von Dieter Naumann
Schon vor 1933, im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, wurden Stadtkinder zur Erholung in ländliche Gebiete verschickt, bald unter dem Namen „Kinderlandverschickung“ (KLV). Heute wird darunter die „Erweiterte Kinderlandverschickung“ verstanden, die ab September 1940 auf Befehl Hitlers durch Reichsjugendführer Baldur von Schirach geleitet, inhaltlich durch die Hitlerjugend (HJ) verantwortet und zusammen mit den Schulen realisiert wurde.
Mit der neuen Bezeichnung sollte der Bevölkerung suggeriert werden, dass es sich lediglich um eine Erweiterung bereits bekannter Erholungsmaßnahmen durch „Mutter-Kind-Verschickung“ (für Mütter mit Kleinkindern bis zu drei, später sechs Jahren), Verschickung zu Verwandten oder in Familienpflegestellen (für Kinder von sechs bis zehn Jahren) und – für die zehn – bis vierzehnjährigen Kinder – in die KLV-Lager handelt. Dementsprechend zeigten Werbeplakate fröhliche Kinder unter dem Slogan „Erholung, Freude, Gesundheit durch die erweiterte Kinderlandverschickung“, Presse, Rundfunk und Kino warben für die anfangs freiwillige Aktion.
In Wahrheit war die massenweise Evakuierung eine Reaktion auf die schweren Luftangriffe im August 1940 und die zunehmende Bedrohung der „luftgefährdeten“ Großstädte. Die Nazis glaubten, aus der Not eine Tugend machen zu können: Die Kinderlandverschickung konnte propagandistisch ausgeschlachtet und für ideologische Beeinflussung und paramilitärischen Drill der Jugendlichen in den KLV-Lagern ausgenutzt werden. Die Mütter wurden für den Arbeitskräftebedarf in der Rüstungsindustrie freigestellt, ihnen und den Vätern im „Feld“ wurde die Sorge um ihre Kinder an der „Heimatfront“ genommen. Tatsächlich war es einerseits beruhigend, die Kinder an einem sicheren Ort zu wissen, andererseits wollte man sie lieber bei sich oder nahen Verwandten unterbringen. Die letztlich nur formal freiwillige Verschickung in KLV-Lager fand deshalb trotz kostenloser Unterbringung sowie ungestörten Schlafs und Unterrichts der Kinder immer weniger Anklang.
Für viele der zehn- bis vierzehnjährigen Kinder trug die mindestens sechsmonatige Evakuierung in eines der KLV-Lager den Charakter eines Abenteuers, geprägt durch den Aufenthalt in der Gruppe an einem bis dahin unbekannten Ort, bei den Jungen verbunden mit Geländespielen und Wettkämpfen bis hin zu Wehrertüchtigungslagern, während bei den getrennt untergebrachten Mädchen Singspiele, Reigentänze oder Märchenspiele sowie Näh- und Gartenarbeiten im Vordergrund standen. Zum anderen bedeutete der Aufenthalt aber häufig auch erstmalige Entfernung von den Eltern und der gewohnten Umgebung sowie Ungewissheit, wie es den Daheimgebliebenen oder den Vätern an der Front ging (Briefwechsel und Besuche waren erlaubt, aber teilweise zensiert und reglementiert). Aus zwei vorliegenden Dokumenten aus Selliner KLV-Lagern geht auch die Unsicherheit über die Aufenthaltsdauer hervor, die oft willkürlich verlängert wurde.
Der ungewohnt streng geregelte Tagesablauf nach Plänen der „Reichsdienststelle KLV“ beinhaltete Drill, oft bis zur Belastungsgrenze (besonders für die HJ-Mitglieder). Ungeeignete Bezugspersonen (Lehrer, die gegen ihren Willen abgeordnet wurden, unreife, fanatische oder schlicht sadistisch veranlagte Lagermannschaftsführer aus der HJ) und Unzulänglichkeiten bei Unterkünften, Hygiene und Verpflegung kamen in Einzelfällen hinzu. In vielen Fällen versuchten jedoch ernsthaft um das Wohl der Kinder besorgte Hotel- und Pensionseigentümer, Lehrer und in Einzelfällen abgeordnete Frauen und nicht kriegsdienstverpflichtete Erwachsene die Trennung von Eltern, Geschwistern und Heimat zu erleichtern, nicht zuletzt durch oft ausreichende und schmackhafte Ernährung trotz kriegsbedingter Rationierung.
Dementsprechend unterschiedlich fielen die Berichte der Kinder an ihre Eltern und Geschwister und die späteren Erinnerungen ehemaliger KLV-Lagerinsassen aus. Sie reichen von der Schilderung als unbeschwertes Zusammenleben in der Gemeinschaft Gleichaltriger bis zur seltenen Beschreibung traumatischer Erlebnisse durch Demütigung, Schikanen, Drill und Heimweh.
Für die Lehrer bedeutete die Tätigkeit in den KLV-Lagern zumeist Umzug (oft unter Zurücklassung der Familie, zu der nur brieflicher oder telegrafischer Kontakt bestand), Probleme bei der Unterkunftsbeschaffung, Auseinandersetzungen mit privaten Vermietern, Abstimmungsprobleme zwischen den örtlichen und den evakuierten Schulen, Meinungsverschiedenheiten mit den Behörden bezüglich der Bezüge und Dienstreisekosten. Sowohl die Lehrer als auch die Schüler berichten in ihren Erinnerungen selten von politischer Indoktrination oder bestreiten sogar eine ideologische Beeinflussung während des Lageraufenthaltes. In Untersuchungen wird darauf verwiesen, dass viele der Zeitzeugen schon vor ihrem Lagerleben systemkonforme Einstellungen und Normen verinnerlicht und daher die ideologische Ausrichtung des Lageraufenthaltes nicht als ungewöhnlich wahrgenommen hätten.
1941, verstärkt ab Mitte 1943 – inzwischen werden ganze Schuljahrgänge evakuiert – wurde Rügen zu einem Aufnahmegebiet für Schüler vor allem aus Westfalen, Berlin und Stettin, bald auch aus luftgefährdeten vorpommerschen Städten (Anklam, Stralsund). Den Schwerpunkt bildeten Hotels, Pensionen und Herbergen in Sellin, Baabe, Binz, Göhren und Bergen; allein aus Binz sind mindestens 27 Häuser bekannt, die Schüler aus Lübeck, Oberhausen, Stettin und Berlin aufnahmen und verpflegten. Erinnerungen einiger damals elf- bis zwölfjähriger Schülerinnen der Stettiner Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule an den KLV-Aufenthalt in Sellin konnten mit freundlicher Genehmigung durch den Ortschronisten eingesehen werden:
Ende April 1943 begann die zunächst nur bis Ende der Sommerferien vorgesehene, tatsächlich aber rund zwei Jahre andauernde Evakuierung der Schule, zunächst nach Anklam zur Unterbringung in Familien (so genannte offene KLV-Lager); nach dem Luftangriff auf Anklam am 9. Oktober 1943 erfolgte die endgültige Verlegung nach Sellin. Lagerleitung und Betreuung lagen in den Händen eines bei den Schülerinnen beliebten Musiklehrers, unterstützt durch ein HJ-Lagermädel und zwei achtzehnjährige Unterführerinnen aus der Oberprima. Die Unterbringung erfolgte in der Pension Seeschloss, die Schulkameradinnen kamen in andere Selliner Pensionen und Hotels, wobei der Kaiserhof als „chic“ galt, während ein Haus wegen des undichten Daches nur als „Bruchbude“ bezeichnet wurde.
Das jeweilige „Mädchen vom Dienst“ war verantwortlich, die Schülerinnen nach dem Frühstück zum Morgenappell zu „scheuchen“ und abends den obligatorischen Frontlage- und Pressebericht zu halten. Die verschiedenen unter Aufsicht durchgeführten Dienste (Küchendienst, Brotholen vom Bäcker mit dem Handwagen, Krankendienst, Postdienst und im Winter Ofendienst – „mit Briketts und Kohlen mußte gegeizt werden“) waren mehr oder minder beliebt. Das galt auch für die Stopf- und Flickstunden, das Schuheputzen und ähnliche Arbeiten, die bei den obligatorischen Zimmerappellen kontrolliert wurden. Zahlreiche Sportwettkämpfe fanden mit dem Ziel der Erlangung des Leistungsabzeichens statt, wobei mangels Aschenbahn auf der Baaber Chaussee gelaufen wurde. Der Sportplatz diente zugleich als Aufmarschplatz für Großveranstaltungen. Über die Verpflegung geben die Berichte nur wenig Auskunft, so ist abends von „Milchsuppe in Variationen“ die Rede, an einem Tag gab es nach einer Wanderung mit Beerensuche Kartoffelklöße mit Blaubeeren; hin und wieder schickten die Eltern Kuchenmarken oder brachten bei Besuchen Esswaren mit.
Kontakt mit der Heimat gab es außer bei Heimfahrten während der Ferien und Besuchen nur durch den Postverkehr, wobei die mit rotem Rand versehenen portofreien Eilkarten für Mitteilungen an Angehörige nach Luftangriffen mit besonderer Spannung, aber auch Angst erwartet wurden. Die Weihnachtsgeschenke für die Schülerinnen, die sogar am Heiligabend in Uniform erscheinen mussten, wurden von Stettin per Schiff durch den Kleinschiffer Wittmiß angeliefert. Im Herbst zogen die Mädchen aus dem Seeschloss in das Haus am Meer um, in dem die Leiterin der KLV Sellin ihren Sitz hatte. Das Zimmer der Mädchen befand sich ausgerechnet zwischen Büro und Wohnung der Leiterin. Dadurch und weil der beliebte Musiklehrer inzwischen eingezogen wurde, ging es jetzt sehr viel strenger zu, Strafen wegen geringster Vergehen häuften sich. Im Februar/März 1945 – längst war die Oder „Hauptkampflinie“ – holten viele Mütter ihre Kinder aus dem Lager, im April tagte der KLV-Rat im Speisesaal des Hotels am Meer und beschloss die Verlegung des Lagers nach Neustadt in Holstein.
Schlagwörter: Dieter Naumann, Faschismus, Kinderlandverschickung, Krieg, Rügen