von Michael Brie
Am 6. Januar 1881 schrieb der holländische Sozialist Ferdinand Domela Nieuwenhuis an Karl Marx einen Brief, in dem er erstens um Unterstützung für die Herausgabe einer populären Ausgabe des „Kapital“ in niederländischer Sprache bat. Zweitens stellte Nieuwenhuis an Marx die Frage, welche gesetzgeberischen Maßnahmen die Sozialisten bei einer Machtübernahme zuerst ergreifen sollten. Er hatte vorgeschlagen, dieses Problem auf einem Weltkongress der Sozialisten in der Schweiz im gleichen Jahr zu diskutieren.
In Marx’ Antwort vom 22. Februar ist das Folgende zu lesen: „Die ‚Frage‘ des bevorstehenden Züricher Kongresses, die Sie mir mitteilen, scheint mir – ein Fehlgriff. Was in einem bestimmten, gegebnen Zeitmoment der Zukunft zu tun ist, unmittelbar zu tun ist, hängt natürlich ganz und gar von den gegebnen historischen Umständen ab, worin zu handeln ist. Jene Frage aber stellt sich in Nebelland, stellt also in der Tat ein Phantomproblem, worauf die einzige Antwort – die Kritik der Frage selbst sein muss. Wir können keine Gleichung lösen, die nicht die Elemente ihrer Lösung in ihren Data einschließt. Übrigens sind die Verlegenheiten einer plötzlich durch einen Volkssieg entstandnen Regierung keineswegs etwas spezifisch ‚Sozialistisches‘. Umgekehrt. Die siegreichen Bourgeoispolitiker fühlen sich sofort durch ihren ‚Sieg‘ geniert, während der Sozialist wenigstens ungeniert eingreifen kann. Auf eins können Sie sich verlassen, eine sozialistische Regierung kommt nicht ans Ruder eines Landes ohne so entwickelte Zustände, dass sie vor allem die nötigen Maßregeln ergreifen kann, um die Bourgeoismasse so ins Bockshorn zu jagen, dass das erste desideratum – Zeit für nachhaltige Aktion – gewonnen wird.“
Tatsächlich fühlte sich die erste sozialistische Regierung der Welt, die der Bolschewiki und linken Sozialrevolutionäre, nicht „geniert“ und ergriff sofort „die nötigen Maßregeln“, mit denen sie die russische Bourgeoisie ins Bockshorn jagte. Mit dem Sieg im Bürgerkrieg wurde dann auch eine Atempause gewonnen. Aber worin die „nachhaltige Aktion“ einer weiteren Transformation über die Befestigung der eigenen Herrschaft hinaus bestehen sollte, war zunächst völlig unklar. Dies blieb bis 1928/9 heftig umstritten. Konzeptionen einer regulierten Marktwirtschaft, des rätedemokratischen Systems oder einer Kommandowirtschaft standen nebeneinander. Dann kam es zur Durchsetzung des Konzepts eines neuen Kriegskommunismus in Verbindung mit schnellster Industrialisierung und staatskollektivistischer Leibeigenschaft modernen Typs auf dem Dorfe und in vielen Großfabriken. Nach Stalins Tod 1953 und in den 1960er Jahren wurde die Frage der „nachhaltigen Aktion“ wieder akut. Deng Xiaopings Politik der Öffnung und Reform und Gorbatschows Perestroika warfen sie erneut auf.
Wieso aber konnte Marx mit solcher Entschiedenheit die Frage nach der Agenda einer revolutionären sozialistischen Regierung von sich weisen? Woher die Überzeugung, dass im Moment der Not auch die richtigen Antworten gefunden werden? Noch einmal aus seinem Brief an Nieuwenhuis: „Die doktrinäre und notwendig phantastische Antizipation des Aktionsprogramms einer Revolution der Zukunft leitet nur ab vom gegenwärtigen Kampf. Der Traum vom nah bevorstehenden Untergang der Welt feuerte die primitiven Christen an in ihrem Kampf gegen das römische Weltreich und gab ihnen Siegesgewissheit. Die wissenschaftliche Einsicht in die unvermeidbare und stetig unter unseren Augen vorgehende Zersetzung der herrschenden Gesellschaftsordnung und die durch die alten Regierungsgespenster selbst mehr und mehr in Leidenschaft gegeißelten Massen, die gleichzeitig riesenhaft fortschreitende positive Entwicklung der Produktionsmittel – dies reicht hin als Bürgschaft, dass mit dem Moment des Ausbruchs einer wirklich proletarischen Revolution auch die Bedingungen ihres (wenn auch sicher nicht idyllischen) unmittelbaren, nächsten Modus operandi gegeben sein werden.“
In anderen Briefen aus dieser Zeit kritisierte Marx mit gleicher Entschiedenheit viele konkrete Reformvorschläge vom Erbrecht bis hin Erhebung einer umfassenden Grundsteuer, um vor allem die Landeigentümer zur Kasse zu bitten. All dies seien nur Teillösungen, die nicht an die Wurzel der kapitalistischen Produktionsweise gingen. Ebenso hatte er schon früher Überlegungen der Proudhonisten für eine umfassende Reform des Kreditwesens als unzulänglich zurückgewiesen, da damit die Kapital-Arbeit-Verhältnisse in den Unternehmen nicht beseitigt würden. Den französischen Sozialisten empfahl er 1880 die strikte Unterscheidung zwischen einem demokratischen und sozialen Reformprogramm der Gegenwart und der umfassenden Durchsetzung eines auf Gemeineigentum basierenden Sozialismus nach Übernahme der Macht. Bei ihm gingen der Kampf im Hier und Jetzt, um eine revolutionäre Leidenschaft zu entfachen, und die Gewissheit, dass die Arbeiter als die zukünftigen Herrscher über ihr Schicksal nach dem „Hammerschlag der Revolution“ (Rosa Luxemburg) dann auch die richtigen Schritte einleiten werden, Hand in Hand. Eine inhaltliche Verbindung der Versuche, die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise unter den gegebenen Bedingungen sozialer und demokratischer zu lösen, mit den Aufgaben nach einer erfolgreichen Revolution wurde bewusst ausgeschlagen, erschien als Ablenkung von einem konsequenten Antikapitalismus.
Im Oktober 1917 kam es zur Probe auf das Exempel – oder wie Friedrich Engels immer wieder sagte: „The proof of the pudding is in the eating.“ Eine rein sozialistische Regierung kam in Russland an die Macht. Ihre bolschewistische Führung war umfassend marxistisch geschult. Lenin selbst war einer der besten Kenner des Marxschen Werks in jener Zeit überhaupt. Seine Regierung genierte sich tatsächlich in keiner Hinsicht, die Bourgeoisie und alle jene, die als „kleinbürgerlich“ abgestempelt wurden, „ins Bockshorn“ zu jagen. Sofort wurden bürgerliche Zeitungen verboten, Druckereien beschlagnahmt, Verhaftungen vorgenommen. Der primäre „modus operandi“ war der Bürgerkrieg – keinesfalls nur (aber natürlich auch, nicht zuletzt durch die imperialistischen Kräfte in West wie Ost) aufgezwungen. Wie Lenin schon am 10. Januar 1918, kurz nach der Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung, sagte: Wir „antworten […] auf alle Vorwürfe und Anklagen, wir praktizierten den Terror, die Diktatur, den Bürgerkrieg, obwohl wir bei weitem noch nicht einen wirklichen Terror angewandt haben, weil wir stärker sind als sie – wir haben die Sowjets, es wird genügen, die Banken zu nationalisieren und die Vermögen zu konfiszieren, um sie zur Unterwerfung zu zwingen – , deshalb antworten wir auf alle Anklagen, wir praktizierten den Bürgerkrieg: Jawohl, wir haben offen verkündet, was zu verkünden keine einzige Regierung imstande war. Die erste Regierung der Welt, die imstande ist, offen von Bürgerkrieg zu reden, ist die Regierung der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenmassen.“
Es gibt mittlerweile die sehr kommode Vorstellung aufgeklärter Linker, die bolschewistische Strategie der Zentralisierung aller ökonomischen, politischen und geistigen Macht in einem Parteistaat habe mit Marx nichts, rein gar nichts zu tun. So schreibt Peter Hudis: „[…] nur wenige Forscher würden heute dafür streiten, Marx’ philosophische Perspektive habe etwas mit den totalitären Einparteienstaaten zu tun, die in seinem Namen herrschten.“ Er verweist auf Marx’ „eindrücklichen Einsatz für Demokratie, freie Assoziation und Kritik staatlicher Herrschaft, die man genauso in seinen frühestens wie in seinen letzten Schriften finden kann“. Und nun tut sich ein schreiendes Paradoxon auf: Wie konnten die, die sich auf Marx beriefen und seinem kategorischen Imperativ mit aller Leidenschaft und unter Aufgebot ihres Lebens verpflichtet waren, es komme darauf an, „alle Verhältnisse umzuwerfen, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ ein politisches System errichten, dass so augenscheinlich mit neuer Knechtung einherging? Dies war auch durch die Vorstellungen bedingt, die sie sich machten. Marx hatte in einem solchen Zusammenhang einmal geschrieben: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ Für die kommenden sozialen Revolutionen im Unterschied zu den bürgerlichen politischen Revolutionen sollte aber dieses Mal die „Poesie“, die visionäre Leidenschaft und Kraft, nicht aus der Vergangenheit, sondern „nur aus der Zukunft“ geschöpft werden.
Marx hatte ein klares Zukunftsbild, das der seinen Anhängern hinterließ. In diesem fehlten zweifelsohne „Rezepte […] für die Garküche der Zukunft“, aber es war keinesfalls inhaltsleer, sondern sehr inspirierend. Marx ging es um eine Lösung der Zeitprobleme, die radikal, die an die Wurzel geht. Dazu brach er 1843/44 mit Hegels Versuch, eine Vermittlung der Widersprüche zwischen bürgerlichen Gesellschaft (und dem Menschen als Bourgeois) und dem Staat (und dem Menschen als Citoyen) zu suchen. Das Problem dieser Abwendung von Hegel wird deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, wie Marx sich in seiner Schrift Zur Judenfrage auf Rousseau bezieht. Er zitiert diesen so: „Die Abstraktion des politischen Menschen schildert Rousseau richtig also: ‚Wer den Mut hat, einem Volke eine Rechtsordnung zu geben, muss sich fähig fühlen, sozusagen die menschliche Natur zu ändern, jedes Individuum, das in sich selbst und für sich allein ein vollkommenes Ganzes ist, in den Teil eines größeren Ganzen umzuwandeln, von dem dieses Individuum in gewisser Weise sein Leben und Sein empfängt, an die Stelle einer physischen und unabhängigen eine moralische Teilexistenz zu setzen. Er muss dem Menschen seine eigenen Kräfte nehmen, um ihm fremde dafür zu geben, die er nur mit Hilfe anderer gebrauchen kann.‘“
An dieses Zitat von Rousseau angefügt sind dann die berühmten Sätze: „Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. […] Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch […] in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‘forces propres‘ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ Um der radikalen Emanzipation willen wird behauptet, es käme vor allem darauf an, die Kräfte gesellschaftlich zu organisieren und diese dann so zu gestalten, dass dadurch in der Perspektive die freie Entwicklung der einzelnen möglich wird.
Was aber an Kraft bleibt den Einzelnen als Einzelne, wenn sie wirklich alle ihre Kräfte unmittelbar gesellschaftlich organisieren? Es gibt doch keine ungesellschaftlichen Kräfte der Individuen. Wird ihr und ihm dann nicht zu viel genommen? Geben sie nicht zu viel her? Besteht nicht die Gefahr, dass sie gegenüber der Macht Aller zur eigenen individuellen Ohnmacht verurteilt werden? Die Proudhonisten und Bakunisten warfen Marx und den Marxisten genau diese Blindheit für die Gefahren vor, die in der anvisierten Diktatur des Proletariats liege. Zeitgenossen waren es und nicht erst die Nachgeborenen, durch die Praxis Belehrten, die die Verkehrung von radikaler Emanzipation in neue Unterdrückung vorhersahen.
Wenn frei sich vereinigende Menschen ihre eigenen Gesetzgeber sind, dann geben sie sich vorher nicht vorhandene gemeinsame Kräfte, schränken aber den freien Gebrauch ihrer Kräfte als Einzelne zugleich ein. Jede und jeder existiert nun zumindest doppelt – als Individuum mit eigenen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen und als Mitglieder der frei gegründeten Assoziation mit gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen. Es gibt also keine Zurückführung auf „den“ Menschen, sondern „nur“ eine Ausprägung neuer Formen von Individualität und Gesellschaftlichkeit, die ihrerseits der Vermittlung bedürfen, soll nicht die unmittelbare Subsumtion des einen Pols unter den anderen erfolgen. Aber ist dies nicht viel poetischer als jede Widerspruchsfreiheit? Es wäre eine Vision, sehr nahe an der, die Paul Levi bei Rosa Luxemburg sieht: „Ihre im tiefsten ausgeglichene Seele kannte keine Scheidungen und Wände. Ihr war das All ein lebendiger Prozess des Werdens, in dem nicht Hebelkraft und Sauerstoffbehälter das Walten der Natur ersetzen können, in dem das Kämpfen, Ringen, Streben der Menschen, in dem der große Kampf, der dem einzelnen, der den Geschlechtern, der den Ständen, der den Klassen obliegt, die Form des Werdens ist. In der sie … den lebendigsten Kampf wollte, weil er die lebendigste Form des Werdens ist.“
Marx, so meine These, verdeckt diesen Widerspruch von Individualität und Gesellschaftlichkeit. Er suggeriert ein unmögliches unmittelbares Ineinanderübergehen von Freiheit der Einzelnen und Freiheit Aller, das jeder Vermittlung entbehren kann. Gerade die wachsende Freiheit, die doch das Ziel ist, muss zwangsläufig in neuer Weise die Widersprüche zwischen individueller, kollektiver und gesellschaftlicher Reproduktion wie Entwicklung erzeugen. Nur sollen diese Widersprüche nicht mehr unter dem Primat der Kapitalakkumulation stehen. Marx’ kommunistische Vision unmittelbarer Identität von individueller und gesellschaftlicher Interessen war und ist nicht realisierbar. Realisierbar dagegen ist eine sozialistische Gesellschaft, in der die freie Entwicklung der Einzelnen und die freie Entwicklung aller in vielfachen Vermittlungsformen immer wieder neu solidarisch aufeinander bezogen wird.
Marx wollte eine radikale Lösung für die Antagonismen des Kapitalismus. Er wählte das unmittelbare kommunistische Zusammenfallen von individuellen und gesellschaftlichen Interessen. Er hatte damit aber die „Gleichung“, die der Kapitalismus aufmachte, will man ihn emanzipatorisch überwinden, zu einfach, sprich: falsch, gelöst. Ungewollt hat Marx auf diese Weise an einer Nebelwand gearbeitet. Sie verstellte den Blick auf die Art und Weise, wie sozialistische Politik unter den Bedingungen von eigener staatlicher Macht zu realisieren ist. Für die Notwendigkeit, den Raum der Freiheit ökonomisch, politisch und kulturell aufrechtzuhalten und nicht allein auf die gesellschaftliche Organisation aller Kräfte zu setzen, fehlte seinen bolschewistischen Nachfolgern das Bewusstsein.
Als die Nebelwand zerriss, die die Zukunft verstellt hatte, verfügten sie über keine marxistischen Denkinstrumente für die neuen Widersprüche. Mit Marx wird die Linke im 21. Jahrhundert also auch gegen ihn und über ihn hinausdenken müssen. Auch die sozialistischen Gegner von Marx, die er als „falsche Brüder“ bezeichnete, brauchen wir für den lebendigen Dialog. Nur dann kann die Linke ernsthaft hoffen, dazu beizutragen, radikal jene Verhältnisse zu überwinden, in denen die Menschen ausgebeutet und unterdrückt werden. Nur dann öffnet sich ein Weg suchenden Vorangehens, um die Möglichkeiten eines guten Lebens in einer solidarischen Gemeinschaft mit anderen und in einer schönen Welt, in der Platz für viele Welten ist, zu gestalten.
Schlagwörter: Bourgeois, Friedrich Engels, Kapitalismus, Karl Marx, kommunistisch, Michael Brie, Regierung, sozialistisch, Zukunft