21. Jahrgang | Nummer 13 | 18. Juni 2018

Harakiri-Diskutierer

von Günter Hayn

Am 14. Oktober wird in Bayern der Landtag gewählt. Nach der jüngsten Umfrage der Augsburger Allgemeinen ist die absolute Mehrheit der CSU futsch (41,1 Prozent), die SPD rutscht auf den dritten Platz (13,4 Prozent), DIE LINKE liegt bei 3,5 Prozent. Zweitstärkste Partei wird in Bayern möglicherweise die AfD (13,5 Prozent). Markus Söders rechtspopulistische Muskelspiele (Polizeigesetz) und seine christlich-fundamentalistischen Ideen stärkten wie beabsichtigt den rechten Rand. Der ist schon lange kein „Rand“ mehr – und er neigt zunehmend dem ganz rechten Original zu. Das ist nicht mehr die CSU. In Bayern droht die erste schwarz-blaue Koalition.
Im Sommer 2019 wählt Sachsen. Die aktuellen Werte: CDU 32 Prozent (2014: 39,4), AfD 24 Prozent (9,7), Linke 19 Prozent (18,9), SPD 9 Prozent (12,4). Das klassische schwarz-rote Bündnis wird es in Dresden 2019 mit großer Wahrscheinlichkeit nicht geben können.
Linke Analysten tun das gerne als marginale Entscheidungen einer für den Fortschritt verlorenen Wählerschaft ab. Also der Blick auf die Bundestagswahlprognose: CDU 31 Prozent, SPD 17 – die Kanzlerinnen-Mehrheit ist de facto weg –, AfD 16 (Tendenz steigend), DIE LINKE 12 (Tendenz stagnierend).
In dieser durchaus bedrohlichen Situation hielt DIE LINKE in Leipzig ihren Bundesparteitag ab. Der Bundesvorstand muss alle zwei Jahre neu gewählt werden. Das Wahlergebnis kam wie erwartet: Die beiden Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger wurden wiedergewählt – zwar mit grottenschlechten Prozenten, aber seit wann scheren sich machtbewusste Politiker um Ohrfeigen, die sie von Parteitagen erhalten? Gewählt ist gewählt. Kipping und Riexinger wurden sechs Stellvertreter zugeordnet, wie der „Rest“ des insgesamt 44-köpfigen Parteivorstands sorgsam zwischen den sich sonst heftig befehdenden Flügeln – ähnlich den Lieblingsengeln des HERRN hat DIE LINKE mehr als zwei – und den einflussreichsten Landesverbänden austariert. Das „vorgeschlagene“ Spitzenpersonal, das Politbüro der Partei nennt sich „Geschäftsführender Parteivorstand“, passierte fast problemlos die langatmigen Wahlgänge.
Ansonsten lief über viele Stunden das Übliche: ermüdende Debatten mit den ewig gleichen emphatisch vorgetragenen Sprechblasen. Die Antikapitalistische Linke sorgte für eine Verschärfung des antikapitalistischen Tones und feierte sich post festum ab. Auch zum Dauerbrenner Flüchtlingspolitik fand man markige Worte: „Obergrenzen“ und Abschiebungen werden abgelehnt, die Partei verfolgt nach wie vor das hehre Ziel der offenen Grenzen. Und: „Wer die Rechten bekämpfen will, darf ihren Forderungen nicht nachgeben oder ihre Redeweisen übernehmen. Rassismus ist kein Phänomen von Randgruppen.“ Das ging gegen Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, denen in den Disputen der letzten Wochen schon mal gerne AfD-Nähe nachgesagt wurde. Dass es in dieser Frage zum Knall kommen musste, deutete sich vor dem Parteitag bereits an.
Am 8. Juni verließen die Berliner Linksfraktionschefs Udo Wolf und Carola Bluhm sowie die brandenburgische Landesvorsitzende Anja Mayer das „Forum demokratischer Sozialismus“ (fds), eine der bedeutenderen Parteiungen innerhalb der Partei, die seit Jahren einen strikten Kurs auf Umwandlung der LINKEN in eine auch auf Bundesebene mit wem auch immer koalitionsfähige Partei fährt. In einer am 7. Juni auf facebook von Wolf veröffentlichten Erklärung heißt es: „Sahra Wagenknecht, Oskar Lafontaine und die sie (unter)stützenden Genoss/-innen in Partei und Fraktionen haben nicht erst seit der vergangenen Bundestagswahl, aber besonders massiv seitdem, gerade gegen die Teile des Erfurter Programms verstoßen, für die wir als fds gekämpft haben. Mit Rücksicht auf das Machtgefüge in der Bundestagsfraktion fällt die Kritik aus den Reihen des fds an diesen wiederholt vorgetragenen politischen Zumutungen verhalten aus.“ Und gerade diese „Verhaltenheit“ könne und wolle man nicht mehr mittragen. Das geht gegen Dietmar Bartsch, faktisch Leitfigur des fds, der gemeinsam mit Wagenknecht die Bundestagsfraktion leitet. Das Duo hat es immerhin geschafft, einer heillos zerstrittenen Truppe die Arbeitsfähigkeit zu sichern. Deren ideologisch ummantelte Alphatierchen-Rangeleien finden vornehmlich in den sozialen Netzwerken statt. O-Ton gefällig? Da kühlt MdB Alexander Neu aus Nordrhein-Westfalen sein Mütchen an Katja Kipping: „Die Genossin Kipping findet migrierende Billigarbeiter fürs deutsche Kapital notwendig. Schließlich will neben dem profitorientierten deutschen Kapitalisten der herkömmliche Deutsche ja sein Kilo Spargel unter 5 € kaufen können und im Alter seinen Arsch von denen abgewischt bekommen, die er vor 75 Jahren – mit Blick auf Serbien vor 19 Jahren – noch mit Bomben beglückte.“ Katja Kipping ist Fraktionskollegin des Genossen Neu. Man trifft regelmäßig zumindest bei den Fraktionssitzungen aufeinander.
Auf den Parteitagen beherrschen die politikerfahrenen Bundes- und Landtagspolitiker seit Jahren die Mikrofone. Der Ton ist inzwischen messerscharf. Man folgt dem großen Beispiel der bolschewistischen Debattenkultur voller Leidenschaft. Auch in Leipzig wurde mit Katja Kipping „abgerechnet“. Besonders eloquent praktizierte dies Fabio De Masi (MdB aus Hamburg). Neu und De Masi gehören zum politischen Umfeld Sahra Wagenknechts. Gegen die brachte sich nicht nur die Fronde aus dem fds in Stellung. Ausgerechnet die zitierte Antikapitalistische Linke – Überbleibsel aus WASG-Zeiten – greift inzwischen ihre ehemalige Galionsfigur äußerst massiv an. Schon der Genosse Lenin wusste ja, die Renegaten sind die Schlimmsten… Thies Gleiss, Parteivorstandsmitglied, wirft ihr eine „feudalistische Basta-Pose“ vor und erklärt (natürlich auch auf facebook): „Sahra hat sich mit den ausgewiesenem rechten Flügel der Partei um Dietmar Bartsch verbündet.“ Den Austritt von Wolf & Co. aus diesem – er meint das fds – bezeichnet Gleiss als „Kollateralnutzen“. Ulla Jelpke (MdB) schrieb in einem Diskussionspapier hinsichtlich der nicht nur von ihrer Fraktionsvorsitzenden vertretenen Positionen von einer „Verabschiedung von einer internationalistischen, solidarischen linken Perspektive“. In der Linken kann dieser Vorwurf politisch tödliche Folgen haben. Jelpke weiß das.
Logisch, dass mit dem Auftritt Sahra Wagenknechts am letzten Beratungstag der Überdruck den Kessel platzen ließ. Sie versuchte zunächst, die Wogen zu glätten, betonte das Gemeinsame – unter anderem in der Asylpolitik –, um dann den tatsächlichen Konfliktpunkt zu benennen: „Wir streiten über die Frage, ob es für Arbeitsmigration Grenzen geben sollte und wo die liegen.“ Für politisch normal denkende Menschen eine sich aus dem Zwang der Tatsachen notwendig stellende Frage. Das sagt noch nichts über die Qualität der Antworten aus. Für Gesinnungswächter ist das der Sündenfall – und der willkommene Anlass, endlich die alten Rechnungen auf den Tisch zu legen. Wagenknechts Fraktionskollegin Sabine Leidig machte den Aufschlag: „Warum stellst du deine Position nicht auf dem Parteitag zur Debatte?“ (nichts anderes hatte die gerade getan). Die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach, nicht nur politisch mit den Brüdern Wolf verwandt (Insider sprechen von der „Familie“, die Berlins Linke dominiere), sekundierte wutschnaubend und warf Wagenknecht vor, „die Partei“ zu zerschlagen. Es folgte eine zunächst noch folgenlose heftige Diskussion, zeitlich begrenzt. Die Regie des letzten Beratungstages bestimmt stets der Zugfahrplan.
„Die Partei“ ging am 10. Juni 2018 noch nicht in die Brüche. Eine stille Sehnsucht nach kollektivem Polit-Selbstmord war dennoch überdeutlich spürbar. Den Migranten, für die man behauptet sich aufopfern zu wollen, nutzt das alles nichts. Auch den beschworenen Taxifahrern, Krankenschwestern und Verkäuferinnen nicht, die Arbeiterklasse ist dieser Art Diskutierer schon seit längerem abhandengekommen. Andreas Nölke, Politikwissenschaftler an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, warnte vor dem LINKE-Parteitag im neuen deutschland, die aktuellen Debatten könnten dazu führen, „ dass große Teile der Arbeiterschaft endgültig in das Lager rechtspopulistischer Parteien getrieben werden“. Die Leipziger Harakiri-Diskutierer haben dazu einen Beitrag geleistet.
Selbst in der FAZ wurde das Leipziger Geschehen von Markus Wehner einigermaßen fassungslos kommentiert: „Für den Rest der Republik ist das, zum Glück, schlicht gaga.“ Inzwischen scheint das Lafontaine-Wagenknechtsche Projekt einer linken Sammlungsbewegung jenseits der Parteien Fahrt aufzunehmen. Wenn es nicht schon zu spät ist. „Die Linken versagen“, konstatierte mit verzweifeltem Unterton am 7. Juni Markus Decker in der Berliner Zeitung.