von Mario Keßler
Am 26. November starb kurz vor seinem 91. Geburtstag in der Nähe von Buffalo (US-Staat New York) der Historiker Georg Gerson Iggers. Er gehörte zu den letzten noch lebenden Wissenschaftlern, die, aus Nazi-Deutschland vertrieben, von den USA aus zu Mittlern zwischen Historikern seiner neuen Heimat und Nachkriegsdeutschland wurden. Was ihn auch aus diesem Kreis heraushob, war, dass er auch ein Mittler zwischen Ost und West wurde: Georg Iggers bemühte sich wie kein anderer um den Dialog mit Wissenschaftlern der DDR, und zwar nicht nur mit deren etablierten Vertretern, sondern auch mit den Jüngeren, denen er trotz komplizierter Bedingungen Kontakte in die westliche Welt zu verschaffen suchte.
Georg Iggers wurde am 7. Dezember 1926 in einer jüdischen Mittelstandsfamilie in Hamburg geboren. Auch nach dem Machtantritt der Nazis verlebte er eine einigermaßen normale Kindheit in seiner Heimatstadt, bis die Familie Ende 1938 vor dem ansteigenden Terror fliehen musste. Zuerst in Richmond (Virginia), dann in Chicago konnte er Geschichte studieren. In Richmond traf er, der die „Rassengesetze“ des Hitler-Regimes erlebt hatte, auf die Realität des amerikanischen Südens mitsamt der verordneten Trennung der Schwarzen von den privilegierten Weißen. Er wurde und blieb zeitlebens ein Verfechter der Bürgerrechte, sei es der Afroamerikaner in den USA oder der Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten. Aber auch hier blieb er unbequem und bewahrte sich den klaren Blick: Er warnte gleichermaßen vor schwarzem Nationalismus wie vor Boykott-Kampagnen gegen Israel, mit denen wirkliche oder angebliche Linke allzu leicht in das Fahrwasser des Antisemitismus gerieten. Er setzte sich für die staatliche Anerkennung der DDR ein und kritisierte doch vernehmbar ihre repressive Politik, er half chinesischen wie kubanischen Historikern und protestierte doch gegen die Verletzung der Menschenrechte durch die Regime beider Länder. Georg Iggers war und blieb unbestechlich ein Leben lang.
Sein wissenschaftlicher Weg begann in Chicago beim deutschnationalen, nun in die USA geflüchteten Historiker Hans Rothfels, der dem kritischen Kopf prophezeite, aus ihm werde nie ein Historiker. Der linksliberale Religionshistoriker James Luther Adams war anderer Meinung, und bei ihm schrieb Georg Iggers 1951 seine Dissertation über den Autoritätskult in der politischen Philosophie der Saint-Simonisten, die 1958 als Buch erschien.
Danach lehrten Georg und seine Frau Wilma, die mit ihrer Familie aus der Tschechoslowakei geflüchtet war, an Colleges des amerikanischen Südens: an der Xavier University in New Orleans und dem Philander Smith College in Little Rock/Arkansas. Beide Hochschulen waren traditionell „schwarze“ Lehranstalten und materiell entsprechend schlecht ausgestattet. Im Zuge des Ausbaus des amerikanischen Universitätssystems wurden Georg und Wilma Iggers 1965 schließlich als Professoren nach Buffalo berufen: Georg an die dortige Abteilung der State University of New York, Wilma an das Canisius College. Beide riskierten beruflich sofort viel, als sie sich moralisch, materiell und durch die Organisation von Rechtsberatungen für Kriegsdienstverweigerer einsetzten, die nicht nach Vietnam zum Töten und Getötet-Werden geschickt werden wollten. Georg und Wilma Iggers standen an der Seite ihrer protestierenden Studenten, warnten aber vor revolutionären Illusionen. Typisch für Georg Iggers war, dass er Herbert Marcuses Konzept der Großen Weigerung als politisch kontraproduktiv kritisierte und zugleich den Sozialphilosophen als Professor nach Buffalo holen wollte; ein Vorhaben, dass jedoch scheiterte.
Der Historiker Georg Iggers schuf bleibende Werke, insbesondere auf seinem Spezialgebiet der Historiographie-Geschichte. Genannt sei das seit 1968 in mehreren Auflagen und Übersetzungen erschienene Standardwerk „The German Conception of History“. Auf Deutsch erschien es erstmals 1971 unter dem Titel „Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart“. Weitere Bücher wie „Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur historischen Sozialwissenschaft“ (deutsch 1978) oder „Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert“ (deutsch 1993) befestigten seinen Ruf ebenso wie die jahrelange verantwortliche Mitarbeit an der Zeitschrift Storia della storiografia oder zuletzt auch an der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Das Paar hatte nach der Emeritierung viele Jahre lang einen zweiten Wohnsitz in Göttingen – ab Ende 1989 auch Anlaufpunkt für Freunde aus der DDR.
Ein besonderes Augenmerk richtete Iggers auf die marxistische Geschichtswissenschaft, wobei für ihn Würdigung und Kritik untrennbar zusammen gehörten. Dies gilt nicht nur für die mit seinem Freunden und Kollegen Edward Wang und Supriya Mukherjee publizierten Bücher „A Global History of Modern Historiography und Marxist Historiographies. A Global Perspective“, sondern ebenso für seine zahllosen Diskussionen, die er seit 1966 (!) mit Freunden und Kollegen in der DDR führte. Besonders Leipzig hatte es Georg und Wilma Iggers angetan: Ihre „Quartiermeister“ war ein linkes, doch dem DDR-System fernstehendes christliches Ehepaar. Wichtigster Anlaufpunkt an der dortigen Universität war Werner Berthold, der die einzige Professur für Historiographie-Geschichte in der DDR innehatte und der, was eine wahre Seltenheit war, Georg Iggers einlud, um vor den Studenten vorzutragen.
In einem dieser Seminare stellte Werner Berthold seinen Freund und Kollegen als „Historiker jüdischer Herkunft“ vor, worauf Georg Iggers ihn unterbrach und sagte: „Nein, Werner, ich bin Jude. Jüdische Herkunft – das ist mir zuwenig. Ich bin bewusster Jude, gehe in die Reformsynagoge, und mir liegt Israel am Herzen, auch wenn ich mit dessen Politik gar nicht einverstanden bin.“ Bei anderer Gelegenheit unterbrach er Werner Berthold erneut – freundlich, doch entschieden: „Nein, ich bin kein linksbürgerlicher Historiker. Ich bin ein nichtmarxistischer Historiker. Aber ich bin und bleibe Sozialist.“ Eine solche Persönlichkeit war für DDR-Studenten und junge Wissenschaftler natürlich von enormem Interesse. Über den Marxismus wusste er besser Bescheid, als viele, die ihn als Etikett benutzten.
„Georg Iggers – der hilft!“, war die spontane Reaktion solcher westlicher Kollegen, die ab 1990 keine Triumphgefühle über den Zusammenbruch der DDR und das Ende ihrer Geschichtswissenschaft hatten, sondern überlegten, wie die Ostdeutschen, die nun massenhaft ihre Stellen verloren, zu unterstützen seien. Aus eigener Erfahrung wüsste auch der Autor dieser Zeilen viel davon zu berichten. Er – und zahllose andere Freunde und Kollegen in aller Welt – werden Georg Iggers, dessen Frau Wilma, drei Söhne und deren Kinder und Enkel ihn überleben, für immer in Erinnerung behalten. Die Leistung des Historikers Georg Iggers wird ohnehin Bestand haben.
Schlagwörter: Exil, Georg Iggers, Geschichtswissenschaft, Mario Keßler, USA