von Ronald Friedmann
Über die DDR – ihre Geschichte, ihr Ende und ihre Abwicklung – sind inzwischen ungezählte Bücher und Artikel erschienen. Ein riesiger staatlicher Forschungsapparat, aus Steuermitteln großzügig finanziert, hat sich mit zahllosen großen und kleinen Themen befasst und in der übergroßen Mehrzahl der Fälle die vom Auftraggeber gewünschten und erwarteten Ergebnisse geliefert: Die DDR wurde und wird auf „SED-Diktatur“, „Stasi“ und „Misswirtschaft“ reduziert. Knapp dreißig Jahre nach dem euphemistisch als „Wiedervereinigung“ bezeichneten Anschluss des zweiten deutschen Staates an die alte (und altgebliebene) Bundesrepublik regt sich darüber kaum noch ein Mensch auf. Die vielen hundert Millionen Euro, die Jahr für Jahr in den „Forschungsverbund SED-Staat“, die Gauck-Birthler-Jahn-Behörde und vergleichbare Einrichtungen investiert wurden, haben sich ausgezahlt. Inzwischen kann kein Zweifel mehr daran bestehen, wer in der breiten Öffentlichkeit die Deutungshoheit über die DDR und ihre Geschichte gewonnen hat.
Da muss man es schon als große Ausnahme bezeichnen, wenn in einem nicht unwichtigen Wissenschaftsverlag ein Buch erscheint, dessen Herausgeber und Autoren den Begriff „Wiedervereinigung“ – aus Marketing-Gründen? – zwar im Titel verwenden, ihn aber ansonsten als irreführend ablehnen, weil die DDR im Zuge der „Wiedervereinigung“ tatsächlich behandelt wurde wie ein im Krieg besiegter Staat. Die Überraschung ist allerdings weniger groß, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass das Buch nicht in Deutschland, sondern in den USA erschienen ist.
Axel Fair-Schulz und Mario Keßler, beide in der DDR geboren und aufgewachsen, beide inzwischen renommierte Historiker mit sehr unterschiedlichen Entwicklungswegen, haben kürzlich das Buch „East German Historians Since Reunification. A Discipline Transformed“ (Ostdeutsche Historiker seit der Wiedervereinigung. Die Transformation einer Disziplin) herausgebracht. Auf rund 250 Seiten lassen sie fünfzehn Wissenschaftler aus den USA und Deutschland, richtiger: Wissenschaftler aus Deutschland mit DDR-Vergangenheit, zu Wort kommen, die detailliert und facettenreich die Stärken und Schwächen der DDR-Geschichtswissenschaft, ihre systematische Zerschlagung in der ersten Hälfte der 90er Jahre und die Konsequenzen für das größer gewordene Deutschland beleuchten.
Mehr als eine Kuriosität ist, dass für beide Herausgeber eine Stadt namens Potsdam Mittelpunkt ihres beruflichen Lebens ist: Keßler, Jahrgang 1955, arbeitet am Zentrum für Zeithistorische Forschung in der brandenburgischen Landeshauptstadt, Fair-Schulz, Jahrgang 1969, an der Staatsuniversität New York in Potsdam (NY), in deren hauseigenem Verlag das hier zu besprechende Buch auch erschienen ist. Die beiden grundverschiedenen Potsdams stehen in gewisser Weise für unterschiedliche Blickwinkel auf einen zeitgeschichtlichen Vorgang, in dem die Herausgeber, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße, sowohl Objekt als auch Subjekt waren.
Die Mehrzahl der Beiträge dieses Buches entstand vor einer wissenschaftlichen Konferenz unter dem Titel „The Transformation of Historical Scholarship in Eastern Germany since 1990“ (Die Transformation der Geschichtswissenschaft in Ostdeutschland seit 1990), die im September 2008 in Potsdam (New York) stattfand. Die Texte wurden, wo möglich und notwendig, dem aktuellen Kenntnisstand angepasst. Gerade deswegen ist es erstaunlich, wie wenig die ausnahmslos kritisch (und selbstkritisch) denkenden Autoren tatsächlich die welthistorische Dimension des Epochenbruches 1989/91 für ihr eigenes Wissenschaftsgebiet verstanden und verinnerlicht haben: Natürlich wäre es wünschenswert und vernünftig gewesen, wenn die im Herbst 1989 begonnene Selbsterneuerung der DDR-Geschichtswissenschaft auf marxistischer Grundlage – also unter bewusster und konsequenter Absage an die „Verpflichtung“, politisch-ideologischen Vorgaben zu folgen – auch im vergrößerten Deutschland hätte fortgeführt werden können. Und natürlich ist Konrad H. Jarausch, Professor für Europäische Zivilisationen an der University of North Carolina und ehemaliger Direktor des Zentrums für Zeitgeschichte, unbedingt zuzustimmen, wenn er von „unleugbaren Verlusten“ schreibt, die durch die Zerschlagung der DDR-Geschichtswissenschaft entstanden sind. Der erst kürzlich im Alter von fast 91 Jahren verstorbene Georg G. Iggers, Emeritus an der University of Buffalo, hatte gleichfalls recht, wenn er feststellte, dass die „DDR-Wissenschaft zu Nazismus und Holocaust im Jahre 1989 einen Stand erreicht hatte, der es ihr erlaubte, einen substantiellen Beitrag zum internationalen Forschungsstand zu leisten.“ Iggers verwies insbesondere auf die Revolutionsforschung in Leipzig, die weltweit einen außerordentlichen Ruf genoss. Axel Fair-Schulz wiederum würdigte das von Jürgen Kuczynski gegründete Institut für Wirtschaftsgeschichte als „eine der innovativsten Orte der DDR-Forschung“, an dem zu einer Vielzahl von Themen gearbeitet wurde.
Letztlich war es der ebenfalls 2017 verstorbene William A. Pelz, Professor am Elgin College in Illinois und Direktor des Instituts für Geschichte der Arbeiterklasse in Chicago, der kurz und präzise begründete, warum es in den Jahren nach 1990 nicht wirklich eine Chance für die DDR-Geschichtswissenschaft gab: Unter dem Titel „Die Rache der Krupps“ stellte er fest, dass „die Eliminierung, zumindest aber die Marginalisierung von Marxismus, Sozialismus und jeder Art von kritischer antikapitalistischer Geschichtsforschung oberste Priorität“ hatte.
Genau das ist der entscheidende Punkt: Es ging seitens der alten Bundesrepublik niemals um eine ehrliche „Evaluation“ der DDR-Wissenschaft, einschließlich ihrer Historiographie, sondern immer um die dauerhafte Zerschlagung eines mehr oder weniger starken Gegners, der den Kalten Krieg der Systeme verloren hatte. Wer in dieser Systemauseinandersetzung auf „Gnade“, also faire Behandlung, gehofft hatte, muss sich den Vorwurf der Naivität gefallen lassen.
Insofern sollte es auch nicht überraschen, dass nach 1990 75 Prozent der DDR-Akademiker ihre Arbeitsplätze an den Universitäten, Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen verloren und dass von den 1878 Professoren, die in den Jahren 1994 bis 1998 in Ostdeutschland beschäftigt waren, nur etwas mehr als einhundert aus Ostdeutschland kamen.
Wiederholt wird in dem Buch – zu Recht – beklagt, dass für die übergroße Mehrzahl der jüngeren DDR-Historiker die wissenschaftliche Laufbahn mit dem Jahr 1990 endete und dass sie in der Folge ihren Lebensunterhalt in völlig anderen Berufen verdienen mussten. Ältere Wissenschaftler seien in den Vorruhestand verabschiedet worden und hätten ihre wissenschaftliche Arbeit nur als Privatleute fortsetzen können. Doch dazu müssen, bei aller berechtigten und notwendigen Kritik am Umgang der Bundesrepublik mit der DDR-Geschichtswissenschaft und ihren Protagonisten einige durchaus relativierende Feststellungen getroffen werden: Kein privat forschender DDR-Bürger hätte, unabhängig von seiner wissenschaftlichen Qualifikation, Zugang zum Parteiarchiv oder einem staatlichen Archiv erhalten. In keiner Bibliothek hätte er, von wenigen Titeln aus „DDR-verbundenen“ Verlagen wie dem Kölner Pahl-Rugenstein Verlag abgesehen, „Westliteratur“ ausleihen oder auch nur einsehen können, ohne eine offizielle Bescheinigung über den „wissenschaftlichen Verwendungszweck“ vorzulegen, die er natürlich niemals bekommen hätte. Und kein DDR-Bürger hätte, selbst bei Übernahme aller Kosten, ein Buch publizieren können, das nicht in einem offiziellen Forschungsplan vorgesehen war und für das nicht mehrere „unabhängige“ Gutachter die notwendige „Parteilichkeit“ bescheinigt hätten.
Kurzum, das Buch lässt – aus Sicht des Rezensenten – einige wichtige Aspekte unberücksichtigt, was jedoch keineswegs seinen Wert schmälert. Es ist eine fesselnde Lektüre, die eine deutsche Übersetzung verdient hätte.
Axel Fair-Schulz und Mario Kessler: East German Historians Since Reunification. A Discipline Transformed. State University of New York (SUNY) Press, Albany, 2017.
Dr. Ronald Friedmann, Jahrgang 1956, studierte Lateinamerikawissenschaften und Geschichte und ist heute als Autor und Online-Redakteur tätig.
Schlagwörter: Axel Fair-Schulz, DDR, Geschichte, Geschichtswissenschaft, Mario Keßler, Ronald Friedmann