von Jan Opal, Gniezno
Pünktlich zum Ende der langen Sommerferien wies Jarosław Kaczyński dem polnischen Wahlvolk die Richtung: Seine Partei möchte auch nach dem bevorstehenden Wahlmarathon die Geschicke im Lande ungeteilt bestimmen. Im Herbst werden in Polen die sogenannten Selbstverwaltungskörperschaften auf Lokal- und Regionalebene gewählt, im nächsten Frühjahr stehen die Wahlen zum Europäischen Parlament an, im Herbst 2019 folgen die Parlamentswahlen, schließlich wird im Frühjahr 2020 in einer Direktwahl über das Amt des Staatspräsidenten befunden.
Kaczyński betonte außerdem, dass die Bürger des Landes in der Europäischen Union bleiben wollten, denn zur EU gebe es in Europa derzeit keine vernünftige Alternative. Die Mitgliedschaft Polens sei außerdem der kürzeste Weg, um Gleichheit bei den Einkünften und beim Lebenskomfort zu erreichen. Dabei müssten die Polen verschiedene Erblasten schleppen, die in Westeuropa unbekannt seien. In erster Linie geht es ihm dabei um die Folgen der deutschen Okkupation im Zweiten Weltkrieg und um den sowjetischen „Kommunismus“, der bis 1989 geherrscht habe. Allerdings dürfe diese Vision, nun den Westen zu erreichen, nicht bedeuten, dass Polen zugleich die Fehler des Westens wiederhole. Das Land dürfe sich nicht mit den dort verbreiteten gesellschaftlichen Krankheiten anstecken. So warnte der Chef der Nationalkonservativen am 1. September, nachdem er aus Krankheitsgründen mehrere Monate zum Schweigen gezwungen war.
Gesellschaftliche Krankheiten des Westens? Dazu erklärte sich Kaczyński nicht weiter, doch in der eigenen Anhängerschaft wird zustimmend genickt, denn denen ist längst klar, was Polens starker Mann im Blick hat. Zuvorderst geht es um die Abtreibung – die Regierung steht unter starkem Druck des erzkonservativen Flügels in der Hierarchie der katholischen Kirche. Längst hat Polen ohnehin ein Abtreibungsrecht, das zu den rigidesten in der EU zählt. Offiziell gibt es pro Jahr etwas mehr als 1000 legal vorgenommene Schwangerschaftsabbrüche, die Dunkelziffer ist allerdings sehr viel höher. Frauenrechtsorganisationen schätzen, dass jährlich etwa 80.000 bis 100.000 Frauen aus Polen einen solchen Eingriff vornehmen lassen, zum allergrößten Teil in ärztlicher Obhut außerhalb der Landesgrenzen. Diese Ziffer ist großen Teilen des Episkopats ein Dorn im Auge, weshalb die Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) bereits zweimal versuchte, das Schlupfloch zu schließen. Personen, die an einem in Polen nicht legalen Schwangerschaftsabbruch beteiligt sind, sollte Strafe angedroht werden, soweit es sich um polnische Bürger handelt oder das Territorium des Landes eine Rolle spielt. Das rief im Oktober 2016 und im zeitigen Frühjahr 2018 Frauenrechtlerinnen auf den Plan, die landesweit von Hunderttausenden Frauen unterstützt wurden. Deren Proteste bereiteten den Nationalkonservativen die bislang spektakulärsten Niederlagen seit dem Regierungsantritt vor drei Jahren.
Zu den Krankheiten des Westens zählt auch die Regenbogenfahne. Nach einem Marsch für Gleichheit unter dem weltbekannten Symbol für Toleranz und Freiheit, der im Sommer in Poznań stattgefunden hatte, meldete sich postwendend Polens Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak zu Wort, der ungeniert meinte, wieder einmal machten Sodomiten die Straßen polnischer Städte unsicher. Ihm pflichtete Innenminister Joachim Brudziński bei, der einen ähnlichen Fall in Częstochowa für eine „offensichtliche kulturelle und religiöse Provokation“ hielt. Beide Minister gelten im Regierungslager als Kaczyńskis treueste Gefährten. Nicht wenige Kommentatoren im liberalen Teil der Medienwelt wiesen darauf hin, dass Minister mit solchen Ausfällen in anderen EU-Mitgliedstaaten zurücktreten müssten. Doch in Polen fehlt der entsprechende öffentliche Druck, was Kaczyński ungeniert auszunutzen sucht.
Schließlich bleibt die Frage der Immigration und der Aufnahme geflüchteter Menschen in den EU-Staaten. Kaczyński-Polen zeigt allen Versuchen die kalte Schulter, die komplizierte Frage im Sinne der Gemeinschaft zu lösen. Triumphierend behauptet Kaczyński sogar, die übrigen EU-Mitglieder schwenkten zunehmend auf den ablehnenden Kurs Warschaus ein, er vertrete also die „europäische Mehrheitsmeinung“, während andere – er meint in erster Linie Angela Merkel – sogar in ihren eigenen Ländern unter politischen Druck gerieten und ihre harte Linie aufweichen müssten. Wieder sieht sich das Kaczyński-Lager im verlässlichen Bunde mit Positionen, wie sie mehrheitlich in der katholischen Kirche Polens vertreten werden.
Als ein Wink mit dem Zaunpfahl versteht sich auch folgender süffisanter Hinweis des heimlich-unheimlichen polnischen Staatsführers an das Wahlvolk: Wenn die regionalen und lokalen Selbstverwaltungskörperschaften nach den Wahlen politisch näher am Regierungslager wären als bislang, werde das nicht zum Schaden für die Gemeinden, Kreise oder Wojewodschaften sein. Die Opposition spricht von Erpressung, sie weiß um den Ernst der Situation.
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