von Bernhard Mankwald
Rolf Reißig behandelt in der Blättchen-Sonderausgabe 3/2017 zum Thema „100 Jahre Oktoberrevolution“ dieses Ereignis unter dem Aspekt der Transformation. Damit wird für ihn „das Substantielle bei der Umwandlung des Kapitalismus in den Mittelpunkt gestellt“. Das bedeutet unter anderem, dass die Ergebnisse einer solchen Umwälzung nicht unbedingt den propagierten Zielen entsprechen, sondern ganz wesentlich von den aktuellen Voraussetzungen abhängen. Umgekehrt kann man daraus schließen, dass Konzepte zur Transformation ohne reale Folgen bleiben, solange nicht eine Krise des kapitalistischen Systems die Gelegenheit zu ihrer Verwirklichung bietet. Ein Ausweg aus diesem Dilemma besteht darin, Demokratie nicht nur als unentbehrliches Merkmal des angestrebten Endzustandes zu verstehen – sondern auch als einziges wirksames Mittel zu seiner Verwirklichung.
Diese Ansicht vertrat jedenfalls Karl Marx in einer Reihe aufeinanderfolgender Entwürfe, in denen er seine Konzepte fortwährend der historischen Entwicklung anpasste. Im „Manifest der Kommunistischen Partei“ aus dem Jahr 1848 setzte er die „Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse“ gleich mit der „Erkämpfung der Demokratie“ – mit dem Endergebnis, dass „alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert“ wird. Das Proletariat werde seine Herrschaft also dazu nutzen, die Klassengegensätze und damit schließlich auch seine eigene Existenz aufzuheben.
Das „Manifest“ erschien am Vorabend einer neuen Revolution, die durch eine Wirtschaftskrise ausgelöst wurde und sich nur wesentlich bescheidenere Ziele setzen konnte. Im französischen Parlament herrschte die „legislative Diktatur der vereinigten Royalisten“; die Arbeiter wurden zu einem Aufstand getrieben, den sie nicht wollten und dem sie nicht gewachsen waren. Die Forderung nach der „Diktatur der Arbeiterklasse“, die als Parole der Kämpfe entstand und als Antithese zur damals sehr gegenwärtigen „Diktatur der Bourgeoisie“ zu verstehen ist, musste für den Augenblick eine vage Zukunftsperspektive bleiben.
Der militärischen Gewalt, zu der die Bourgeoisie Zuflucht genommen hatte, musste sie sich schließlich selbst unterordnen. Louis Napoleon Bonaparte wurde legal mit den Stimmen der Bauern zum Präsidenten gewählt und gründete dann nach dem Vorbild seines Onkels durch einen Staatsstreich sein Imperium, in dem sich der wuchernde Staatsapparat scheinbar selbständig über die kämpfenden Klassen erhob, die einander das Gleichgewicht hielten. Zu diesem Balanceakt gehörten auch militärische Abenteuer; eines davon führte zu einer neuen Krise, diesmal in Form eines verlorenen Krieges.
Marx hatte nun Gelegenheit, einen sehr realen Versuch der Demokratisierung zu schildern, da die Stadt Paris zum ersten Mal seit der Revolution von 1789 eine eigene kommunale Verwaltung bildete. „Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit. Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller andern Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts, musste der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden.“ Diese Verfassung lieferte die Wähler also nicht für eine ganze Legislaturperiode ihren gewählten Vertretern aus, sondern gab ihnen das Recht, sie jederzeit zu ersetzen. Die Volksvertreter mussten sich nicht darauf beschränken, eine mächtige Regierung zu kontrollieren, sondern übten selbst deren Befugnisse aus und kontrollierten auch die Beamten. – Zu welchen Transformationen der Gesellschaft ein solches Experiment hätte führen können, bleibt der Spekulation überlassen; die Kommune wurde mit brutaler militärischer Gewalt niedergeworfen, die Zehntausende von Opfern kostete. Die Darstellung von Marx entstand gewissermaßen als Nachruf und ist im entsprechenden wohlwollenden Tonfall gehalten.
Lenin berief sich vor allem in seiner Schrift „Staat und Revolution“ auf dieses Vorbild, führte seine Versprechungen aber durch die eigene Praxis innerhalb von wenigen Jahren ad absurdum. Diese Drehung um 180 Grad hatte er jedoch schon im Konzept seiner „Organisation der Berufsrevolutionäre“ vorweggenommen. An Stelle demokratischer Kontrolle setzte Lenin auf Kontrolle von oben – die Mitglieder seiner Organisation sollten aus Erfahrung wissen, „dass eine aus wirklichen Revolutionären bestehende Organisation vor keinem Mittel zurückschrecken wird, wenn es gilt, ein untaugliches Mitglied loszuwerden“. Vertrauen war also für Lenin so wichtig, dass er es durch eine strikte Überwachung und alle möglichen Repressalien durchsetzen wollte; die „Kameradschaft“ zwischen Kontrolleuren und Kontrollierten sah er davon unberührt.
Das ist der Geist des Despotismus, und in diesem Geist lässt sich, wie der Ausgang des folgenden historischen Experiments zeigt, keine klassenlose Gesellschaft aufbauen. Die Entstehung der „Neuen Klasse“ ist also schon in den Ereignissen von 1917 angelegt, und wie ich 2006 in meinem Buch „Die Diktatur der Sekretäre“ schrieb, hat sie „einen langen und windungsreichen Marsch hinter sich. Ihre Protagonisten wandelten sich von strikt antikapitalistischen Agitatoren über Revolutions- und Bürgerkriegskämpfer zu Sekretären Stalinschen Typs, die die unwissenden Massen mit der Peitsche dem fernen Ziel des Kommunismus entgegentrieben; sie etablierten sich als die behäbige Bürokratie der Breschnew-Ära, wurden dann von neuen Unruhen aufgestört und verwandelten sich am Ende mit einer plötzlichen Kehrtwendung in genau das, was sie 80 Jahre früher bekämpft hatten: in eine Klasse von Kapitalbesitzern, die noch dazu deutlich kriminelle Züge trug.“ – Der letzte Nebensatz bezieht sich auf die Methoden, die bei der Privatisierung des vorgeblichen Volkseigentums angewandt wurden.
Wer aber aus einer solchen Tradition stammt, wird wohl kaum Menschenmassen für irgendeinen Weg der Transformation gewinnen, solange er sich nicht mit dieser Vergangenheit hinlänglich gründlich und glaubwürdig auseinandersetzt. Die aktuelle Diskussion könnte ein Schritt dazu sein; besonders dann, wenn man sich dazu entschließt, auch Beiträge zur Kenntnis zu nehmen, die vom gewohnten Paradigma abweichen.
Schlagwörter: Bernhard Mankwald, Demokratie, Diktatur, Karl Marx, Lenin, Transformation