21. Jahrgang | Nummer 4 | 12. Febuar 2018

Ansichten eines couragierten Charakters (II)*

von Kurt Tucholsky

Es ist einfach Denkfaulheit und jene traditionell preußische Dummheit, die nicht erkennt, daß gerade dasjenige, worüber keiner mehr nachdenkt, das Gefährlichste ist.

Macht es nicht Mühe, tagaus, tagein dasselbe zu sagen und zu schreiben, sich vorwerfen zu lassen: Ah, schon wieder! -und, dann doch wieder zu tun, nicht aus Armut, sondern aus dem Gefühl heraus, daß gewisse Anschauungen in die deutschen Köpfe gehämmert werden müssen?

Ernste Arbeit, das ist in Deutschland ein Pleonasmus, denn frohe Arbeit scheint es dort selbst nicht zu geben.

Verärgerte Bürgerliche sind noch keine Revolutionäre.

Der Spiegel kann nichts dafür, wenn er der Jungfrau anzeigt, daß sie schwanger ist.

Die Damen fliegen ihm zu und, worum ich ihn besonders beneide, sie fliegen auch wieder davon.

Der unbeirrbare Stumpfsinn, mit dem diese Kapitalisten ihre törichte Geldpolitik fortsetzen, immer weiter, immer weiter, bis zur Ausblutung ihrer Werke und ihrer Kunden, ist bewundernswert. Alles, was sie seit etwa zwanzig Jahren treiben, ist von zwei fixen und absurden Ideen beherrscht: Druck auf die Arbeiter und Export.

Denn nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.

Nun ist eines in Deutschland ganz merkwürdig: kein Politiker verschwindet hier. Sie sind immer noch alle da.

Aber das Buch ist nicht geschrieben, damit es besprochen, sondern damit es gelesen wird.

Lungenhaschee … das sieht aus wie: „Haben Sie das gegessen, oder werden Sie das essen?“

Der Verfasser der Schlagzeile, der Anordner von Fettdruck weiß, was er tut. Der Leser weiß selten, was er liest, und verwechselt das Arrangement mit der Schwere des Ereignisses. Das soll er auch.

Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen Annahme, der andre werde gepumptes Geld zurückzahlen.

Ich mag mich nicht gern mit der Kirche auseinandersetzen; es hat ja keinen Sinn, mit einer Anschauungsweise zu diskutieren, die sich strafrechtlich hat schützen lassen. Mit so unhonorigen Gegnern trete ich nicht gern an.

Wenn ein Kommunist arm ist, dann sagen die Leute, er ist neidisch. Gehört er dem mittleren Bürgertum an, dann sagen dir Leute, er sei ein Idiot, denn er handele gegen seine eignen Interessen. Ist er aber reich, dann sagen sie seine Lebensführung stehe nicht mit seinen Prinzipien im Einklang. Worauf denn zu fragen wäre: Wann darf man eigentlich Kommunist sein –?

Es gibt im letzten Stadium der Lungenschwindsucht etwas, was man Euphorie nennt: dem Todkranken wird unendlich wohl; und er glaubt, in kürzester Zeit das Bett verlassen zu können. Und das tut er dann auch. Deutschland war im August 1914 kannibalisch wohl.

Während die deutsche Politik der letzten vierzig Jahre nur auf einer vorhandenen oder herbeigesehnten Uneinigkeit zwischen England und Frankreich aufgebaut war, drehen sich nun die deutschen Außenpolitiker nach der andern Seite und unternehmen das Gefährlichste, weil zunächst Erfolgreiche und dann erst zu einer Katastrophe führende, das es für uns gibt: eine aggressive Ost-Politik.

Es wird die Zeit kommen, wo man pathoslos und sachlich einsehen wird, daß es klüger und ökonomischer ist, keine Kriege zu führen.

Wird fortgesetzt.

* – Überschrift von der Redaktion.

Bereits erschienen – Ansichten von Georg Kreisler, Friedrich Nietzsche, Karl Kraus, Wilhelm Busch, George Bernard Shaw, Oscar Wilde, Karl May und Kurt Tucholsky I.