21. Jahrgang | Nummer 14 | 2. Juli 2018

Marx – der bessere Luther?

von Ulrich Busch

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki meinte einmal, dass man von einem Buch nur die erste Seite zu lesen brauche, um festzustellen, ob das Buch lesenswert sei oder nicht. – Mitunter reicht dafür aber auch schon ein einziger Satz. So ging es mir mit der Flugschrift von Ulrich Duchrow „Mit Luther, Marx und Papst den Kapitalismus überwinden“. Der Satz, der hier sogleich meine Aufmerksamkeit erregte, ist eine Überschrift. Sie lautet: „Karl Marx als Theologe“.
Nun glaubt man ja zu wissen, was Karl Marx alles war: außer Philosoph, Politökonom, Jurist, Historiker und Sozialwissenschaftler auch Politiker, Publizist, Literat und einiges mehr. Aber Theologe? Da regt sich Widerspruch. Und das nicht nur gegen diese Aussage. Auch die andere Titelfigur des Buches, Martin Luther, findet hier, indem sie zu einem der „schärfsten Kritiker des Kapitalismus“ apostrophiert wird, eine Etikettierung, die eher befremdet. Zumal die „kapitalistische Ära“ erst vom 16. Jahrhundert an datiert, es den Kapitalismus als Produktionsweise und Gesellschaftsordnung zu Luthers Lebzeiten also noch gar nicht gegeben hat.
Das sieht der Autor freilich anders, indem er von einem metahistorischen Standpunkt aus argumentiert. Danach bildete sich die „kapitalistische Zivilisation“ bereits im 8. Jahrhundert v.u.Z., in der sogenannten Achsenzeit, heraus, und existiert seitdem, in ihrem Wesen unverändert, bis heute als „imperial-gierige Mammonzivilisation“ fort. Sie ist wirtschaftlich durch die zunehmende „Herrschaft des Geldes“, politisch vom „Imperialismus der Machtsysteme und Lebensweise“, wissenschaftlich von „reduktionistischer Rationalität“ und anthropologisch vom „zur Sucht werdenden Streben nach mehr Macht, Reichtum und Ansehen“, mental „vom Rechnen, Berechnen und Kalkulieren“ und insgesamt vom „egozentrischen Individualismus“ bestimmt. Gegen diese, inzwischen fast dreitausend Jahre andauernde, Entwicklung gab es durchweg Widerstand und, theoretisch wie praktisch, Bemühungen um Alternativen. Hierin seien Luther und Marx einzuordnen, aber ebenso Buddha, Laotse, Konfuzius, Sokrates, Aristoteles, Spartacus, die Propheten Amon, Micha und Jeremia, Jesus, die zwölf Apostel, Paulus, Mohammed, die Kirchenväter, Jan Hus, Müntzer, die Wiedertäufer, St. Just, Babeuf, Mutter Theresa, Papst Franziskus und viele andere. Auf diese Weise entsteht ein vielschichtiges Panorama der Weltgeschichte, worin die vorhistorische Zeit als „goldenes Zeitalter“ oder „Paradies“ erscheint, die nachfolgenden Jahrtausende aber als „Zivilisation des Todes“.
Zentral hierfür sei die Dominanz des Geldes, der Geldlogik und Geldwirtschaft, schließlich die Anbetung des „Geldgottes“, des Abgottes „Mammon“. Dadurch würden die Menschen ihrer eigentlichen Bestimmung gegenüber, einem sinnerfüllten Leben, entfremdet und den Zwängen von Kapitalakkumulation und Wirtschaftswachstum unterworfen. Kriege, Flucht und Klimakatastrophen, als Vorboten der Apokalypse, seien die Folgen. Alles nachzulesen im Johannesevangelium. Dagegen sei nun (nach Jan Hus, Wiclef und anderen) Martin Luther aufgestanden, indem er 1517 die Reformation anzettelte. Soweit die Rahmenerzählung.
Damit ist nun aber die Frage nach der Rolle der Reformation im Geschichtsprozess aufgeworfen. Und folglich auch die Frage nach der historischen Verortung von Luther: Bedeutete die Reformation vor allem eine Kritik an der Geldwirtschaft und am Kapitalismus oder machte sie nicht vielmehr den Weg frei für eine kapitalistische Entwicklung? Man denke hier nicht nur an Deutschland, sondern auch an Holland, Schottland, England, die Schweiz.
Da die Reformation am Beginn der kapitalistischen Ära stand, liegt für mich die Antwort auf der Hand. Nicht jedoch für den Theologen Ulrich Duchrow. Im Unterschied zur wirtschaftshistorischen Forschung steht er auf dem Standpunkt, dass „Kommerz und Geld“ bereits im Mittelalter „das Denken und Fühlen“ der Menschen bestimmten. Natürlich auch das von Kirche und Theologie. Und dann kam Luther und brandmarkte die bestehende Ordnung als „Mammonsystem“ mit „pseudoreligiösem Charakter“. Sein „öffentliches Nein“ und seine Frage „Gott oder Mammon?“ interpretiert Duchrow als Luthers Beitrag zur „Überwindung des Kapitalismus“ – noch bevor dieser sich überhaupt komplett etabliert hatte. Das verweist auf einen geisteswissenschaftlichen beziehungsweise theologischen Ansatz, im Unterschied zum sozio-ökonomischen Ansatz von Marx. Aber auch zur Religionskritik von Max Weber, die Duchrow als „falsch“ zurückweist.
Der Autor legt größten Wert auf die Feststellung, dass Marx Luther als „ältesten deutschen Nationalökonomen“ schätzte, ihn ausführlich rezipierte und im „Kapital“ zitiert hat. Das ist richtig, ändert aber nichts daran, dass Luther die Naturalwirtschaft verteidigte, den Absolutismus hofierte und die historisch progressive Rolle des Geldkapitals im Frühkapitalismus, trotz einiger bemerkenswerter Einsichten, nicht wirklich begriffen, sondern vehement bekämpft hat. Ihn als „Vorläufer“ von Marx hinzustellen, wird weder ihm noch Marx gerecht.
Es ist ein doppelter Fehler, denn „es gibt keinen Weg von Luther zu Marx“ (W. Jantzen). Eine ökonomische Kapitalismusanalyse, wie sie Marx 350 Jahre nach Luther vorgelegt hat, konnte dieser nicht einmal im Ansatz leisten, weil es den Kapitalismus als Gesellschaftsordnung damals noch gar nicht gab. Finanz- und Handelszentren wie Venedig, Florenz und Genua waren Inseln in einem Meer feudaler Naturalwirtschaft. Luther fokussierte seine systemische Kapitalkritik daher auf die „antediluvianischen Formen“ des Kaufmanns- und des Wucherkapitals, die in vorkapitalistischen Gesellschaften vorkamen, sie untergruben und zerstörten.  Diese Kritik des Zirkulationskapitals unterscheidet sich jedoch grundlegend von der Marx‘schen Kapitalismuskritik, die auf das industrielle Kapital abstellt. Die Analysen von Marx und Luther stimmen daher ebenso wenig überein wie die untersuchten Formen des Kapitals und die jeweiligen Entwicklungsstadien des Kapitalismus.
Andererseits enthalten die Überlegungen zum Fetischcharakter von Ware und Geld im „Kapital“ tatsächlich eine Analogie zur Religion. Marx deshalb zum „Theologen“ zu stilisieren, der „die biblischen und Luthers Intentionen auf diesem Gebiet am treuesten weitergeführt“ hat, entbehrt jedoch jeder Grundlage. Diese Aussage lässt vielmehr auf ein Bemühen des Autors schließen, den atheistisch-materialistischen Ansatz von Marx und die ökonomisch-historische Analyse des „Kapital“ zurückzunehmen und durch eine moralisierende und religiös gefärbte ahistorische Geld-, Kapital-, und Zivilisationskritik zu ersetzen. Nur in einer solchen Lesart lässt sich Marx als geistiger Nachfahre Luthers ausmachen und erscheint seine antikapitalistische Position als „identisch mit der der Propheten, der Tora, Jesu und Paulus“. Die hier behauptete und sich wie ein roter Faden durch das Buch hindurchziehende direkte „Kontinuität zwischen Bibel und Karl Marx“ aber ist eine Erfindung „linker“ Theologen. Sie kündet einerseits von der Bereitschaft, das Werk von Karl Marx ernst zu nehmen und im gegenwärtigen Transformationsprozess ein politisches Bündnis mit Marxisten einzugehen. Andererseits dokumentiert sich hierin aber auch der Versuch, Marx „als Theologen“ (um)zu deuten und ihn ideologisch zu vereinnahmen. – Und da sei Gott vor! 

Ulrich Duchrow: Mit Luther, Marx und Papst den Kapitalismus überwinden. Eine Flugschrift in Kooperation mit Publik-Forum, VSA-Verlag Hamburg 2017, 154 Seiten, 14,00 Euro.