von Ulrich Busch
Lesen!
Mehr lesen!
Man hört dies heute fast nur noch als vergebliche Aufforderung oder als Vorwurf, weil vermeintlich zu wenig gelesen werde. Und dann oftmals auch noch das Falsche, vor allem von Jugendlichen. Selbst Studenten vernachlässigen das Lesen, ebenso wie viele Professoren. Und das trotz aller Leseempfehlungen, dringlicher Aufforderungen und wiederholter Ermahnungen.
Wie wohltuend ist es da doch, zur Abwechslung mal mit einer gegenteiligen Auffassung konfrontiert zu werden – mit der Ansicht, dass exzessives Lesen mehr Schaden anrichte als nütze, weil „der natürliche, richtige Blick“ auf das Leben „durch das Bücherlicht mehr und mehr geblendet“ werde und „das fortwährende Einströmen fremder Gedanken die eigenen hemmen und ersticken, ja, auf die Länge, die Denkkraft lähmen“ würde. „Daher verdirbt das unaufhörliche Lesen und Studieren geradezu den Kopf […] Meine Gedanken verscheuchen, um denen eines Buches Platz zu machen, käme mir vor, wie was Shakespeare an den Touristen seiner Zeit tadelt, dass sie ihr eigen Land verkaufen, um Anderer ihres zu sehen.“
Besonders ausgeprägt soll dieses Verhalten bei Gelehrten sein, für welche die „Lesewut“ eine Art Flucht sei, die Flucht vor der Leere, „der Gedankenleere ihres eigenen Kopfes, welche nun das Fremde mit Gewalt hereinzieht: um Gedanken zu haben, müssen sie welche lesen […]“.
Die Zitate stammen aus dem zweiten Band des epochalen Werkes „Die Welt als Wille und Vorstellung“ von Arthur Schopenhauer. Dieses Buch, von Denkern wie Kierkegaard, Richard Wagner, Lew Tolstoi, Nietzsche, Strindberg, Marcel Proust, Ernst Bloch, Jorge Luis Borges, Arno Schmidt, Rüdiger Safranski und anderen hochgeschätzt, war nach anfänglicher Ignorierung während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in breiten Kreisen durchaus populär, wird aber heute kaum noch gelesen. Die erste Auflage datiert aus dem Jahre 1818. Das Buch ist also genau vor 200 Jahren erschienen. Sein Verfasser, der damals noch völlig unbekannte Philosoph aus Danzig, war gerade mal 30 Jahre alt, als er das Manuskript in den Druck gab. Sein Geburtstag jährt sich am 22. Februar dieses Jahres zum 230. Mal.
Das sind gleich zwei vergessene Jubiläen. Das ehrende Andenken an Karl Marx, der 1818, ein paar Monate vor Erscheinen von Schopenhauers Hauptwerk, in Trier geboren wurde, verdrängt offenbar alles andere und lässt in unserer Erinnerungskultur kaum noch Platz für kleinere Geister und für heute weniger häufig gelesene Werke als das „Kapital“.
Aber stimmt das wirklich? Wird das Marxsche „Kapital“ heute tatsächlich mehr, öfter und gründlicher gelesen als etwa das philosophische Hauptwerk von Arthur Schopenhauer? Falko Hennig zum Beispiel, der unter dem Motto „Marx 200“ in der Berliner Zeitung vom 1. Februar 2018 eine wenig geistvolle und kaum von Literaturkenntnis zeugende Kolumne schrieb, brüstete sich gleich zu Anfang damit, von Marx nichts weiter gelesen zu haben als das „Kommunistische Manifest“. (Und das stammt zu großen Teilen aus der Feder von Friedrich Engels.) An den philosophischen und ökonomischen Werken von Karl Marx sei er schon als Jugendlicher gescheitert, schreibt Hennig. Begeistert gelesen habe er dagegen die Bücher von Karl May.
Dieses Bekenntnis soll vielleicht witzig klingen, tatsächlich aber wirkt es nur peinlich. Denn es zeigt einerseits, dass Lesen eben nicht gleich Lesen ist, sondern dass es schon darauf ankommt, was oder wen man liest. „Denn“, so Schopenhauer, „das Denken mit einem wahrhaft großen Geiste stärkt den eigenen, […] versetzt ihn in den richtigen Schwung: es wirkt analog der Hand des Schreibmeisters, welche die Hand des Kindes führt.“ Und da liegen nun mal zwischen Karl Marx und Karl May Welten!
Andererseits aber hält das Nichtlesen von Marx unseren Kolumnisten keineswegs davon ab, sich in seinem Text zu Marx zu äußern und sich über dessen Theorien und Auffassungen auszulassen. Ist das nicht grotesk? Und wäre es hier nicht angebracht gewesen, zunächst ein paar Werke von Marx zu lesen, bevor man darüber schreibt?
Das Beispiel hätte keinerlei Bedeutung, wäre es nicht typisch für unsere Zeit, in der viele Menschen, auch Studenten und Professoren, erst recht aber Journalisten, glauben, auf eine gründliche Lektüre verzichten zu können, bevor sie sich über einen Gegenstand, ein Buch oder eine Person äußern. Sie folgen damit unbewusst Schopenhauer, der meinte, Lesen sei „ein bloßes Surrogat des eigenen Denkens“. Und es sei mitunter „sogar gefährlich, früher über einen Gegenstand zu lesen, als man selbst darüber nachgedacht hat. Denn da schleicht sich mit dem neuen Stoff zugleich die fremde Ansicht und Behandlung desselben in den Kopf, und zwar umso mehr, als Trägheit und Apathie anraten, sich die Mühe des Denkens zu ersparen und das fertige Gedachte anzunehmen und gelten zu lassen.“
Nun ja, hier wird eigenes Denken („Selbstdenken“) gegen fremde Gedanken, gegen Bücherwissen, gesetzt. „O, wie wenig muss doch Einer zu denken gehabt haben, damit er so viel hat lesen können!“, fragt sich Schopenhauer angesichts der Lesewut einiger Professoren. Vielleicht hat er damit Recht. Aber wie stellt sich dies dar, wenn es einem an eigenen originellen Gedanken mangelt oder überhaupt an Denkvermögen fehlt? Nicht jeder ist schließlich ein philosophischer Kopf wie Arthur Schopenhauer! Bietet in diesen Fällen nicht doch das Lesen eine Lösung? Sicherlich sollte man sich nicht an Büchern „überfressen“, aber nur im Internet herumsurfen und keinen Text mehr richtig lesen, der einen bestimmten Umfang übersteigt – mancher ist schon bei zehn Seiten am Limit –, ist weder ein Ersatz für eigenes Denken noch für die Rezeption fremder Gedanken. Es kann dabei nur oberflächliches Halbwissen oder Unsinn herauskommen. Oder eben große Leere und Langeweile. Diese lässt sich aber füllen, respektive vertreiben – zum Beispiel durch die Lektüre der Werke von Karl Marx.
Oder zur Abwechslung der von Arthur Schopenhauer.
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