von Otfried Nassauer
Der US-Kongress hat die Regierung Trump per Gesetz aufgefordert, innerhalb von drei Monaten eine neue Bewertung der russischen Rakete RS-26 „Rubesch“ vorzunehmen. Festgestellt werden soll, ob der Flugkörper als Interkontinentalrakete zu werten ist oder gegen den INF-Vertrag verstößt. Dieses Abkommen verbietet den USA und Russland landgestützte Raketen mit Reichweiten von 500 bis 5500 Kilometern. Wörtlich heißt es in dem Haushaltsgesetz, die Administration solle „feststellen, ob die Rakete vom Typs RS-26 unter den New-START-Vertrag fällt oder eine Verletzung des INF-Vertrags darstellen würde, weil Russland Raketen dieses Typs mit mehreren Sprengköpfen über Reichweiten getestet hat, die durch den INF-Vertrag abgedeckt sind.“
Die Problematik ist nicht ganz neu. Bereits 2013 argumentierten konservative Think Tanks wie das National Institute for Public Policy, die RS-26 könne eine Ursache dafür sein, dass die Obama-Administration Zweifel habe, ob Russland sich im Blick auf das INF-Abkommen vertragstreu verhalte. Damals widersprach die Regierung und stellte klar, ihre Zweifel bezögen sich auf ein landgestütztes Marschflugkörpersystem, nicht aber auf eine ballistische Rakete. Nun wird der Verdacht reaktiviert. Die Republikaner wollen, dass ihm nachgegangen wird. Was steckt dahinter?
Moskau hat sich in den vergangenen drei bis vier Jahren nicht so verhalten, wie Washington es erwartet hat. Berichten zufolge fußt die zweistufige Feststoffrakete RS-26 „Rubesch“ technisch auf den ersten beiden Antriebsstufen der dreistufigen Interkontinentalrakete RS-24 Yars, die seit 2010 sukzessive in Dienst gestellt wird. Die RS-26 wurde 2012 erstmals erfolgreich über eine Reichweite von circa 5800 Kilometern getestet und deshalb als künftige Interkontinentalrakete eingeschätzt, die – sobald stationiert – unter das New START-Abkommen fallen würde. Damit wäre sie auch unter die Verpflichtung gefallen, neue strategische Systeme vor der Indienststellung der jeweils anderen Seite zu Verifikationszwecken vorzuführen. Einen solchen Termin hatte Moskau für November 2015 angekündigt, dann aber überraschend wieder abgesagt. Zunächst hieß es, er werde auf 2016 verschoben, doch bis heute wurde kein neuer Termin angesetzt. 2016 sollte auch ein weiterer Testflug der RS-26 stattfinden, aber auch der fiel aus. Parallel verschob sich das angekündigte Datum der Indienststellung von 2015 auf 2016 und später auf einen unbekannten Zeitpunkt in der Zukunft. Die Stationierungsvorbereitungen stockten.
Eine der möglichen Erklärungen lautet: Moskau hat die Stationierung der RS-26 aus technischen, finanziellen oder politischen Gründen vertagt oder ausgesetzt. Das russische Programm zur Modernisierung der landgestützten Langstreckenraketen liegt hinter dem ursprünglichen Zeitplan zurück, das Geld ist knapp. Denkbar wäre zum Beispiel, dass die Produktion und Stationierung der RS-24-Versionen noch nicht abgeschlossen ist und in der Fabrik, die beide Flugkörper herstellt, noch keine Kapazitäten für die RS-26 frei sind.
Über eine andere Erklärung spekulieren die Kritiker in den USA: Eigentlich sei die RS-26 „Rubesch“ eine verbotene Mittelstreckenrakete. Der erwähnte Test über 5.800 Kilometer könnte mit einem einzelnen, wahrscheinlich relativ leichten Sprengkopf durchgeführt worden sein, damit die Reichweite möglichst groß war. Seither sind alle weiteren drei Testflüge über Reichweiten von etwa 2000 Kilometern durchgeführt worden. Möglich sei, dass Russland die „Rubesch“-Rakete letztlich mit einem schwereren Mehrfachsprengkopf stationieren und gegen Ziele in geringerer Entfernung einplanen wolle. Die RS-26 sei also eigentlich eine durch den INF-Vertrag verbotene Mittelstreckenrakete. Die russischen Erklärungen für die RS-26-Testflüge von Kapustin Yar aus sind jedoch auch nicht ganz von der Hand zu weisen: Sie besagen, dass damit nicht primär die Rakete, sondern ein leistungsfähigeres Sprengkopfsystem getestet werden sollte, das modernen Abwehrraketen besser ausweichen kann. Diese Tests könne man nur in Kapustin Yar durchführen.
Hinzu kommen Argumente, die sich auf eine potentielle historische Analogie beziehen. Sie hat ebenfalls mit dem INF-Vertrag zu tun. Auch die SS-20 (RSD-10), die die Nachrüstungsdebatte auslöste, war ursprünglich als dreistufige Interkontinentalrakete unter der Bezeichnung SS-16 entwickelt worden. Als diese aufgrund der Rüstungskontrollvereinbarungen mit den USA außer Dienst gestellt wurde, entfernte die damalige Sowjetunion eine Stufe und baute eine zweistufige Variante als SS-20, die später weiter verbessert wurde. Was Moskau damals ökonomisch sinnvoll erschien, löste sicherheitspolitisch eine heftige Debatte aus.
Die Sorge, dass eine Interkontinentalrakete (ICBM) relativ kurzer Reichweite genutzt werden könnte, um die Funktionen der SS-20 zu übernehmen, war auch bereits Gegenstand der Debatte über die Ratifizierung des INF-Vertrags 1988 im US-Senat. Die Reagan-Administration reagierte auf die Bedenken damals mit einer schriftlichen Erklärung, die besagte, dass sie Testflüge von Raketen über INF-Reichweiten dann nicht als Vertragsverletzung werten würde, wenn die Rakete in der gleichen Konfiguration bereits über interkontinentale Reichweiten getestet worden sei. Testflüge, einmal mit einem Einfachsprengkopf und einmal mit einem Mehrfachsprengkopf, seien dagegen Testflüge in einer unterschiedlichen Konfiguration. Damals blieb offen, ob die Sowjetunion dieser Interpretation zugestimmt hätte.
Gibt es also eine berechtigte Analogie zu den Geschehnissen um die RS-26 heute? Die Kritiker in den USA vermuten es. Sie wollen erreichen, dass die US-Regierung die RS-26 in ihrer Politik als Verletzung des INF-Vertrags einstufen muss, wenn die Trump-Administration keine Terminzusage Moskaus vorweisen kann, an dem die Rubesch-Rakete gemäß New START als Interkontinentalrakete vorgestellt wird. Warum Moskau sich darauf einlassen sollte, dürfte das Geheimnis der republikanischen Antragsteller bleiben. Ein weiterer substantieller Konfliktpunkt in der Rüstungskontrolle und darüber hinaus im Verhältnis zwischen Moskau und Washington wäre dann dennoch geboren.
Aus Moskauer Sicht könnte es dagegen durchaus reizvoll sein, die endgültige Einstufung der RS-26 weiter hinauszuzögern. Der New START-Vertrag bietet dazu die Möglichkeit. Er erlaubt es, neue Interkontinentalraketen bis zu deren 20. Test als legale Prototypen zu betrachten, die nicht mit ihren spezifischen Eigenschaften deklariert und vorgestellt werden müssen. Die RS26 ist nach bislang fünf Testflügen von dieser Grenze noch recht weit entfernt. Als Prototyp kann sie noch verändert werden, bevor sie in Dienst gestellt wird. Moskau könnte also zu dem Schluss kommen, dass man zunächst wissen will, ob der INF-Vertrag in Kraft bleibt und/oder der New-START-Vertrag über 2021 hinaus verlängert wird, bevor man sich hinsichtlich der Einstufung der RS-26 rechtlich endgültig festlegt.
In dem derzeit laufenden Poker um die Zukunft der nuklearen Rüstungskontrolle bietet das Vorteile und zusätzliche Flexibilität. Solange die RS-26 nicht offiziell als strategische Waffe eingestuft ist, kann offen bleiben, ob die Raketen dieses Typs künftig gegen die Obergrenzen aus dem New START-Vertrag angerechnet werden müssen. Zudem würde es der New START-Vertrag Moskau erlauben, die Zahl seiner ICBM-Flugkörper zu erhöhen. Bislang ist aus Kostengründen nicht geplant, dass Russland dessen Obergrenzen ausschöpft. Würde der INF-Vertrag dagegen scheitern, könnte die RS-26 innenpolitisch zum Symbol dafür werden, dass der Kreml vorgesorgt hat und einen Trumpf in der Hinterhand hält. So lange wie die RS-26 nicht in Serie produziert oder stationiert wird, stellt sie dagegen auch keine Verletzung des INF-Vertrags dar.
Schlagwörter: INF-Vertrag, Interkontinentalraketen, Mittelstreckenraketen, New START, nukleare Rüstungskontrolle, Otfried Nassauer, RS-26, Russland, USA