20. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2017

Reclam Leipzig – eine Verlagsgeschichte

von Leo Piotracha

„An den Grenzen des Möglichen“ ist der Titel des Buches, das – herausgegeben von Ingrid Sonntag – nahezu 50 Autoren auf über 500 Seiten Auskunft über „Reclam Leipzig 1945–1991“ geben lässt. Wolfgang Thierse sieht in seinem Vorwort „Zwischen Anpassung und kontrollierter Aufmüpfigkeit“ die Geschichte des Reclam Verlages als Beitrag dazu, „ein volles Bild der DDR-Kultur- und Geistesgeschichte zu ermöglichen“.
Im Unterschied zu vielen Leipziger Verlegern, die – unterstützt von den Amerikanern – im Westen eigene Firmen gründeten, setzte Philipp Ernst Reclam (1876–1953) auf die sowjetische Militärverwaltung, die ihm am 14. März 1946 die Lizenz zur Wiedereröffnung des Verlages erteilte. Ein Jahr später, am 1. April 1947, wurde die Gründung der Reclam Verlag GmbH Stuttgart durch die US-amerikanische Militärregierung von Württemberg und Baden durch einen Vertrag gesichert. Die Stuttgarter Gesellschaft galt nicht als Zweigstelle des Leipziger Verlages, ein Vertrag sah vielmehr Lizenzen aus Leipzig für die westlichen Besatzungszonen bis zum 31. Dezember 1953 vor. Die Geschäftsführung in Stuttgart übernahm Gotthold Müller (1904–1993), der sowohl dem bürgerlichen Widerstand an der Seite von Carl-Friedrich Goerdeler als auch dem sozialistischen Widerstand angehört hatte. Müller leitete den Verlag bis 1953, aus Leipzig gratulierte man ihm später zum 85. Geburtstag und 1990 wurde ihm die 1988 gestiftete Erinnerungsmedaille an Anton Philipp Reclam verliehen.
Einen „Tiefpunkt“ hatte die Zusammenarbeit zwischen Leipzig und Stuttgart indes im Dezember 1950 mit dem Eintritt des Treuhänders Hermann Obluda in Leipzig erreicht. Er entließ zum 31. Juni 1951 die Verlagsleiterin Hildegard Böttcher, die seit November 1933 im Verlag tätig gewesen war, nun aber als „nicht vertrauenswürdig“ bezeichnet und im Juni 1951 gekündigt wurde.
Bevor Hans Marquardt (1920–2004), seit 1953 Cheflektor, im April 1961 die Leitung des Verlages übernehmen sollte, den er entscheidend prägte, waren Friedrich Lessig (1902–1979), Arno Köth (*1903) und Gerhard Keil (1922–1997) Verlagsleiter. Doch Marquardt ist der Mann, dem die Herausgeber des Buches die größte Aufmerksamkeit schenken und der auch oft im Foto zu sehen ist. Er verließ den Verlag 1987. Als seinen Nachfolger führte „Bücherminister“ Klaus Höpcke am 2. Juli 1987 den Slawisten Roland Opitz ins Amt ein.
Hans Marquardt war bestrebt, Profil und Gesicht des Verlages zu bestimmen, ohne seine eigenen, auch materiellen Interessen zu vernachlässigen. Josef Hegenbarth, den Illustrator, siedelte er nicht allein im Reclam-Verlag an, sondern brachte ihn auch im Buchverlag Der Morgen und in Westverlagen unter. Als Herausgeber sparte er nicht mit Nachworten. Privat gehörte zu seinen Passionen das Sammeln von Büchern und Graphik des 20. Jahrhunderts. In den siebziger Jahren konnte er, vereint mit dem Kunstkritiker und Sammler Lothar Lang (1928–2013), ein auf über 30 Mappen gewachsenes Graphik-Werk herausgeben. Auch den Holzschneider HAP Grieshaber (1909–1981) von der Achalm in Reutlingen konnte er für seinen Verlag gewinnen. Mit der Büchergilde Gutenberg in Frankfurt am Main wie auch mit dem Claassen Verlag in Düsseldorf verband ihn eine profitable Zusammenarbeit, dringend benötigte Devisen wurden erwirtschaftet. Eine weitere Zusammenarbeit ergab sich mit dem Röderberg-Verlag. In der Franz-Fühmann-Ausstellung der Akademie der Künste im Frühjahr 1993 im Berliner Marstall war an einer Wand erstmals die IM-Tätigkeit Hans Marquardts dokumentiert. Er bekannte sich am 9. Dezember 1993 im PEN nicht dazu, sondern meinte, „instrumentalisiert“ worden zu sein.
Blicke auf die Geschichte des Verlages vor 1945, vor allem aber auf die Jahre unter sozialistischen Bedingungen, in denen die „Grenzen des Möglichen“ erkundet wurden, gewähren ein erstaunlich breites Panorama. Sehr schade, dass Hubert Witt (1935–2016), ein äußerst wichtiger Lektor, Herausgeber und Nachdichter aus dem Jiddischen, obgleich vielfach genannt, in der Darstellung zu wenig Profil gewinnt. Dem Philosophen Jürgen Teller (1926–1999), Schüler Ernst Blochs, bot Marquardt 1964 die Chance, als Lektor für Philosophie tätig und 1969 sogar, obwohl parteilos, Cheflektor zu werden.
Besonders aufschlussreich sind die Beiträge von Mitarbeitern des Verlages, darunter Werner Creutziger, 1952/53 Lektor. Oder Heiner Henniger, der seine Funktion als Cheflektor im Buchverlag Der Morgen hatte räumen müssen und von Marquardt 1979 als Lektor für Kunstwissenschaft bei Reclam eingestellt wurde. 1990 bis 1992 war Henniger Cheflektor. Stefan Richter, Jahrgang 1960, der von März 1990 bis August 1991 als Verlagsleiter tätig war, tat sehr viel, um den Leipziger Verlag fortzuführen. Große Aufmerksamkeit gilt Frank Hörnigk (1944–2016) wie auch Uwe Kolbe. In dem Beitrag des Gestalters Juergen Seuss wird Marquardt zugestanden, in seinem Verlag eine notwendige Schläue geübt zu haben, er nennt ihn einen „Grenzgänger“.
Da werden nicht wenige Geschichten mitgeteilt oder analysiert. Zu den Höhepunkten gehörten die „Lesezeichen“, die erste Ausgabe von Texten Walter Benjamins, durch Gerhard Seidel 1970 herausgegeben, wovon 1260 Exemplare eingestampft wurden. Es sind Geschichten um „LTI“ von Victor Klemperer, um Reiner Kunzes „Brief mit blauem Siegel“, um die „Akte Endler“, wie auch um Stephan Hermlins „Deutsches Lesebuch“ und um „Das Treffen in Telgte“, die erste Grass-Veröffentlichung in der DDR, oder „Freiheit und Ordnung“ von Ernst Bloch. Verheißungsvoll erschienen die drei Ausgaben der „Kopfbahnhöfe“, die das Ende einer neuen, hoffnungsvoll erscheinenden Verlagsgeschichte bildeten.

Ingrid Sonntag (Hrsg.): An den Grenzen des Möglichen. Reclam Leipzig 1945–1991. Mitarbeit Dr. Kerstin Beyerlein und Carmen Laux. Ch. Links Verlag, Berlin 2016, 544 Seiten, 50,00 Euro.