20. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2017

Militärische Bündnisfreiheit? Schweden, Finnland und die NATO (II)

von Gregor Putensen

Der Kollaps des staatssozialistischen Systems im Osten Europas und die Auflösung des Warschauer Paktes ließen als Friedensdividende des Kalten Kriegsendes einen nunmehr baldigen Rückbau der NATO zu Gunsten einer europäischen kollektiven Sicherheitsstruktur erwarten. Stattdessen installierten die USA mit der sogenannten Partnerschaft für den Frieden allerdings eine neuartige Organisation, die gleichsam als politisches Verlegenheitsprojekt nicht nur die Bewahrung der militärischen Struktur der NATO legitimieren, sondern auch bisherige Nichtmitglieder der NATO an sie binden und schrittweise letztlich zu Mitgliedern machen sollte. So wie es dann auch von 1999 an mit den Ländern Mittelosteuropas und des Baltikums im Rahmen der NATO-Osterweiterung geschehen ist. Auch Schweden und Finnland waren dem Sog der westlichen Integrationsprozesse zunächst durch ihren Beitritt zur Partnerschaft für den Frieden 1994 gefolgt. 1995 vollzogen sie mit dem Beitritt zur EU eine außenpolitisch gravierende Weichenstellung nicht etwa nur in wirtschaftlicher, sondern wegen der proklamierten gemeinsamen Zielsetzungen der EU-Außenpolitik (GASP) auch unter sicherheitspolitischem Aspekt. Schon bald darauf beteiligten sich Schweden und Finnland im zerfallenen Jugoslawien im faktischen Auftrag des NATO-Aggressors an den militärischen Überwachungsaktivitäten der Nordischen Balkan-Brigade in Bosnien-Herzegowina. 2002 reihten sich die beiden Länder mit eigenen Truppen ebenfalls in die „Koalition der Willigen“ zur Unterstützung der USA und ihrer NATO-Verbündeten im Afghanistan-Krieg ein.
Der unverkennbare Wandel in der schwedischen und finnischen Neutralitätspolitik manifestierte sich somit deutlicher in militärischer Ausprägung. Der in ihren außenpolitischen Akten und Deklarationen zumeist übliche Bezug früherer Jahre auf den Begriff der Neutralität oder Neutralitätspolitik verblasste und verschwand allmählich gänzlich aus ihrer Rhetorik. So erklärte 2002 die damalige schwedische Außenministerin Anna Lind die seit 1945 gültige außenpolitische Maxime der Bündnisfreiheit ihres Landes mit der Neutralitätsoption für den Fall eines Krieges im Grundsatz für hinfällig. Entscheidend für die sicherheitspolitischen Entscheidungen Schwedens sei nunmehr allein die militärische Allianzfreiheit. Sinngemäß hat sich auch die sicherheitspolitische Philosophie in Finnland immer mehr dieser Position angenähert. Dies äußerte sich nicht zuletzt für seine Streitkräfte auch in einer zielgerichteten Anpassung und Übernahme der militärischen Normen und Kommandostrukturen sowie in der Beschaffung entsprechender Rüstungstechnik im Sinne einer maximalen NATO-Kompatibilität.
In diesem Zusammenhang schlägt die generelle Sicht des Westens, vor allem aber der USA und der anderen NATO-Staaten, gegenüber dem heutigen kapitalistischen Russland gravierend auf das Verhältnis der beiden formal immer noch militärisch bündnisfreien nordischen Länder durch. Die extreme Schwäche Russlands während der Präsidentschaftsära Jelzins in den 1990er Jahren wurde in den außenpolitisch und militärisch verantwortlichen Eliten Schwedens und Finnlands als durchaus willkommener und möglichst dauerhafter Zustand begrüßt. Auch mit Blick auf die damals verknüpften superprofitablen Investitionsmöglichkeiten für amerikanische und westeuropäische Konzerne galten die Beziehungen zum angeknockten russischen Bären im Osten als weitgehend problemlos. Mit der seit Beginn der 2000er Jahre wieder wachsenden Stärke Russlands durch seine wirtschaftliche und soziale Rekonsolidierung schickte sich das Land nunmehr an, erneut in seine Rolle als internationaler Großmachtakteur einzutreten. Damit wurde jedoch aus Sicht der schwedischen und finnischen Eliten, ähnlich wie für die NATO, das Verhältnis zu Russland nicht nur politisch generell problematischer, sondern vor allem sicherheitspolitisch wieder als bedrohlich wahrgenommen. Dies scheint umso erstaunlicher, als ja eigentlich für jeden geografisch sichtbar wurde, welche Seite Schritt für Schritt Russland zum Zielland einer offenkundigen militärstrategischen Einkreisung gesetzt hatte.
Die bereits in Teilen verwirklichte strategische Raketenabwehr der USA (in Rumänien und Nordostpolen im Aufbau befindlich) sowie die in den Ostsee-Anliegerstaaten erfolgte Stationierung von Truppen der NATO-Hauptmächte, ihre dortigen Aktivitäten im Luftraum und zu Wasser mit entsprechender Vorauslagerung von schwerem Kriegsmaterial im Nahbereich der russischen Grenze, enthalten für Moskau eine unmissverständliche Botschaft: Die Ostsee wird faktisch zu einem Binnenmeer der westlichen Militärallianz, wenn Schweden und Finnland in der NATO sind. Eingeleitet wurden diese Prozesse durch eine seit etwa zehn Jahren intensiv gesteigerte Manövertätigkeit der USA und anderer NATO-Staaten zu Lande, in der Luft und zu Wasser in den nördlichen Regionen Schwedens und Finnlands, kombiniert mit jährlichen Übungen in der südlichen Ostsee vor der russischen Exklave Kaliningrad (BALTOPS).
Der von westlichen Staaten (so auch von Schweden) politisch aktiv unterstützte Kiewer Maidan-Umsturz in der Ukraine und die damit hervorgerufenen Gegenreaktionen in der Ostukraine, ebenso aber die klare Mehrheitsentscheidung der Krimbevölkerung für einen Anschluss an Russland, standen in einem nachvollziehbarem Kontext zur amerikanischen Einkreisungsstrategie gegenüber Russland. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen verpflichteten sich Schwedens und Finnlands Verteidigungsminister auf der NATO-Ratstagung von Wales (2014) zu dem bisher schwerwiegendsten Schritt gegen die bis heute beschworene militärische Allianzfreiheit ihrer Länder: Die Regierungen unterzeichneten 2016 nach jeweiligem Mehrheitsvotum im schwedischen und finnischen Parlament die sogenannten Gastlandabkommen (Host Nation Support Treaty). Es erlaubt den NATO-Staaten, allen voran den USA als größtem Truppen- und Waffentechniksteller, nach entsprechender Zustimmung den weitestgehenden Zugang und die maximale Nutzung von Territorium, Hoheitsraum und militärischer Infrastruktur der beiden militärisch ursprünglich „neutralen“ nordischen „Gastgeber“-Länder zu Krisen- und Kriegszeiten. Dies könnte gegebenenfalls auch direkte Kriegsoperationen von ihrem Territorium aus bedeuten. Die Zustimmungsbereitschaft zu derartigen Aktivitäten hat sich in den herrschenden politischen Kreisen als überaus groß erwiesen. Davon zeugt das seit Ende des Zweiten Weltkriegs größte von Schweden (mit 19.000 Soldaten!) maßgeblich geführte Militärmanöver im September 2017 unter Beteiligung von Kontingenten aus Finnland, den USA (1.400 Soldaten auf der Insel Gotland), Großbritannien, Frankreich, Dänemark, Norwegen sowie Estland und Litauen. In Finnland wurde bereits das Interesse an der Durchführung des nächsten gemeinsamen Manövers mit der NATO für das Jahr 2018 bekundet.
Die Erosion der neutralitätspolitischen Orientierung der beiden nordischen Länder mit ihren zunächst ersten zögernden Anfängen in den 1990er Jahren, hat in den letzten zwei Jahrzehnten dank der nunmehr auch unverhüllten antirussischen Agitation der größten Teile ihrer politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten für einen Beitritt zur NATO deutlich an Fahrt gewonnen. Das Lager der im Grundsatz ziemlich einigen NATO-Befürworter zeigt zwar taktische Unterschiede: Während die bürgerlichen Parteien – allen voran die Konservativen und kleineren liberalen Parteien – in beiden Ländern auf einen umgehenden Bündnisanschluss drängen, wagen die führenden Sozialdemokraten auf Grund erheblicher innerer Parteiwiderstände noch keine klare Aussage und verbleiben vorerst lieber in der vagen Pragmatik einer vieldeutig interpretierbaren Allianzfreiheit.
Die Linksparteien in Schweden und Finnland versuchen mit ihren klaren Anti-NATO-Positionen so gut wie möglich an diese Differenzen bei den Sozialdemokraten anzuknüpfen. Die Dominanz der dem bürgerlichen Lager verfügbaren Massenmedien sorgt dafür, dass sich die heute immer noch mehrheitliche Gegnerschaft eines NATO-Beitritts in Schweden (zwischen 40 und 50 Prozent schwankend) und in Finnland (etwa 55 bis 60 Prozent) seit langer Zeit einem Trommelfeuer russophober Hasspropaganda ausgesetzt sieht. Der Austausch der damals im Kalten Krieg antikommunistisch fundierten Lüge von der sowjetischen Bedrohung scheint heute – insbesondere in Schweden – mit der Beschwörung einer uralten historisch präsowjetischen Furcht vor dem russischen Bären aus dem Osten für die Rechtfertigung eines immer engeren Zusammengehens mit der NATO schlichtweg zu genügen. Nunmehr allerdings ergänzt um die Mittel einer modernisierten massenpsychologischen Kriegführung, wie sie leider nicht ohne Erfolg immer stärker in der auf Personifizierung reduzierten Politik – so mit der Dämonisierung des russischen Präsidenten Putin – praktiziert wird.

Greifswald, 13. September 2017

Ein Nachtrag:
Am 7. Juli 2017 verabschiedeten 122 Staaten in der UNO-Vollversammlung die Resolution über ein generelles Verbot von Kernwaffen. An den Verhandlungen hierüber beteiligten sich weder die Atommächte noch die NATO-Staaten, inklusive die BRD. Die Niederlande waren immerhin Verhandlungsteilnehmer, gehörten dann aber nicht zu den Befürwortern eines derartigen Vertrages. Am 20. September begann die Unterzeichnung durch die Befürworterstaaten des Vertrages über ein allgemeines Kernwaffenverbot, der mit dem Erreichen von 50 Unterzeichnerstaaten völkerrechtlich in Kraft tritt. Eine Herausforderung sowohl für die Staatenmehrheit als auch für die Atomwaffen besitzenden Mächte und ihre Verbündeten.
Der sich zum obigen Text ergebende Bezug:
Schweden beteiligte sich recht maßgeblich an den Verhandlungen zu diesem Vertrag und bekundete seine Absicht, dieses Abkommen auch zu unterzeichnen. Die führte zu unmissverständlichen Erklärungen US-amerikanischer Spitzenmilitärs, dass eine Unterzeichnung dieses Vertrages durch Schweden dessen gemeinsame Verteidigung mit der NATO gegen einen Angriff von außen infrage stellen könnte. Eine interne Debatte in Schweden nimmt nunmehr darüber an Fahrt zu, ob die sozialdemokratische Außenministerin Margot Wallström unterzeichnen soll. Finnland entging dieser Auseinandersetzung, indem es sich gehorsam vorauseilend nicht an den diesbezüglichen UNO-Verhandlungen beteiligte.

Den ersten Teil dieses Beitrages lesen Sie bitte in unserer vorangegangenen Ausgabe (Blättchen Nr. 20 vom 25. September 2017).