von Klaus Joachim Herrmann
Der Moskauer Mai hat seine Besonderheiten. Traditionell bietet er die ersten Sommertage. Nach Kälte, einer langen Zeit von kurzen Tagen, Schneerekord und manchem Trübsinn hellt sich vieles wieder auf – fast ohne Frühling als Übergang. Der knapp zehn Kilometer lange Boulevardring, der das Zentrum der russischen Hauptstadt umschließt und im Süden an das Ufer der Moskwa grenzt, wird wieder grün. Hier ehrt Russland seine Dichter. Puschkin, Gogol, Jessenin. Scholochow sitzt in einem Kahn und hinter ihm schwimmen Pferde gegen den Strom. Bei Wyssozki finden sich meist Blumen, zuweilen auch ein paar Zigaretten. Wer noch nicht auf die Datscha ins nähere und fernere Umland eilt, mag hier schlendern – auch bei den „Sauberen Teichen“, in denen trotzdem „Baden verboten“ ist. Mit dem Winter fast ausgesöhnt haben sich Müßiggänger und Eilige, der nächste scheint ja noch so fern.
Der Kreml und umliegende Gebiete sind in dieser ersten Moskauer Maidekade für den Publikumsverkehr häufig versperrt. Die Planung der politischen Großereignisse ist eng. Der 1. Mai ist mit einer folkloristisch bunt eingefärbten Demonstration über den Roten Platz absolviert. Nach seiner Wiederwahl löst sich Wladimir Putin heute, am 7. Mai, in seinem Amtssitz als Präsident zu einer weiteren sechsjährigen Amtszeit selbst ab. Das Wahlvolk hat ihm dazu mit einer kräftigen Zweidrittelmehrheit verholfen. Zum Tag des Sieges am 9. Mai wird auf dem Roten Platz paradiert. In Russland muss niemand darüber nachdenken, ob das Ende des Zweiten Weltkriegs, die bedingungslose Kapitulation des faschistischen Deutschen Reiches von 1945, wohl einen Feiertag wert sei.
28 Millionen Sowjetbürger, darunter zwei Millionen Juden, wurden Opfer des auch in seiner Brutalität beispiellosen Vernichtungskrieges. Der begann mit wüster Propaganda, einer dreisten Lüge und heimtückischem Überfall. Aus solcher Geschichte wäre gerade von Deutschland im Umgang mit Russland Empfindsamkeit und Verständnis für ein besonderes Sicherheitsbedürfnis Russlands zu erwarten. Die Freundschaft mit Israel ist deutsche Staatsräson, für das Verhältnis mit Frankreich steht Aussöhnung. Wären solche Beziehungen mit Russland nicht ebenso geboten? Doch eine Aussöhnung mit der Sowjetunion blieb – wie die Zahlung von Reparationen – der DDR überlassen. Sie ist Geschichte. „Naschi“, also „unsere“, waren für Menschen in der Sowjetunion in aller Regel DDR-Leute.
Das Vorrücken deutschen Militärs nach Osten – vorerst ins Baltikum – ist das Gegenteil von Aussöhnung. Auch eine Aufstockung des Rüstungsetats der Bundesrepublik um zwölf Milliarden Euro, von der Ministerin gefordert. Die 2014 unter Hinweis auf russische Aggressivität gebildete NATO-„Speerspitze“ als schnelle Einsatztruppe stand bereits 2015 unter deutscher Führung, so wird es Anfang 2019 wieder sein. 10.000 deutsche Soldaten sollen sich an der „Speerspitze“ beteiligen. Wohin sie zielt, ist kein militärisches Geheimnis.
Kommt eigentlich niemand darauf, was wohl Iwan Iwanowitsch denken und empfinden mag, wenn im Jahre 2018 ein deutsches Heereskommando das Fehlen von warmer Winterkleidung für die Truppe bemängelt? „Weißt du, warum ihr den Krieg verloren habt?“, fragte mich der ältere Herr am Grill? Krachender Frost und eine bunte Runde am zugefrorenen Kljasma-Stausee vor Moskau. „Die Kälte! Ihr könnt mit der Kälte nicht umgehen.“ Er schiebt einen Pappkarton rüber. „Nimm, stell die Füße rein!“ Nach wenigen Minuten sind sie warm. „Nu smotri!“ – Siehst du!
Die Feindstaatenklausel der UN-Charta, die primär Deutschland und Japan betraf, gilt als hinfällig. Berlin hat sie schon ganz gestrichen. Sie gestattete Zwangsmaßnahmen ohne besondere Ermächtigung des Sicherheitsrates, sollten diese Staaten erneut eine aggressive Politik verfolgen. Faktisch wurde die Klausel umgewidmet. Denn Russland sieht sich als einstige Siegermacht nun selbst einem Bündel von „Strafmaßnahmen“ ausgesetzt. Moskauer Offizielle sprechen von einem Wirtschafts- und Finanz-, von einem diplomatischen und medialen Krieg. Bei den jüngsten G-7-Entscheidungen machte das Außenministerium einen „offensichtlich russophoben Hintergrund“ aus. Gemeint waren alle Sieben. Denn der Hinweis, das gelte auch für jene, die sich gegen eine Isolierung Russlands aussprechen, bezieht unzweifelhaft auch Deutschland ein.
Es bleibt eine schöne Mär, dass eine deutsche Regierungschefin nur Russisch und ein russischer Präsident nur Deutsch können müssten, um Verdorbenes wieder zum Besseren zu wenden. Kanzlerin Merkel und Außenminister Maas wollen zwar mit Moskau reden, aber nur, damit es die Forderungen des Westens erfüllt. Dialog, um Druck zu machen. „Maas allein gegen die Russlandfreunde“, titelt Die Welt und „Robust Richtung Russland“ Der Spiegel. So bestimmt die Bundesrepublik ihren Kurs nach Washingtoner Karten, verzichtet auf europäische Möglichkeiten und liefert sich entgegen eigenen Interessen der Trumpschen Führungsmacht aus.
Die beschwört wieder das „Reich des Bösen“. Das Schmähwort setzte Präsident Ronald Reagan vor einem Predigerkongress Anfang März 1983 gegen die Sowjetunion in die Welt. Begleitet wurde es vom Aufruf zum „Kreuzzug“, zu einer Raketenabwehr im Weltraum und der Stationierung von Pershing-II-Mittelstreckenraketen in Europa. Die Dämonisierung eines wieder erstarkten politischen Widersachers ist also nicht neu, aber wieder aktuell. Sie bleibt auch nicht an Parteien gebunden. Die Konservativen können Russland gar nicht genug strafen, die Demokraten fordern Rache, sie sehen sich durch russische Hacker um den Wahlsieg Hillary Clintons geprellt. Für den schmierigen Inhalt der offenbarten Mails blieben freilich immer noch deren Schreiber verantwortlich.
Doch keine Untat, die nicht von Putin verübt oder wenigstens im Kreml ausgeheckt worden wäre: Destabilisierung der Ukraine, Einverleibung der Krim, Einmischung im Donbass. Für Chemiewaffen in Syrien, Giftattacken in England und unzählige Cyberattacken sind die nimmermüden Geheimdienste Kronzeugen. Die könnten Beweise nicht offenbaren, weil sie naturgemäß nun mal geheim seien. So solle man ihnen und den Regierungen der westlichen Alliierten einfach nur vertrauen.
Das ist Moskaus Sache nicht. Putin sieht, dass die Lage auf der Welt immer „chaotischer“ wird und Anlass zur Sorge gebe. „Dennoch hoffen wir, dass der gesunde Menschenverstand letztlich die Oberhand behält.“ Allein darauf mag er aber nicht setzen. In seiner Botschaft an die Nation präsentierte Putin im März „neue strategische Raketensysteme Russlands, die wir entwickelt haben als Reaktion auf den einseitigen Ausstieg der USA aus dem Vertrag über Raketenabwehr und die De-facto-Stationierung solcher Systeme auf dem Gebiet der USA und außerhalb der US-Grenzen“. Keine dieser neuartigen Waffen könne mit den derzeitigen Systemen abgefangen werden.
Den heftigen Anklagen wegen seines Vorgehens in der Ukraine und auf der Krim hält Moskau quasi erzwungene Selbstverteidigung entgegen. Als 2014 bei den slawischen Brüdern in Kiew gewaltsam das russlandfreundliche gegen ein westorientiertes Regime gewechselt wurde, hätte auch Deutschland als Garantiestaat eines Kompromisses zwischen dem Präsidenten Viktor Janukowitsch und seinen Gegnern vom Maidan tatenlos zugesehen. Aus Washington drückte „fuck the EU“-Nuland mit Arseni Jazenjuk einen USA-hörigen Regierungschef durch. Die Kündigung des gerade erst verlängerten Vertrages über die russischen Schwarzmeerstützpunkte rückte plötzlich auf die Tagesordnung. Diese traditionellen russischen Basen habe er der NATO nicht überlassen können, sagte Oberbefehlshaber Putin.
Die systematische Einkreisung seines Landes durch die NATO musste er freilich hinnehmen. Der Truppenaufmarsch zum Tag des Sieges am 9. Mai auf dem Roten Platz ist bei alledem mehr als ein nostalgisches Ritual, er ist ein Zeichen der Zeit. Die Spannungen bieten Anlass genug für die Mahnung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, nicht Russland, das Land und seine Menschen, zum Feind zu erklären. Dagegen stehe die Geschichte und „dafür steht zu viel auf dem Spiel“. Aufgabe verantwortlicher Politik sei es, „gefährlicher Entfremdung entgegenzuwirken“. Dazu bedarf es zumindest des Gespräches, eines Ausgleichs der Interessen, im besten Falle endlich einer wirklichen Aussöhnung.
Klaus Joachim Herrmann, Jahrgang 1953, Journalist, arbeitete zehn Jahre lang als Korrespondent für Neues Deutschland in Moskau.
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