21. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2018

Gewichtige Verantwortung

von Erhard Crome

Anfang des 20. Jahrhunderts erschien in Berlin ein Prachtband zur Lobpreisung des 1888 nach nur 99 Tagen Kaiserseins verstorbenen Friedrich III. mit dem Titel: „Kaiser Friedrich der Gütige. Vaterländisches Ehrenbuch“. Darin wird er, der sich dem Grunde seines Wesens nach als Militär verstand, als „Friedensfürst“ erinnert. Die Buchseiten sind 34 mal 25 Zentimeter groß, der Band vier Zentimeter dick und er wiegt 3,5 Kilo.
Jetzt hat der Vorsteher der Münchner „Sicherheitskonferenz“, Wolfgang Ischinger, zusammen mit Dirk Messner, Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik, einen Prachtband zur neuen deutschen „Verantwortung“ herausgegeben. Der hat in Seitengröße und Dicke des Bandes exakt das Format der Kaiser-Huldigung. Einziger Unterschied ist, bei gleicher Größe und Dicke wiegt er 400 Gramm weniger – das Papiergewicht ist geringer. Wie kommt man in diesem Deutschland heute auf die Idee, ein solches Format zu wählen? Um der neuen deutschen Weltgeltung einen repräsentativen Rahmen zu geben? Allerdings gab es externe Geldgeber, was dem Steuerzahler die Sache leichter plausibel macht: neben der Stiftung Münchner Sicherheitskonferenz und dem Deutschen Institut für Entwicklungspolitik die Bill & Melinda Gates Foundation und die BMW Stiftung Herbert Quandt. Realisiert wurde das Projekt durch eine Agentur namens fullberry, vertreten durch ihren Geschäftsführer Lutz Meyer, die das Ganze geplant und realisiert hat.
Dabei wurden Gruppengespräche mit mehr als 100 Experten geführt, Texte von über 140 Autoren eingeholt und schließlich zwölf „Empfehlungen an Deutschland“ formuliert, die explizit als „Ratschlag für die politische Agenda der kommenden Parlamente und Regierungen“ deklariert sind – überwiegend Gemeinplätze und fromme Wünsche. Bemerkenswert lediglich, dass die Strukturen der Auswärtigen Beziehungen – Außen-, Sicherheits-, Umwelt- und Entwicklungspolitik – institutionell enger verzahnt werden sollen und eine Art „Nationaler Sicherheitsrat“ geschaffen werden soll. Auch soll die Einmischungspolitik gegenüber „autoritären Regimen“ fortgesetzt werden; welche Kriterien dafür in Ansatz gebracht werden, bleibt hier allerdings offen. Der kritische Leser fragt sich nur: Ist auch Saudi-Arabien gemeint oder eher Russland? Frank-Walter Steinmeier, damals noch Außenminister, bedauert, dass nach dem Ende des Kalten Krieges „die Demokratie“, sprich: die westlichen Wert- und Gesellschaftsvorstellungen nicht weltweit durchgesetzt werden konnten.
Auf den ersten Blick verkörpert der Band ein plurales Unterfangen, neben den bekannten Militär- und Außenpolitikern der Regierungs- beziehungsweise – wie es seit September 2017 so schön heißt – der „staatstragenden“ Parteien auch etliche Entwicklungspolitiker und -forscher, Klimaschützer, Kirchenvertreter und Politiker der linken Opposition, so Dietmar Bartsch und Niema Movassat. Enthalten sind 139 Einzelbeiträge, die in vier Kapitel gegliedert sind: Neue Verantwortung für universelle Werte, Neue Verantwortung für Afrika, Neue Verantwortung für ganzheitliche Sicherheit und Neue Verantwortung für unsere Lebensgrundlagen. Die meisten Texte sind recht kurz, die Autoren erhielten eine Seite im Buch, durften sich und andere dabei aber an einem beigefügten ganzseitigen Porträtfoto erfreuen. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass einige Texte länger sind und das konzeptionelle Gerüst bilden. Hier kann von Pluralität nicht mehr die Rede sein.
Den Ton vorgegeben hat schon Lutz Meyer in seinem Einstiegsbeitrag: Deutschland sei heute „das beliebteste Land der Welt“. Und daraus folge: „Wir können stolz sein.“ Neue Verantwortung heiße, Deutschland solle in „den nächsten 30 Jahren als zivilisierte Leitmacht ein standhafter Diener sein“ – allerdings einer, der der Bestimmer ist: „Deutsche Interessen werden durchgesetzt, aber lieber über den Markt als über politischen Druck. Deutsche Forderungen werden durchgesetzt, aber besser über Partner und politische Systeme als in direkter Konfrontation. Deutschland ist der Meister der Regeln und Verfahren, der Menschenrechte und des Multilateralismus. Damit ist unser Land der perfekte Partner für eine verstrickte Welt mit all ihren unterschiedlichen Interessen und Konflikten.“ Das klingt wieder nach: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“, nur diesmal ohne Säbelrasseln und Pickelhaube.
Einer der Vordenker neuer deutscher Macht, Jan Techau (Das Blättchen, 24/2017), betont die strategische Weichenstellung, die mit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 erfolgt sei, der dort „mehr Verantwortung“ eingefordert hatte (Das Blättchen, 4/2014). Das liest sich jetzt so: „Gaucks Rede war so klug und hatte so durchschlagenden Erfolg, weil er genau an den neuralgischen Punkt gegangen war: Vertraut euch! Ihr gehört zu den Guten! Gauck wusste, dass nur wer sich nicht ständig fürchten muss, auf der falschen Seite herauszukommen, auch frei seiner Verantwortung nachkommen und auch in aufgeklärterer Weise seine eigenen Interessen definieren kann.“ Das meint, die Deutschen seien nach 1945 genug umerzogen, demokratisiert, verwestlicht und exkulpiert worden, dass sie jetzt wieder frohgemut Forderungen stellen können. Techau meint: „In den kommenden Jahren werden außen- und sicherheitspolitische Fragen auf Deutschland zukommen, von denen das Land heute noch nicht einmal zu träumen wagt.“ Dazu rechnet er auch „die Frage eigener Atomwaffen“ Deutschlands. Der Satz, in den dies gepackt wird, ist etwas verschwurbelt, aber in der Endaussage eindeutig. Als die Frankfurter Allgemeine Zeitung diesen Punkt im November 2016 erstmals in Umlauf brachte, hatte sie das noch unter die Rubrik „das Undenkbare“ gefasst (Das Blättchen, 25/2016). Jetzt erscheint er unter der Schirmherrschaft von Ischinger in dem Prachtband zur deutschen „Verantwortung“.
Gunther Hellmann, Politik-Professor an der Universität Frankfurt am Main, misst jener Münchner Gauck-Rede von 2014 ebenfalls zentrale Bedeutung bei. Im Unterschied zur Generation des früheren Außenministers Genscher „klang hier nicht nur ein machtvollerer Gestaltungswille, sondern auch ein anderes Referenzsystem zur Bemessung deutscher Verantwortung an“. Was dann flugs auch bedeute, „dass Deutschland seine Führungsrolle in der EU ausbauen“ und „seine Interessen nicht zugunsten der europäischen Einigung zurückstellen“ solle. Dieser Kernpunkt wird auch durch den nachgeschobenen Moralsatz, es solle zugleich mehr Solidarität mit anderen EU-Mitgliedstaaten üben, nicht relativiert. Wolfgang Schäuble steuert zum EU-Thema die Anregung bei, wenn es an Zeit und Zustimmung mangele, solle Deutschland seinen Willen „durch wechselnde Koalitionen der Willigen“ durchsetzen. Mit anderen Worten: Von den USA lernen, heißt siegen lernen!

Wolfgang Ischinger und Dirk Messner (Hrsg.): Deutschlands neue Verantwortung. Die Zukunft der deutschen und europäischen Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik, Berlin: Econ Verlag 2017, 432 Seiten, 68,00 Euro.