von Bernhard Klaus
Vor den Luftschlägen der USA, Frankreichs und Großbritanniens auf Syrien in der Nacht zum 14. April sah die Lage in Syrien im Grunde ziemlich eindeutig aus: Die Türkei hatte nach ihrer Offensive in Afrin weite Teile im Nordwesten Syriens unter ihre Kontrolle gebracht und wollte diese Kontrolle offenbar unter anderem durch Umsiedlungen dauerhaft aufrechterhalten. Die kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) kontrollieren mit US-amerikanischer Unterstützung die nordsyrischen Gebiete östlich des Euphrat, die über das kurdische Siedlungsgebiet hinaus wichtige Öl- und Gasfelder umfassen. Das syrische Regime hingegen stand mit russischer und iranischer Unterstützung kurz davor, die verbliebenen, von Rebellen kontrollierten Gebiete zurückzuerobern. Ausnahmen hiervon bilden Idlib mit einer starken türkischen Präsenz, ein Streifen an der Grenze zu Israel beziehungsweise den Golan-Höhen und ein Gebiet in der Grenzregion zwischen Syrien, Jordanien und dem Irak, wo unter anderen US-amerikanische Spezialkräfte stationiert sind.
Oberflächlich gesehen hätte diese Situation gute Aussichten auf eine Beruhigung der Lage geboten. Syrien hätte zwar große Teile seines Territoriums verloren, in denen der Wiederaufbau durch die de-facto-Besatzungsmächte hätte beginnen können und auch im vom Regime gehaltenen Territorium mit den wichtigsten Städten hätte Ruhe einkehren können, was aber wohl auch eine dauerhafte militärische Präsenz Russlands und des Iran bedeutet hätte. Eine Situation, die für die NATO-Staaten und ihre Verbündeten, allen voran Israel, jedoch offenbar nicht hinnehmbar war.
In diesem Kontext erfolgten die klar völkerrechtswidrigen Luftschläge der USA, Großbritanniens und Frankreich als vermeintliche Sanktionierung umstrittener Giftgasangriffe, die von deren NATO-Verbündeten wie etwa Deutschland begrüßt und als „erforderlich und angemessen“ bezeichnet wurden. Ihre unmittelbaren Schäden waren wohl begrenzt und zur befürchteten Eskalation mit Russland kam es zunächst auch nicht.
Kritisch gilt es dagegen zunächst einmal den klaren Völkerrechtsbruch festzuhalten, der mit den Luftschlägen (einmal mehr) begangen wurde. Dies wurde selbst vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages nicht in Abrede gestellt: Diverse Medien, so die Deutsche Welle, berichten über ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zum Völkerrechtsbruch der jüngsten Luftschläge gegen Syrien: „In einem von der Linksfraktion in Auftrag gegeben Gutachten, das der Nachrichtenagentur AFP vorlag, heißt es, völkerrechtliche Repressalien in Form militärischer Vergeltungsschläge gegen einen Staat seien ‚grundsätzlich unzulässig‘. […] Die Bundestagswissenschaftler schlussfolgern, dass es bei den Luftangriffen eher um die ‚unverhohlene Rückkehr zu einer Form der – völkerrechtlich überwunden geglaubten – bewaffneten Repressalie im ‚humanitären Gewand“ gehe.“ (Deutsche Welle, 20.4.2018)
Befremdlich war außerdem, dass plötzlich Akteure, die in Syrien keinen nennenswerten Einfluss (mehr) hatten, unmittelbar nach den Luftschlägen von einer neuen Dynamik und einem „Zeitfenster“ für politische Initiativen sprachen, wie etwa der deutsche Außenminister, Heiko Maas: „Dass es ja eben in den letzten Tagen zu keiner Eskalation gekommen ist, sondern jetzt alle wieder von diplomatischen und politischen Lösungen reden, ist ja ein Hinweis darauf, dass sich etwas verändert haben muss und das muss man jetzt aufnehmen.“ Unmittelbar danach stand das Treffen der EU-Außenminister an, bei dem es um das Verhältnis mit Russland und dem Iran gehen sollte. Mit diesen gelte es nun, zu verhandeln, so etwa der Deutschlandfunk vorab. Wer sich fragte, was es nach den Luftschlägen als vermeintliche Sanktionierungsmaßnahme zu verhandeln gäbe, wo die Verhältnisse am Boden in Syrien eigentlich recht klar waren und gerade die EU-Staaten dort keinen nennenswerten Ausgangsposition für Verhandlungen hatten, konnte im selben Bericht des Deutschlandfunks zumindest andeutungsweise eine Antwort finden: „Der nächste Militärschlag könnte tatsächlich in die befürchtete militärische Eskalation zwischen westlichen Staaten und Russland führen.“
Rückblickend scheint es sich bei den Luftangriffen weniger um einen Schlag gegen das vermeintliche syrische Chemiewaffenprogramm gehandelt zu haben als um einen Testlauf, in dem sich drei führende NATO-Staaten des Rückhalts ihrer Verbündeter, des Stillhaltens Russlands und der Irrelevanz des Völkerrechts in Syrien versicherten. Wenig später rückte spätestens mit dem Besuch des Französischen Präsidenten Macron der sogenannte Atomdeal mit dem Iran wieder auf die Agenda, der entweder nachverhandelt oder eben aufgekündigt werden müsste – was streng genommen auf dasselbe hinausläuft. Zwar komme der Iran seinen unmittelbaren fixierten Verpflichtungen nach, verstoße aber durch seine wachsende Einflussnahme in der Region gegen den (von westlicher Seite definierten) „Geist des Abkommens“. Kurz nach Macron war bekanntlich auch die deutsche Kanzlerin Merkel nach Washington gereist und hatte ihre Position klargestellt: „Die Tatsache, dass der Iran in Syrien und auch im Libanon Einfluss nimmt, ist für uns ein großer Teil der Besorgnis. Hier müssen wir die Eingrenzung des Einflusses erreichen. Wir müssen natürlich auch schauen, dass über die Dauer dieses Iran-Abkommens hinaus Verlässlichkeit geschaffen werden kann. Das heißt, ich denke, Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika sollten hier sehr eng zusammenarbeiten, auch um das schreckliche Blutvergießen in Syrien zu beenden und eine Lösung für die Region insgesamt hinzubekommen.“
Drei Tage später hat das „schreckliche Blutvergießen“ kein Ende genommen, im Gegenteil wurden mehrere syrische Armeestützpunkte mit Raketen angegriffen. Deutsche Medien berichten übereinstimmend, dass der Angriff zu zahlreichen Toten und Verletzten geführt und vermutlich speziell iranischen Truppen gegolten habe. Wer hinter dem Angriff steht, ist bislang unklar, spekuliert wird aber, dass Israel verantwortlich sein könnte. Erst am Vorabend habe dessen Verteidigungsminister Avigdor Lieberman gemeint, sein Land habe genau drei Probleme: „Iran, Iran und Iran“. Was in deutschen Medien hingegen kaum berichtet wird, sind erneute Gefechte bei Deir ez-Zor, wo am Vortag „pro-syrische“ Kräfte den Euphrat überquert und vier kleine Ortschaften nahe einiger Ölfelder eingenommen hatten. Der Angriff wurde jedoch zurückgeschlagen, woran offensichtlich die US-geführte Koalition zur Bekämpfung des IS beteiligt war. Unter anderem hätten diese mit Luftangriffen die Behelfsbrücke zerstört, mit der die pro-syrischen Truppen den Fluss überquert hatten. Eine offizielle Bestätigung für die Beteiligung der Koalitionstruppen existiert zwar nicht, auffällig jedoch ist, dass in dem entsprechenden Statement der SDF betont wird, dass iranische Truppen an dem Angriff beteiligt gewesen seien und dass dieser die Bemühungen der SDF bei der Bekämpfung des IS – dem offiziellen Mandat der US-geführten Koalition – konterkariert hätte. Das hätte man dem türkischen Angriff auf Afrin jedoch ebenfalls vorwerfen können, hier haben die Koalitionskräfte, an denen die Türkei beteiligt ist, jedoch nicht eingegriffen.
Deutschland ist an dieser Koalition beteiligt. Auch wenn das Mandat sowohl der Koalition insgesamt wie auch der deutschen Beteiligung völker- und verfassungsrechtlich auf mehr als wackeligen Füßen steht, erlaubt es keine Angriffe auf syrische Regierungskräfte und deren Verbündete. Ein Wille an Aufklärung oder gar Kritik der Bundesregierung an einer Neuausrichtung der Koalition auf syrische und vor allem iranische Kräfte ist jedoch nicht erkennbar und auch nicht zu erwarten. Denn im Grunde hat die US-geführte Koalition von Anfang an jene NATO-Staaten und ihre Verbündeten vereint, die in Syrien am liebsten einen Regime-Change durchgesetzt hätten und (auch damit) iranischen Einfluss zurückdrängen wollten. Offenbar hofft man nun, beide Ziele wieder zu beleben, wofür die Luftschläge vom 14. April ein Testballon waren. Dass Russland nicht eingegriffen hat, nehmen nun NATO und Co zum Anlass, weiter zu eskalieren, weiter zu bombardieren. „Politische Lösung“ nennt man das in der deutschen Außenpolitik.
Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.: Ausdruck Juni 3/2018, mit freundlicher Genehmigung des Autors und von IMI.
Schlagwörter: Bernhard Klaus, imi, Iran, NATO, Russland, Syrien, Völkerrecht