sich nicht nur billig zu finanzieren, sondern zudem auch noch ohne eigenes Zutun zu entschulden.
Langfristig betrachtet dürfte der Haupteffekt der Niedrigzinspolitik in Verbindung mit der Geldmengenexpansion und einer anziehenden Inflation deshalb ein Umverteilungseffekt sein, bei dem die Eigner von Nominalvermögen, große wie kleine, kräftig verlieren, während die Schuldner, institutionelle wie private, ordentlich dazugewinnen, sich entschulden und ihre Vermögensposition ausbauen können.
In welchem Grade das jeweils zutrifft, hängt vom Konjunkturverlauf und von der Entwicklung des Preisniveaus ab. Die Zinsen sind dabei nur eine Komponente, deren Wirkung im Kontext komplexer volkswirtschaftlicher Zusammenhänge gesehen werden muss. Welche Effekte dabei überwiegen und ob dies insgesamt für eine Volkswirtschaft letztlich vorteilhaft oder nachteilig ist, hängt von vielen Faktoren ab und lässt sich nur unter Berücksichtigung realwirtschaftlicher Prozesse und Wirkungen beurteilen.
Mehr und ausführlicher dazu in: Berliner Debatte Initial, Heft 3/2018.