von Jerry Sommer
Im Februar veröffentlichte die USA-Regierung Donald Trumps ihre neue Nuklearstrategie. Darin heißt es, Russland habe in seiner Militärstrategie die Schwelle für den Ersteinsatz von Atomwaffen gesenkt. Und: „Moskau droht und führt Übungen mit begrenzten nuklearen Ersteinsätzen durch.“ Die Erwartung Moskaus sei, durch einen frühzeitigen Ersteinsatz kleiner, taktischer Nuklearwaffen die USA und die NATO im Falle eines Konflikts zum Stillhalten bewegen zu können. Die Doktrin wird auch „Eskalation zur Deeskalation“ genannt. Auf diese Weise wolle Russland zum Beispiel nach einer Besetzung eines baltischen Staates einen Gegenschlag der USA oder der NATO verhindern – aus Angst vor einem umfassenden Nuklearkrieg, zu dem es sonst kommen könnte.
Diese Sicht wird von vielen westlichen Militärexperten geteilt. Zum Beispiel von Karl-Heinz Kamp, dem Leiter der dem Bund gehörenden Bundesakademie für Sicherheitspolitik: „2000 hat Putin eine neue nationale Sicherheitsstrategie herausgebracht, in der genau das drinsteht. Und es gibt dort ja auch die Aussage der Deeskalation – dass man zur Deeskalation den frühzeitigen Einsatz von Nuklearwaffen erwägt.“
Doch in den von Präsident Wladimir Putin im Jahr 2000 unterzeichneten öffentlichen Strategiedokumenten ist eine solche Aussage nicht enthalten. Darin heißt es, dass Russland Nuklearwaffen nur als Antwort auf einen Angriff mit nuklearen oder anderen Massenvernichtungswaffen einsetzen werde oder wenn bei einem großflächigen Angriff mit konventionellen Waffen „eine kritische Situation für die nationale Sicherheit der Russischen Föderation entsteht“.
In den späteren, 2010 und zuletzt 2014 veröffentlichten russischen Militärstrategien wurde die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen sogar weiter erhöht. Dort heißt es, dass „die Existenz des Staates selbst bedroht“ sein müsse, bevor russische Nuklearwaffen gegen einen konventionellen Angriff eingesetzt werden.
Wolfgang Richter, Oberst a.D. und Militärexperte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) folgert: „Das spricht jetzt gerade nicht für eine frühzeitige Eskalation, bevor dieser Extremfall eingetreten ist.“
Für diese Interpretation spricht auch, dass Russland seit 2000 seine konventionellen Streitkräfte grundlegend modernisiert hat. Zum Beispiel wurden weitreichende konventionell bestückte Marschflugkörper in Dienst gestellt. Russland ist zwar insgesamt den konventionellen NATO-Kräften nach wie vor deutlich unterlegen. Aber durch die eigene konventionelle Modernisierung ist Moskau inzwischen in einem geringeren Maße auf Nuklearwaffen angewiesen, um die konventionelle NATO-Überlegenheit auszugleichen.
Einige westliche Militärexperten vermuten, dass es geheime russische Dokumente gebe, in denen eine frühzeitige nukleare Eskalation vorgesehen sei. Doch Belege für diese Hypothese haben sie bisher nicht vorgelegt. Bruno Tertrais, stellvertretender Leiter des Pariser Forschungsinstituts Foundation pour la recherche stratégique und Anhänger der nuklearen Abschreckung, ist zwar sicher, dass Russland wie alle Atomstaaten detailliertere, geheime Militärplanungen besitzt. Aber: „Ich habe noch nie erlebt, dass ein Land eine geheime Militärdoktrin besitzt, die vollkommen anders ist als die veröffentlichte. Es gibt kleine Unterschiede, aber keinen vollständigen Gegensatz. Russland hat keine Strategie zu eskalieren, um zu deeskalieren. Es gibt, wenn überhaupt, nur wenig Belege dafür, dass es plant, Atomwaffen frühzeitig in einem Konflikt einzusetzen.“
Einige russische Militärtheoretiker sprechen sich seit vielen Jahren für eine andere Nuklearstrategie aus. Die Russlandexpertin Olga Oliker vom keineswegs russlandfreundlichen Washingtoner Thinktank Center for Strategic and International Studies schlussfolgert daraus in einem Interview mit der Website Armscontrolwonk: „Es gibt einige Russen, die in Reden und Schriften immer wieder einen frühzeitigen Einsatz kleiner Atomwaffen befürworten und versuchen, dies zur offiziellen Strategie zu machen. Das belegt meiner Meinung nach aber nur, dass dies eben nicht offizielle russische Strategie ist.“
Zudem gibt es keine Aussagen führender russischer Politiker und Militärs, dass ein nuklearer Konflikt zwischen großen Atommächten begrenzt werden könnte. Auch das spricht gegen das Vorhandensein einer Moskauer Strategie zum frühzeitigen Einsatz taktischer Atomwaffen. Olga Oliker weiter: „Russen, die die Militärstrategie ausgearbeitet haben und darüber sprechen, halten es für unmöglich, eine nukleare Eskalation zu verhindern. Ein Nuklearschlag werde einen nuklearen Gegenschlag und dieser einen weiteren Nuklearschlag nach sich ziehen und damit die Welt vernichten. Das sei unvermeidbar und deshalb viel zu gefährlich, um es überhaupt zu riskieren.“
USA und NATO gehen allerdings davon aus, Russlands Militärübungen würden den frühzeitigen Einsatz taktischer Atomwaffen einschließen. Im Jahresbericht 2016 von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg heißt es sogar: „Bei diesen Übungen wurden nukleare Angriffe auf NATO-Alliierte und im März 2013 auf Schweden simuliert.“
Der französische Militärexperte Bruno Tertrais hat diese Behauptung untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, sie sei nicht haltbar: „Wenn man zum Beispiel auf das Ereignis in der Nähe von Schweden 2013 schaut, erkennt man, dass es überhaupt keinen Beweis dafür gibt, dass dort ein Nuklearschlag simuliert wurde. Es wurde mit Sicherheit ein Bombenangriff simuliert, aber es gibt keinerlei Beweis, dass dieser nuklear gewesen sein soll.”
Russland setzt bei seinen Militärübungen allerdings – wie die NATO auch –-Kampfflugzeuge ein, die sowohl mit konventionellen als auch mit nuklearen Waffen ausgerüstet werden können. Das sei an und für sich schon eine nukleare Machtdemonstration, glaubt Karl Heinz Kamp von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik: „Russland will nukleare Signale senden. Jetzt kann man ja bestimmte Sachen nicht machen: Sie können nicht mit einer Nuklearbombe irgendwohin fliegen, um das Signal zu schicken. Sie können mit Trägern arbeiten.“
Doch den Einsatz doppelt verwendbarer Waffenträger bei Übungen halten andere Experten für einen schwachen Beleg für eine angebliche Nuklearstrategie Moskaus, die auf den frühzeitigen Einsatz von Atomwaffen setzt. Wie Bruno Tertrais kommen auch andere Studien zu dem Ergebnis, dass bei den großen russischen SAPAD-Militärübungen, etwa 2013 und 2017, keine nuklearen Ersteinsätze simuliert worden sind. Das sei auch gar nicht notwendig, da die modernisierten konventionellen Kräfte Russlands in den Übungsszenarien für einen Erfolg gegen die Angreifer ausgereicht hätten.
Hintergrund der Sorgen um eine Senkung der atomaren Schwelle in der russischen Militärstrategie ist die Befürchtung, dass sich Moskau nach der Krim-Annexion militärisch auch gegen die baltischen Staaten wenden könnte. Doch daraus – und aus der NATO-Aufrüstung in den östlichen Mitgliedsstaaten – sind auf beiden Seiten Bedrohungswahrnehmungen entstanden, die mit der Realität immer weniger zu tun haben. Wolfgang Richter (SWP) setzt vor diesem Hintergrund auf Sachlichkeit und Dialog: „Das ist einfach die Vermeidung eskalatorischer Rhetorik, eine Rückkehr zur nüchternen Analyse statt zur Pflege von Narrativen, die in jede Bewegung der anderen Seite sofort etwas hineininterpretiert, dass das eigene Vorurteil dann zu bestätigen scheint.“
Die Hypothese einer russischen Militärstrategie, die auf frühzeitigen Einsatz kleiner Nuklearwaffen setzt, hat noch einen anderen Grund. Sie dient der USA-Regierung dazu, die Entwicklung neuer, sogenannter kleiner Atomwaffen zu rechtfertigen. Bruno Tertrais hält solche neuen Nuklearwaffen für durchaus sinnvoll, auch wenn seiner Meinung nach die US-amerikanische Einschätzung der russischen Atomstrategie falsch ist. Wolfgang Richter hingegen sieht Gefahren: „Es nährt nämlich die Illusion, dass doch ein Nuklearkrieg begrenzt führbar wäre. Und ich glaube, das ist eine gefährliche Illusion, die im Ernstfall oder im Krisenfall zu falschen Schlussfolgerungen führen kann, die dann vor allem natürlich die sogenannten Frontstaaten zu bezahlen hätten.“
Auf dem NATO-Gipfel im Juli in Brüssel geht es auch um die Nuklearwaffenstrategie der USA und der NATO. Doch es ist unwahrscheinlich, dass sich an der vorherrschenden westlichen Einschätzung der russischen Atomstrategie etwas ändern wird – auch wenn sie nicht auf Fakten basiert.
Modifizierte Fassung eines Beitrags für die Senderreihe „Streitkräfte und Strategien“ auf NDR 4 am 21./22. April 2018.
Schlagwörter: Atomwaffen, Jerry Sommer, Militärstrategie, NATO, Russland, USA