21. Jahrgang | Nummer 16 | 30. Juli 2018

Noch immer voller Emotionen

von Ingeborg Ruthe

Wenn Kunst aus DDR-Zeiten gezeigt wird, gibt es jedes Mal heftige Debatten. Aber auch, wenn sie nicht gezeigt wird, ist etwas los. Ausgerechnet Dresdens Kunstsammlungen sind im Ost-West-Bilderstreit spät dran und holten die Werke endlich auch aus dem Depot.

Beinahe schien es, als seien die heftigen Streitereien, seien die unbehaglichen und auch verächtlichen, daher oft verletzenden Debatten vorbei. Als sei endlich abgerüstet worden in den klirrenden Klischee-Arsenalen: Ostkunst = Staatskunst, sozialistischer Realismus, also unfrei, eng, bieder, idealistisch, angepasst. Hingegen Westkunst = frei, zeitgeistig, kosmopolitisch, unangepasst. Ergo wertvoll.
Wie wir sehen, ist das alles eben nur beinahe vorbei. Soeben noch gärte der Unmut in Dresden, einst eines der DDR-Zentren der dazumal hoch angesehenen bildenden Kunst. Die Emotionen kochten hoch an der Elbe, im wahrsten Sinne des Wortes wegen der weitgehend ostkunstlosen Säle des Albertinums an der Brühlschen Terrasse dicht oberhalb des Elbestroms.
Da war er wieder: der Ost-West-Bilderzoff. Der an einem Forschungszentrum der Technischen Universität angesiedelte Kunstwissenschaftler Paul Kaiser kritisierte öffentlich, dass die renommierte Galerie Neue Meister im Albertinum die Kunst aus Ostdeutschland bis 1990 zugunsten von Kunst aus dem Westen weitgehend aus ihrer Ausstellung ins Depot entsorgt habe. Touristen aus anderen Ländern müssten den Eindruck gewinnen, dass es die DDR nie gegeben habe. Und dieser Zustand bestehe in Zeiten, in denen andere Museen des Ostens dieses kunsthistorische wie auch ästhetische Manko längst besseren Wissens revidierten und einordneten. Auf einmal gab es in der Sächsischen Zeitung und anderen Blättern republikweit wieder die alten und neue Debatten.
Flugs reagierte das Dresdner Albertinum, holte Malerei und Plastik der DDR-Ära aus den Magazinen. Die 2014 angetretene, aus der Documenta-Stadt Kassel stammende Direktorin Hilke Wagner machte, wie nun alle Welt sehen kann, schleunigst ihre Hausaufgaben. Sie hatte deutlich registriert, dass Dresdens Kunstpublikum das Albertinum mied. Und sie hatte das Schimpfen der Dresdner verstanden, weil die vertrauten, auch beliebten Kunstwerke, oft Begleiter ganzer Lebenswege, nicht mehr zu sehen waren.
Wagner und andere Kulturarbeiter der Stadt luden zu Podien. Auf denen wurde mehr und mehr die Frage nach Identität auch im Hinblick auf die Kunst der untergegangenen DDR gestellt. Den Museumsleuten wurde vorgeworfen, die politischen, gesellschaftlichen Veränderungen würden nur aus Westperspektive betrachtet, beschrieben und bewertet. Die Positionen der Ostkünstler der ersten Nachkriegsjahre sowie aus 40 Jahren DDR kämen nicht zu Wort. Wie aber sollte das Publikum ohne diese Grundlage – aus Anschauung und Erfahrung – nun all jene bislang unbekannte internationale Kunst goutieren, verstehen und mögen, die seit über zwei Jahrzehnten die Säle der Galerie Neue Meister füllt?
Albertinum-Direktorin Wagner sieht nun in der großen, wahrhaft facettenreichen Ausstellung von Ost-Kunstwerken einen längst fälligen Beitrag zum Bilderstreit. Es ist eine Schau aller Stilarten von figürlich, gegenständlich bis ungegenständlich und abstrakt, egal ob Auftragswerk oder frei entstanden, gleich ob ideologisch aufgeladen oder mit gesellschaftskritischem, ja subversivem Inhalt. „Es ist unsere Chance, alles auf den Tisch zu legen”, so Wagner: Das Unausgesprochene, das Verschwiegene, das Missverständliche. Das Unbehagliche, das Unfaire. Eben auch die westlichen Vorurteile. Die Forderung nach Präsenz ostdeutscher Kunst in den Museen sei berechtigt, resümiert die 42-jährige Kunsthistorikerin und wirbt für eine differenzierte Betrachtung.
Ohne hier allzu sehr ins Detail zu gehen, muss gesagt sein: Das Publikum bekommt einen intensiven Eindruck von der Vielfalt der DDR-Kunst. Es begegnet Bekanntem und auch Unbekanntem. Die Besucher sehen ihre einstigen Publikumslieblinge wie das als Kopie tausendfach in Jugendzimmern hängende Gemälde Walter Womackas, dieses idealisierte, liebliche, damit seinerzeit in der Ulbricht-Ära ideologisch weichgespülte „Paar am Strand”. Oder den niedlichen „Peter im Tierpark”, ein typisches harmlos-schönes Kinderzimmerbild, von Harald Hakenbeck.
Die Liste prominenter Maler reicht von Hans Grundig, der den Opfern des NS-Regimes berührende Denkmale setzte, dem expressiven Menschenmaler Theodor Rosenhauer, dem erst spät akzeptierten Konstruktivisten Hermann Glöckner, bis zu dem expressionistischen Hubertus Giebe. Man steht vor Bildern solch sensibler Realisten wie Hans Jüchser und Wilhelm Rudolph, begegnet der „Alten Leipziger Schule“ mit Werner Tübke, Wolfgang Mattheuer, Bernhard Heisig, Arno Rink. Und da sind auch die „Jungen Wilden” der 80er-Jahre mit Angela Hampel und der enttäuscht und frustriert in den Westen ausgereisten, heute international erfolgreichen Cornelia Schleime.
Die 140 Bilder und 30 Plastiken sind nach Ankaufsjahren geordnet. So wird nebenbei auch von der mehr oder weniger ideologisch gelenkten Erwerbungspolitik zu DDR-Zeiten und danach erzählt. Beispielsweise hatte das Albertinum die Abstraktionen von Hermann Glöckner zunächst nicht angekauft. Ebenso fehlen frühe Arbeiten von A. R. Penck, der von Dresden aus die Bildsprache revolutionierte und schließlich entnervt in den Westen ging. Offensichtlich werden auch Lücken im Bereich Film und Aktionen, etwa bei den Autoperforationsartisten. Diese experimentiermutige Dresdner Gruppe um Via Lewandowsky, Else Gabriel und Micha Brendel veranstaltete 1985 bis 1989 subversive theatralische Performances, die provozierten, den offiziellen DDR-Kunstbetrieb unterliefen und selbstredend von der Stasi fleißig observiert wurden.
Der Umgang mit dem künstlerischen Erbe der DDR-Zeit ist, wie es sich nach ausgewogenen Ausstellungen in Weimar („Abschied von Ikarus“), in der Berliner Nationalgalerie, im Martin-Gropius-Bau, jüngst im Potsdamer Museum Barberini und ebenso im Leipziger Museum der Bildenden Künste durch die begleitenden Debatten erwies, auch 29 Jahre nach dem Mauerfall ein hitziges Thema. Die Kontroverse betraf seit 1990 übrigens alle ostdeutschen Museen, gerade in einstigen Kunstzentren von Berlin über Dresden und Halle bis Rostock, Cottbus und Leipzig.
In Dresden aber schwelte der Diskurs zuletzt besonders heftig. Das Albertinum war als Galerie Neue Meister zehnmal Austragungsort der zentralen Kunstausstellungen der DDR. In gewisser Weise ist die jetzige Albertinum-Schau also auch ein Spiegel der Erinnerungen. Weit über eine Million – freiwilliger! – Besucher hatten die letzte DDR-Schau von 1987/88 gesehen. Und warum wohl kamen damals die Massen und kauften die dicken Kataloge? Und wieso vermissen viele Kunstfreunde von damals heute all diese Bilder?
Es waren Wegbegleiter, und es galt als ausgemacht, dass viele Künstler damals in ihren Arbeiten ebenjene Themen und Probleme verhandelten, die in Zeitungen, Fernsehen und im Rundfunk nicht stattfanden, „weil nicht sein kann, was nicht sein darf”, wie es im Volksmund heißt. Die Kunst wurde zum Stellvertreter, man darf auch sagen, zur Krücke in der gärenden Stimmung im Lande unter der Käseglocke des vormundschaftlichen Staates. Sie bekam, man nehme nur Wolfgang Mattheuers „Die Flucht des Sisyphos“, eine gleichnishafte Bedeutung für die paradoxe Situation der Werktätigen, die doch die herrschende Klasse darstellen sollte. Und damit war der Kunst eine Rolle auferlegt, die sie auch heillos überfordern musste.
Aber kaum war die Tinte auf den Dokumenten am 3. Oktober 1990 trocken, da begann der Ost-West-Bilderstreit. Die großen Museen auf einstigem DDR-Gebiet schafften die Kunst seit 1945 bis 1990 zumeist in die Depots. Man zeigte Neues, Internationales, wollte mithalten im globalen Trend. Und wo es seit Anfang der 90er-Jahre bis heute etliche große und kleine, faire und weniger faire Ausstellungen mit Kunst aus dem verschwundenen Land gab, folgte Streit, empörten sich Künstler und Publikum aus dem Osten, hagelte es Häme aus dem Westen, es seien „Diskurse der Gekränkten“, schrieb eine Zeitung aus Süddeutschland.
Es gehörte eine Menge Courage dazu, dass das Museum Junge Kunst in Frankfurt (Oder) souverän an der jungen Kunst aus dem Osten festhielt, denn ausschließlich daraus bestand seine Sammlung. Und Ingrid Mössinger, die aus dem Westen gekommene Direktorin der Chemnitzer Kunstsammlungen, setzte eine Mattheuer-Schau durch und richtete dem viel zu spät entdeckten Annaberger Zeichnerphilosophen Carlfriedrich Claus ein inzwischen bei Wissenschaftlern aus der ganzen Welt gefragtes Archiv ein. Als der einstige, früh verstorbene Berliner Nationalgalerie-Chef Dieter Hönisch es Mitte der 90er-Jahre wagte, im Mies-van-der-Rohe-Bau die namhaftesten Gemälde der BRD-Kunst mit Werken aus der DDR zu konfrontieren, bestellte ihn die CDU zur ideologischen Anhörung vor dem Kulturausschuss ein.
28 Jahre sind eine lange Zeit, offensichtlich jedoch zu kurz, um den Dissens durchweg sachlich und gerecht zu klären. Der Bilderstreit, das glaubte zunächst auch ich, schien zuletzt fast verebbt. Es vermisste ihn auch keiner, so fruchtlos bis peinlich ideologisch, wie er meist war. Ohnehin hatte die Berliner Nationalgalerie 2003 mit „Kunst aus der DDR“ gezeigt, dass es sich lohnt, mit den Augen zu sehen statt mit den Ohren. Dem wissenschaftlich beigelegten Streit folgte im Leipziger Museum der Bildenden Künste die „Konferenz der Bilder“ – versöhnliche Prämissen für den Umgang mit Malerei aus dem einst geteilten Land. Die Konzeption stützte sich sogar auf die kühne These, es habe bis 1989 auf den Leinwänden in Ost und West viel mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen gegeben.
Inzwischen ahne ich, es muss noch viel Zeit vergehen. Es bedarf eines Publikums, Kunstkritiker, und vor allem auch Künstler, die keine Gräben mehr wollen, die Akzeptanz mit Interesse und Toleranz mit historischer Kenntnis verbinden. Albertinum-Chefin Wagner sagt, sie wolle „Aufklärungsarbeit leisten”. Und sie weiß natürlich, dass man von ihr erwartet, in einer künftigen Dauerausstellung auch sehr viel Ostkunst zu präsentieren.

Dresden, Albertinum, Brühlsche Terrasse: „Ostdeutsche Malerei und Skulptur 1949–90“. Bis 6. Januar 2019. Di–So 10–18 Uhr.

Berliner Zeitung, 07./08.07.2018. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.