21. Jahrgang | Nummer 15 | 16. Juli 2018

Die Republik Belarus: zwischen den Stühlen?

von Frank Preiß

Es ist schon einen Vermerk im Kalender wert, wenn hiesige Massenmedien ausführlich über Weißrussland (Belarus) berichten.
Zur Eröffnung der Gedenkstätte Maly Trostenez reisten der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der österreichische Präsident Alexander van der Bellen an, um gemeinsam mit dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko einen weiteren Ort des Gedenkens für die Opfer des deutschen Faschismus und Militarismus in Belarus einzuweihen.
Während sich die Meldung in der Frankfurter Allgemeinen vom 29.06. betont knapp gab, vermittelte der Autor Paul Starzmann in den Potsdamer Neusten Nachrichten am gleichen Tag eine ungewohnt differenzierte Sicht auf Belarus und dessen Präsidenten. Nur im Kontext und in Nebensätzen wurde der Kotau vor den allzu oft anzutreffenden russophoben, antisowjetischen Stereotypen angedeutet, die längst zur Political Correctness im Westen gehören.
Demgegenüber suchte Veit Medick in Spiegel Online vom 30. Juni 2018 den Grund dafür, dass Maly Trostenez über Jahrzehnte vergessen werden konnte“ in den „Schlagseiten der sowjetischen Erinnerungskultur zum Beispiel“. Die Sowjetunion habe „eher das Leiden der Zivilbevölkerung […] statt die systematische Ermordung der Juden“ in den Mittelpunkt gestellt. Ihm sei daher ein Besuch in der Gedenkstätte Chatyn nördlich von Minsk empfohlen. Dort findet er nicht nur die frühe Erinnerung an Maly Trostenez sondern auch an unzählige andere Orte des Leidens auf belarussischem Boden. Diese Gedenkstätte wurde in der UdSSR für alle Opfer errichtet. Es war damals nicht üblich, nach Nationalität, Religion oder Weltanschauung zu unterscheiden. Der jüdische Politkommissar der Roten Armee war ebenso Sowjetbürger wie der jüdische Handwerker des Minsker Schtetls
Belarus wird hierzulande meist als autoritär geführtes Land und bisweilen immer noch als die „letzte Diktatur Europas“ beschrieben. Was hat dazu geführt, dass der Westen Belarus derart ablehnend gegenübersteht?
Als sich am 8. Dezember 1991 der russische Präsident Boris Jelzin mit seinen ukrainischen und weißrussischen Kollegen Krawtschuk und Schuschkewitsch einigte, die USSR aufzulösen, geschah dies ausdrücklich gegen den Willen der Bevölkerung, die sich in einem Referendum im März 1991 mit großer Mehrheit für den Erhalt einer erneuerten Sowjetunion ausgesprochen hatte. Viele sowjetische Spitzenfunktionäre wandelten sich in der Folgezeit zu Managern, manche zu Millionären, etliche zu Oligarchen. Die Türen für die Ausplünderung des Landes unter dem Banner der Demokratie und Marktwirtschaft waren aufgestoßen. Aus Washington, London und auch Berlin war viel Beifall zu hören.
Als das weißrussische Parlament den antisowjetischen Putsch der drei Präsidenten absegnen sollte, votierte nur ein junger Abgeordneter dagegen, der am 30. August 1954 in äußerst einfachen Verhältnissen geborene und ohne Vater aufgewachsene Alexander Grigorewitsch Lukaschenko. Der ehemalige Komsomol- und KPdSU-Funktionär, studierter Lehrer und Landwirt hatte sich (trotz vorhandener Möglichkeit) nicht dem Grundwehrdienst entzogen, diente als Politoffizier in der Armee und wurde aus dieser Funktion in ein heruntergewirtschaftetes Staatsgut geschickt, das er in wenigen Jahren sanierte und bis 1994 sehr erfolgreich leitete.
1990 wurde er zum Abgeordneten der Nationalversammlung (Oberster Sowjet) gewählt, schloss sich der Fraktion „Kommunisten für Demokratie“ an und wurde einer der Gründer der „Partei der Volkseinheit“.
Vom April 1993 bis Juli 1994 leitete Lukaschenko schließlich die „Provisorische Kommission des Obersten Sowjets für den Kampf gegen Korruption“.
Für viele ausländische Beobachter und sicher auch für das weißrussische politische Establishment überraschend, gewann er die ersten Präsidentschaftswahlen 1994. 1996 schließlich erhielt er nach einem Referendum umfassendere Vollmachten. Die zwei Jahre seit seiner Wahl hatten genügt, im Westen die Alarmglocken schrillen zu lassen. Die stehen seither nicht mehr still, und die Wahlen 2001, 2006, 2011 und 2016, die Lukaschenko unangefochten gewonnen hat, sind hierzulande folgerichtig von den Leitmedien pauschal als Fälschungen bezeichnet worden. Allerdings haben die unzähligen ausländischen Wahlbeobachter dies nicht bestätigen können.
Wie konnte es dazu kommen, dass der vom Westen lange Zeit streng sanktionierte und auch von einem einflussreichen Teil der russischen Eliten beargwöhnte und gehasste Lukaschenko in Minsk immer noch den Takt angibt?
Belarus war das einzige postsowjetische Land, in dem bei den „ersten freien Wahlen“ kein neoliberaler westlich orientierter Kandidat obsiegte. Das hat vielerlei Gründe. Schon bis 1994 war deutlich geworden, welch verheerende politische, soziale und wirtschaftliche Folgen die „Transformation zur Marktwirtschaft“ hatte. Der Raubtierkapitalismus und seine Protagonisten schreckten die Wähler ab.
Der Bevölkerungsanteil der Belorussen betrug damals über 70 Prozent, jedoch war deren Nationalbewusstsein nicht so stark ausgeprägt, wie zum Beispiel das der Ukrainer oder der Balten. Eine wesentliche Rolle spielte dabei nicht zuletzt die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, in dem ein Drittel der Zivilbevölkerung umgekommen war und die Weißrussen gemeinsam mit Russen und anderen Nationalitäten massenhaft als Partisanen Widerstand geleistet hatten. Die Kollaboration mit den Okkupanten war weit geringer ausgeprägt als in den baltischen Staaten oder der Westukraine. Außerdem war Belarus nach 1945 zur „Werkhalle der Sowjetunion“ geworden. Der Anteil an hoch qualifizierten Industriearbeitern, Wissenschaftlern und Technikern war bemerkenswert.
Hinzu kam noch, dass der Belorussische Militärbezirk als zweite strategische Staffel der Warschauer Vertragsorganisation hoch gerüstet war und sich viele Veteranen der Sowjetarmee nach ihrer Pensionierung dort niederließen. Darüber hinaus galt die Weißrussische Kommunistische Partei seit den Zeiten des legendären Pjotr Mascherow (1918–1980) als Gegenpart zur verkrusteten Moskauer Führung.
Nicht unwesentlich war sicher auch der Fakt, dass im Westen keiner glaubte, dass sich der „Kolchosnik Lukaschenko“ sehr lange halten werde. Man unternahm daher zunächst nicht viel, um die Opposition von außen zu stärken. Doch ein Blick in die Biographie des umgangssprachlich von vielen sowohl bewundernd als auch abwertend „Batka“ (Väterchen) bezeichneten Präsidenten hätte allerdings Anlass zur Vorsicht geben müssen.
Der energische, kantige Lukaschenko und seine Gefolgschaft gingen unverzüglich daran, dass Land nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Da man das Schema des regime change in den Nachfolgestaaten der UdSSR schnell erkannt hatte, ist man seither bemüht, jedwede nationalistische Regung im Ansatz zu ersticken. Das betrifft übrigens auch antisemitische Ausfälle.
Die Privatisierungen à la Russland & Co. wurden gestoppt. Die Mehrzahl der Unternehmen ist nach wie vor im Staatsbesitz. Ausländische Investitionen werden stark reglementiert und kontrolliert.
Grund und Boden wird nur in ganz seltenen Fällen verkauft. Jeder Verkauf ist vom Präsidenten abzusegnen. Die Nutzung der Ländereien erfolgt in der Regel über Pachtvereinbarungen, deren Rechtsicherheit in jüngster Vergangenheit offenbar gefestigt wurde.
Ganz wichtig für die Stabilität des politischen Systems Landes war und ist jedoch die Bildungs- und Sozialpolitik. Hier hat Belarus ein bemerkenswertes Netz staatlicher Fürsorge geschaffen.
Der paternalistisch-autoritäre Führungsstil Lukaschenkos prägt das Land und trifft nicht nur in Belarus, sondern auch in Russland auf die Gegenliebe vieler Bürger, vor allem von Lohnabhängigen, Militärs, einfachen Staatsangestellten und Pensionären. Die strenge Steuergesetzgebung und andere „Schikanen“ dagegen sind ein Graus, nicht nur für russische „Businessmeny“.
Außen- und sicherheitspolitisch verfolgt das Land einen ebenso eigensinnigen Kurs. Man ist mit Russland auf den ersten Blick „untrennbar verbündet“ und seit 1993 Vollmitglied in der „Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit“. Allerdings lehnt Weißrussland den Einsatz seiner Streitkräfte außerhalb des Landes selbst im Rahmen dieser Organisation kategorisch ab.
Minsk hat die Angliederung der Krim an Russland ebenso wenig anerkannt wie die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens von Georgien, mit dem man enge Beziehungen pflegt. Belarus ist darüber hinaus bestrebt, gutnachbarschaftliche Beziehungen zur Ukraine zu erhalten. Die von Lukaschenko scharf kritisierte Art und Weise der Machtübernahme Poroschenkos in Kiew hält ihn nicht davon ab, sich mit diesem regelmäßig zu treffen und dabei Verbundenheit zu demonstrieren. Vor allem nationalkonservativen Kreisen in Russland stößt außerdem auf, dass Belarus nur jenen Gebieten der Ostukraine humanitäre Hilfe leistet, die unter der Kontrolle der Kiewer Regierung stehen. Weißrussische Bürger, die im Konflikt in der Ostukraine auf einer der beiden Seiten kämpfen, werden in Belarus konsequent verfolgt und müssen mit langjährigen Haftstrafen rechnen.
Aber auch für den Westen ist Weißrussland kein willfähriger Partner. In Minsk stehen die Denkmäler von Wladimir Lenin und Felix Dserschinski immer noch. Der Geheimdienst heißt nach wie vor KGB. Ausländische Geldtransfers an politische Kräfte und Gruppierungen unterliegen der staatlichen Kontrolle. Veranstaltungen der Opposition werden zwar in letzter Zeit immer öfter genehmigt, aber meist nicht am gewünschten Ort in Nähe des Präsidentensitzes im Zentrum von Minsk. Die Anzahl der Teilnehmer an derartigen Veranstaltungen hält sich in Grenzen, und das Echo auf die Forderungen der untereinander zerstrittenen Oppositionäre bei den Bürgern ist gegenwärtig gering. Bei den geringsten Gesetzesverletzungen und Provokationen greifen Sicherheitsorgane und Justiz ein. Das Motto lautet: Die Politik macht die Spielregeln und nicht die Straße und schon gar nicht ein Maidan.
Die politischen Parteien fristen ein recht kümmerliches Dasein – nicht verboten aber auch nicht staatlich gefördert – haben sie wenige Mitgliedern und erhalten keine Fremdfinanzierung. Es gibt sie jedoch, von den Sozialisten, Sozialdemokraten und Altstalinisten bis hin zu rechten Nationalisten. Im Parlament waren 1995 noch etwa 50 Prozent der Abgeordneten Mitglieder von Parteien und Parteifraktionen. Im Jahr 2000 war dieser Anteil bereits auf 17 Prozent geschrumpft. Nach den Wahlen von 2012 hatten gerade noch fünf Prozent der Abgeordneten ein Parteibuch in der Tasche.
Wer aber glaubt, Belarus sei lediglich eine „Sowjetunion light“, der unterliegt einem gewaltigen Irrtum. Man kann in einer Kathedrale in Grodno in Sichtweite einer Leninstatue eine Ausstellung über den Roten Terror der Bolschewiki besuchen, allerorts gründlich restaurierte Kirchen besichtigen und Gottesdiensten beiwohnen. Im beeindruckend restaurierten Schloss von Njaswisch ist zu besichtigen, wie das polnisch-litauische Adelsgeschlecht der Radziwill gewürdigt wird, und ein paar Kilometer weiter in einer Gedenkstätte des Holocaust im Schloss von Mir schweigt der Besucher tief erschüttert. Auch die politisch motivierten Repressalien der Stalinzeit werden verurteilt. Eine Gleichsetzung Stalins mit Hitler wird dagegen vehement abgelehnt.
Das Museum „Stalinlinie“ und das neu gestaltete, beindruckende Memorial in Minsk erinnern an den Krieg, der für die Mehrzahl der Weißrussen bis heute als Vaterländischer tief verinnerlicht ist. Auf drei großen Friedhofskomplexen wurden aber auch jene Soldaten der deutschen Streitkräfte und ihrer Verbündeten würdig bestattet, die dem Land unendlich viel Leid gebracht haben. Man ist der deutschen Kriegsgräberfürsorge für die Hilfe bei der Einrichtung der Gedenkorte sehr dankbar.
Die Belarussen machen keinen Hehl daraus, dass sie stolz auf ihr sauberes, sicheres Land sind, in dem sich trotz Sanktionen und Wirtschaftskrise die Baukräne fleißig drehen und die Flaniermeilen immer bunter werden, was bisweilen ätzenden Neid und bissigen Sarkasmus bei einem Teil der russischen Eliten hervorruft. Und die riesigen Nationalparks mit endlosen Wäldern, Seen und Sümpfen beindrucken nicht nur Naturliebhaber.
Seit einiger Zeit können unter anderem die Bürger Deutschlands Belarus fünf Tage visafrei besuchen. China hat sich erst kürzlich den Ländern angeschlossen, die die Weißrussen ebenfalls visafrei als Touristen einreisen lassen. Von einem neuen eisernen Vorhang kann also keine Rede sein.
Wie stets gibt es aber auch hier eine Kehrseite der Medaille.
Am 19. Juni trafen sich in Minsk wieder einmal die Präsidenten eines Unionsstaates, dessen Existenz im Westen kaum bekannt und in den Mitgliedsländern wenig wirksam ist.
Wladimir Putin besuchte seinen Amtskollegen Alexander Lukaschenko in Minsk im Rahmen der jährlichen Tagung des „Obersten Staatsrates des Unionsstaates,“ den beide Länder seit 1997 bilden. Die üblichen Lobreden wurden von ungewöhnlich harscher Kritik einiger einflussreicher russischer Politiker und Kommentatoren begleitet. Diese merkten an, dass bislang keinerlei wesentliche Schritte in Richtung der eigentlich angestrebten zügigen Integration erfolgt seien. Die Schuld wurde allein bei den Weißrussen gesucht. Die Organisation gebe zwar viel Geld für den Beamtenapparat aus, den der Russe Grigori Rapota leitet. Einziger Nutznießer sei aber Belarus, merkte zum Beispiel das Mitglied des Rates für internationale Beziehungen beim Präsidenten Russlands, Bogdan Bezpalko, in der Swobodnaja Pressa vom 17. Juni an.
Belarus’ gerühmte Sozialpolitik und die erstaunliche Stabilität des neuen weißrussischen Rubels sowie das wieder anziehende Wirtschaftswachstum, so weitere Kritik russischer Stimme3n, seien vor allem darauf zurückzuführen, dass Russland das Land mit Milliarden Rubel subventioniere, um es bei der Stange zu halten. Russland liefere nicht nur verbilligtes Öl, welches die Weißrussen verarbeiten und für harte Devisen teurer weiterverkauften. Auch hätte man dem kleinen Nachbarn für seine Produkte den unbegrenzten Zugang zum riesigen russischen Markt geöffnet. Belarussen hätten freien Zugang zum russischen Arbeitsmarkt, der weitaus höhere Löhne als der heimische biete. Außerdem erhielten die weißrussischen Streitkräfte kostenlos modernste Technik und Ausrüstung aus Russland.
Im Gegenzug wären die Weißrussen nicht nur politisch unzuverlässig, wie in der Krimfrage zu sehen sei. Auch wirtschaftlich wäre das Land überaus egoistisch und schrecke dabei nicht davor zurück, sanktionierte Waren aus dem Westen umzudeklarieren und dem Unionspartner als eigene unterzujubeln. Belarus weigere sich überdies, seine Seeexporte über den neuen russischen Hafen in Luga abzuwickeln und unterstütze lieber die russophoben baltischen Staaten durch Nutzung der Ostseehäfen seiner EU-Nachbarn Litauen, Estland und Lettland. Außerdem behindere Minsk die unternehmerische Tätigkeit von russischen Unternehmen und Einzelpersonen, indem es seine subventionierte und ineffiziente Staatwirtschaft vor Wettbewerb schütze.
Auch die militärische Allianz werde von Minsk zunehmend in Frage gestellt, indem zum Beispiel die Einrichtung einer russischen Luftwaffenbasis bei Baranowitschi verzögert werde.
Das wäre aber noch verzeihbar und als typisch für das lavierende Handeln des eigensinnigen Alexander Lukaschenko hinnehmbar, wenn nicht Belarus in letzter Zeit Anzeichen von Nachgiebigkeit und Entgegenkommen gegenüber der EU und der NATO habe erkennen lassen. Das könne Russland zwar nicht verhindern. Aber dann sollten die Weißrussen selbst sehen, wie sie ohne Russland mit ihren dann neuen Partnern auskämen.
Soweit zur Kritik aus Russland.
Tatsächlich ist in den Beziehungen zwischen Weißrussland und dem Westen eine Tendenz zur Normalisierung und Versachlichung zu erkennen. Mit der vermittelnden Rolle im Ostukrainekonflikt hat sich Minsk als seriöser Partner der Krisenregulierung erwiesen, der sich des Ernstes der Lage bewusst ist. Am 24. Mai hatte Lukaschenko im Rahmen des Forums „Minsker Dialog“ erklärt, man „könne doch nicht warten, bis das Kriegsfeuer des Dritten Weltkrieges ausgebrochen sei“. In seiner Rede forderte er die großen Staaten zum Gespräch miteinander auf. Trotz der Teilnahme einer Reihe namhafter westlicher Denkfabriken und Institutionen hat diese Veranstaltung leider kaum ein Echo außerhalb des Landes selbst gefunden.
Die Versuche von Belarus, sich aktiver in die internationale Politik einzubringen, aber als Zeichen einer bevorstehenden Kapitulation Lukaschenkos zu deuten, ginge jedoch völlig fehl. Seine grundsätzlich kritische Haltung zur NATO und deren Osterweiterung hat sich bislang nicht geändert. Die militärischen Aktivitäten der NATO an Russlands und Weißrusslands Grenze wecken in Minsk tiefe Besorgnis. Weißrussische Spitzenpolitiker und -Militärs machen sich keinerlei Illusionen darüber, dass ein Teil ihrer westlichen „Partner“ sie nur umgarnt, um militärisch möglichst noch ein Stück weiter in Richtung Moskau vorzurücken.
Schon im Mai 2014 hatte Lukaschenko bei einem Treffen mit Putin erklärt: „Sie Wladimir Wladimirowitsch sollen wissen, dass wir gemeinsam Schulter an Schulter bleiben werden. Wir haben keinen anderen Ausweg, als zusammenzugehen. Allein wird es uns so gehen wie der Ukraine.“ Die gegenwärtigen und künftig zu erwartenden militär- und sicherheitspolitischen Schritte sind jedoch sehr vielschichtig und wären es wert, einer eigenständigen Untersuchung unterzogen zu werden.
Innen-, sozial- und wirtschaftspolitisch stehen vermutlich einige weitere Veränderungen und Reformen in Belarus an. Die 2016 in Gang gesetzte Erhöhung des Rentenalters um drei Jahre (ab 1. Januar 2022 soll es für Männer 63 und für Frauen 58 Jahre betragen) war wohl nur ein erster Schritt. Am 22. Juni äußerte der Präsident, dass er unter „bestimmten eisernen Voraussetzungen“ nichts gegen Privatisierungen in der Landwirtschaft habe. Bereits im März hatte Lukaschenko verlauten lassen, dass einige wichtige Aufgaben und Funktionen der Regierung auf das Parlament übertragen werden könnten. Und schon im Februar 2018 waren mit dem Dekret Nummer 7 des Präsidenten die Bedingungen für Privatunternehmer verbessert worden. Das missglückte neu gefasste „Gesetz gegen Sozialschmarotzertum“ wurde nach Protesten und dem Dialog mit den Bürgern kassiert und wird überarbeitet. Das dringliche Problem der Korruptionsbekämpfung, besonders unter den leitenden Staatbediensteten, ist unverändert brandaktuell, wie ein kürzlich publik gewordener Fall im Bereich des Gesundheitsministeriums zeigt. In dieser Frage werden die Regierung und Präsident Lukaschenko persönlich von den Bürgern ganz besonders kritisch beäugt.
Was den Westen in Gestalt der EU und vor allem auch Deutschland betrifft, so ist an die Stelle der vorbehaltlosen Begeisterung, die man vor allem bei jüngeren Menschen in Belarus in der Vergangenheit häufig antraf, teilweise ein realistischeres Bild getreten. Reisemöglichkeiten und das Internet haben zu einer differenzierteren Beurteilung geführt, wenngleich die Formatierung durch die westliche Massenkultur auch vor Belarus nicht Halt macht.
Ereignisse wie zum Beispiel der massenhafte Zuzug von Migranten nach Deutschland stoßen bei den Weißrussen meist auf großes Unverständnis. Auch die vom Westen gegenüber Minsk geforderte Abschaffung der Todesstrafe wird bislang von der Mehrheit der Bürger in Belarus nicht unterstützt. Trotzdem wird vor allem Deutschland immer noch mehrheitlich positiv gesehen.

Alles in allem: Belarus sitzt offenbar nicht zwischen den Stühlen. Es sucht seinen eigenen Platz in einem schwierigen Umfeld. Ein Stück dieses holprigen und äußerst widersprüchlichen Weges hat das Land bereits zurückgelegt, und welcher Präsident in Minsk regiert, ist und bleibt einzig und allein Sache der Belarussen.