20. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2017

Politische Herbststürme

von Wolfgang Brauer

In absoluten Zahlen gemessen liegt Deutschland hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Erfolgsquote mit Platz vier mit an der Weltspitze. Das relativiert sich erheblich, wenn die Pro-Kopf-Zahlen des Bruttoinlandsproduktes verglichen werden. Die dominierende Wirtschaftsmacht der EU liegt mit 38.114 Euro (2016) auf einem mittelklassigen 8. Platz. Das wäre noch keine Grund, die wirtschaftliche Erfolgskurve des Landes zu relativieren. In der Ära Merkel stieg das deutsche BIP pro Kopf immerhin um ein gutes Drittel (2005 betrug es noch 28.288 Euro). Aber diese ist mit einer entschiedenen Ungleichgewichtigkeit hinsichtlich der Gewinnverteilung belastet. Der Oxfam-Bericht 2017 stellte fest, dass in Deutschland 36 Milliardäre über ein Vermögen von 297 Milliarden US-Dollar verfügten. Das wäre genausoviel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung besäße. Die Oxfam-Zahlen basieren auf dem „Global Wealth Databoot 2016“ der Credit Suisse. Die Bank verglich 172 Länder und stellte fest, dass die Bundesrepublik sich hinsichtlich der Vermögensgerechtigkeit weltweit auf Platz 117 befindet – vergleichbar mit Staaten wie Togo und Marokko. Oxfam-Deutschland-Sprecher Jörn Kalinski kommentierte: Die „Regierungen betreiben das Spiel der globalen Konzerne und reichen Eliten – und die Bevölkerung zahlt die Zeche.“ Selbst der langjährige finanzpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Joachim Poß warnte vor einem „gefundenen Fressen für Populisten und Nationalisten“. Ernsthafte Auswirkungen auf die Strategie der SPD hatte seine Erkenntnis nicht.
Die parteienübergreifende Ignoranz den sozialen Verwerfungen im Lande gegenüber zeigte zu den Bundestagswahlen Wirkungen. Auch wenn es wie immer fast nur Sieger gab. Selbst die Kanzlerin erklärte trotzigen Blicks, dass sie die Wahl gewonnen habe: Die CDU sei die stärkste Partei geblieben. Die Zahlen sind bekannt.
Jetzt ist die Hohe Zeit der Spekulationen angebrochen. Die rot-grün-roten Blütenträume allerdings sind zerplatzt. Man käme nur auf 259 von 709 Parlamentssitzen. Die Grünen haben sich zudem schon seit längerem step by step der CDU angenähert. Nachdem ihnen die Kanzlerin in Sachen Atomausstieg die Show gestohlen hatte und der Ausstieg aus der Kohleverstromung de facto läuft – zwar nicht im grün erträumten Tempo – hat die Partei es schwer, ein klares politisches Profil zu zeigen. Ökologisch gerieren sich zudem außer der Lindner-FDP alle. Cem Özdemir, neben Katrin Göring-Eckardt Spitzenkandidat, hat zumindest in einer Frage versucht, klare Kante zu zeigen: Mit den Grünen, tönte er, werde es keine Flüchtlingsobergrenzen geben. Das ging gegen die CSU, in persona gegen deren angezählten Chef Horst Seehofer. Für die ist Özdemirs Haltelinie auch eine, allerdings von der entgegengesetzten Position. Entschieden ist nichts. In München laufen eher mehr als weniger intern heftige Auseinandersetzungen um den künftigen Kurs der CSU. Genau genommen ist es eine um die Person des Vorsitzenden: Bayerns Konservative verzeihen (fast) alles, nur blau-weiße Niederlagen nicht. Im nächsten Jahr sind in Bayern Landtagswahlen. Die nach „rechts offene Flanke“ – gemeint ist Seehofers angebliches Einknicken vor der Kanzlerin in der Flüchtlingspolitik – will man schließen. Ohne die 46 CSU-Stimmen im Bundestag hätte „Jamaika“ keine Mehrheit (siehe Bernhard Romeike in diesem Heft). Man wird sich mit den Grünen über einen Kaufpreis einigen. Ein Hindernis wurde schon aus dem Wege geräumt. Wolfgang Schäuble, auch von den Grünen wegen seiner Austeritätspolitik immer wieder attackiert, wird auf den Posten des Bundestagspräsidenten gehievt werden. Das sieht nach Beförderung aus, ist aber ein Schneewittchenapfel: Versüßt, weil man laut erklärt, Schäuble wäre der Einzige, dem es gelingen würde, die parlamentarischen Rüpel der AfD im Zaume zu halten. Vergiftet, weil mit diesem Deal der Sessel für einen FDP-Finanzminister freigemacht wird. Auch wenn Christian Lindner sich derzeit noch ziert wie die berühmte Ziege am Strick: Er wird erbarmungslos hoch pokern…
Über den Niedergang der SPD muss man derzeit nicht allzu viele Worte verlieren. Die Partei hat ihren Sündenbock gefunden. Noch genießt er eine gewisse Schonfrist. Aber bereits am 27. September eröffnete Klaus von Dohnanyi bei Sandra Maischberger in der ARD die Hatz gegen den gescheiterten Kandidaten: „Er muss sehen, dass er das nicht kann. Er sollte zurücktreten.“ Die politische Halbwertszeit von Martin Schulz scheint tatsächlich begrenzt. Eine Antwort auf die Rücktrittsfrage liefert auf indirekte, allerdings deutliche Weise der jüngste SPIEGEL mit seiner Titel-Story „Wir sind im freien Fall“. Es handelt sich um eine Langzeitreportage über den Schulzschen Wahlkampf – und zugleich um eine Erschrecken machende Sicht auf die Zustände im Führungszirkel der Partei. Der „freie Fall“ ist mitnichten nur der des Kandidaten.
Dessen de-facto-Nachfolgerin Andrea Nahles versucht alternativ auf Arbeiterführerin zu machen: „Und ab morgen kriegen sie in die Fresse.“ Damit meinte sie die (Noch-) Kabinettskollegen. Den Unterschied zwischen Biertisch und Rednerpult des Deutschen Bundestages hat sie nicht so richtig begriffen, und ihr Bild der Arbeiterklasse scheint von den Dokusoaps der Nachmittagsprogramme geprägt zu sein. Es ist haargenau derselbe Ton, dessen sich Alexander Gauland und die Verbalkraftmeier seiner Partei bedienen. Wer so etwas mag, greift zum Original. Zumal auch Nahles um die Schlüsselfrage linker Parteipolitik („Wie hältst Du’s mit der Linkspartei?“) herumschleicht, wie die Katze um den heißen Brei.
Letztere unternimmt derzeit erhebliche Anstrengungen, um ihren alten parteiinternen Konflikt nicht zu offen ausbrechen zu lassen. Am 26. September veröffentlichte Oskar Lafontaine auf facebook einen Aufsatz „DIE LINKE und die soziale Gerechtigkeit“ und griff massiv die Parteispitze an. „Die beiden Parteivorsitzenden finden selbst wenig Zustimmung bei den Wählern (Riexinger erreichte als Spitzenkandidat 2,9 Prozent bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg und in Kippings Landesverband Sachsen, dessen Landesliste sie anführte, gab es mit 16,1 Prozent das schwächste Ergebnis im Osten) […] Allen Grund nachzudenken hat DIE LINKE […] darüber, dass nur 11 Prozent der Arbeitslosen sie unterstützt haben – […] und nur 10 Prozent der Arbeiter (Union 25 Prozent, SPD 24, AfD 21).“ Lafontaine attackiert im Weiteren die „verfehlte Flüchtlingspolitik“ aller Parteien und stellt fest, dass DIE LINKE die Bedürfnisse ihrer sozialen Basis ignoriere: „Wer bei Arbeitern und Arbeitslosen so wenig Unterstützung findet […], muss endlich darüber nachdenken, woran das liegt. Da hilft auch kein Verweis auf die urbanen Schichten – zu denen meines Wissens auch Arbeiter und Arbeitslose gehören –, der merkwürdigerweise immer von denjenigen als Alibi bemüht wird, die bei ihren Wahlkampfveranstaltungen in den urbanen Zentren allenfalls bei einer Handvoll Parteimitglieder auf Resonanz stoßen.“ Die Reaktionen erfolgten prompt. „ Diese Meinungsäußerung ist an Stumpfsinn nicht mehr zu überbieten“, konterte zum Beispiel Daniela Trochowski, Staatssekretärin im brandenburgischen Finanzministerium.
Dabei ähnelt Lafontaines Befund dem des Schriftstellers Ingo Schulze. Der veröffentlichte am vergangenen Wochenende in der Berliner Zeitung einen Aufsatz über eine Gemengelage, die in ganz Europa zu einem Rechtsruck geführt hat: „Dass in dieser geistigen Öde und sozial-ökonomischen prekären Lage die Nationalismen und Fundamentalismen einen guten Nährboden finden, sollte nicht verwundern. Die auf marktkonforme Demokratie verpflichteten Parteien […] haben in großen und ganz großen Koalitionen ein Vakuum erzeugt, das jetzt gefüllt wird. Wenn das Versprechen von sozialer Gerechtigkeit plötzlich von rechts außen kommt […] und darüber hinaus ein sichtbarer ‚Feind‘ in Form der Schwächsten der Schwachen ausgemacht werden kann, der plötzlich ein exklusives abendländisches Wir stiftet, kann es eigentlich nicht so schwer sein zu sagen, was zu tun ist.“
Nur: Von den zitierten Herrschaften hört keiner zu. Selbst die Berliner Zeitung verbannte Schulzes Text auf die Seite 27 des Feuilletons. Er hätte auf die Titelseite gehört. Stattdessen macht man weiter wie gehabt. „Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten“, zitierte der SPIEGEL die Kanzlerin in derselben Ausgabe, die genüsslich den Niedergang des konkurrierenden Kanzlerkandidaten ausbreitete.
Auf dem Dresdner Deutschlandtag der Jungen Union wurde Merkel jetzt erstmals von ihren innerparteilichen Frondeuren öffentlich angegriffen: „Glaubt denn irgendjemand ernsthaft im Saal, wir hätten in Baden-Württemberg zwölf Prozent verloren wegen der Pflegepolitik an die AfD?“, so CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn. Spahn ist so etwas wie der Hoffnungsträger der jungen Rechtsradikalinskis der Partei. Er griff damit die Analyse Merkels an, die vor den Unionsfraktionen hauptsächlich soziale Fragen für die Wahlniederlage der CDU/CSU verantwortlich gemacht hatte. Laut n-tv.de sprach er außerdem von Messerattacken, Alltagskriminalität, Clanstrukturen und sexuellen Übergriffen. Das hätte auch von Björn Höcke kommen können. Während des üblicherweise mit standing ovations zelebrierten Einzugs der Kanzlerin blieben die bayerischen Parteifreunde übrigens sitzen. CDU-Generalsekretär Peter Tauber wurde ausgebuht.
Unser Land verändert sich gerade.