20. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2017

Militärische Bündnisfreiheit? Schweden, Finnland und die NATO (I)

von Gregor Putensen

Wenn die am politischen Weltgeschehen interessierten etwas älteren Jahrgänge unserer Zeitgenossen sich an die Spannungen und Konflikte der Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern, prägen vor allem die Beunruhigungen der gefahrvollen militärischen Konfrontation des Kalten Krieges ihr Gedächtnis. Die beiden Militärblöcke NATO und Warschauer Vertrag standen einander hochgerüstet gegenüber. Deren größte Konzentration an Truppen und Kriegsmaterial (einschließlich beiderseits stationierter Raketenkernwaffen) befand sich zwar vor allem in Mitteleuropa auf dem Gebiet der damaligen beiden deutschen Staaten BRD und DDR – aber eine kriegerische Auseinandersetzung hätte nicht nur für ganz Europa, sondern für den ganzen Erdball unabsehbar verheerende Konsequenzen nach sich gezogen.
Dennoch schien damals ein geografischer Winkel relativer Ruhe und Gelassenheit zu existieren, der den politischen und militärischen Aufgeregtheiten des Ost-West-Konflikts eine gewisse Dämpfung zu verleihen schien – das war die Region Nordeuropas mit ihren fünf Staaten. Obwohl Dänemark, Norwegen und Island bereits seit 1949 zu den Gründerstaaten der auf Druck der USA geschaffenen westlichen Militärallianz NATO gehörten, sollten die Bestrebungen der beiden übrigen Länder Schweden und Finnland eine deutlich erkennbare Rolle dabei spielen, die damalige Blockkonfrontation zu mildern und entschärfen. Ihre Haltung und Aktivitäten in diesem Sinne entsprachen den in den ersten Jahren nach Kriegsende 1945 eingenommenen außenpolitischen Grundpositionen, die am markantesten durch das Kriterium der militärischen Bündnisfreiheit charakterisiert wurden.
Sie wurden unter diesem Blickwinkel auch zur 1955 in Bandung gegründeten Bewegung der Nichtpaktgebundenen und Neutralen gerechnet, an deren Aktivitäten sie sich mit allerdings wechselnder Intensität beteiligten. Dennoch basierte das Kriterium militärischer Bündnisfreiheit für Schweden und Finnland auf höchst unterschiedlichen historischen Ausgangsvoraussetzungen. Bevor eine gerechte Beurteilung der heutigen Positionen Schwedens und Finnlands vorgenommen werden kann, ist eine Darlegung dieser Unterschiede in ihrer zeitgeschichtlichen  Entwicklung und entsprechender Reflexionen der herrschenden politischen Kreise notwendig.
Mit der wachsenden Blockkonfrontation sowohl in der Ostsee als auch in der skandinavischen Arktisregion war man sich des lediglich äußeren Anscheins einer trügerischen Ruhe in Nordeuropa in Stockholm und Helsinki zunehmend bewusst. Die unmittelbare geografische Nähe des U-Boot stationierten Kernwaffenpotenzials der Sowjetunion auf der Halbinsel Kola als einer der Hauptträger der nuklearen Parität gegenüber den USA und der NATO erlaubte keinerlei Illusionen darüber, welchen Schutz und welche Überlebenschancen die militärische Allianzfreiheit bei Auslösung eines Krieges zwischen den beiden Militärblöcken wohl tatsächlich zu bieten hätte. Die unvergesslichen Bemühungen des damaligen finnischen Staatpräsidenten, Urho K. Kekkonen, um eine Kernwaffenfreie Zone in Nordeuropa und das Zustandekommen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) 1975 in Helsinki sowie das entschlossene Eintreten des schwedischen Ministerpräsidenten, Olof Palme, gegenüber Ost und West für die Entwicklung und Umsetzung des Prinzips gemeinsamer Sicherheit  (Vertrauensbildung und kernwaffenfreie Korridore von Nord- bis Südeuropa) waren ein hochgradiger Ausdruck dieser Befürchtungen.
Die seinerzeit in Ost und West respektierte Haltung Schwedens und Finnlands wurde nicht nur in den internationalen Beziehungen ganz allgemein, sondern auch in der wissenschaftlichen Forschung zur Politk dieser beiden Länder meistens zusammenfassend unter dem nicht ganz eindeutigen Begriff ihrer Neutralität beziehungsweise Neutralitätspolitik rubriziert. Eine realitätsbezogene Wertung ihrer damaligen wie auch heutigen Außen- und Sicherheitspolitik lässt sich damit unter zeitgeschichtlichem Aspekt dennoch treffen.
Ganz allgemein verkörpert das Streben nach Neutralität den Anspruch außerhalb kriegerischer Konflikte und ihren damit verbundenen Gefährdungen verbleiben zu können. Es beinhaltet somit – wenn auch partiell und zunächst einmal – nur ohne eigenen aktiven Beitrag dazu gewissermaßen im Rahmen „passiver“ Neutralität einen Anspruch auf Frieden. Streng genommen ergibt sich „Neutralität“ stets nur aus dem Zusammenhang mit einem Zustand von Krieg oder bewaffneten Konflikten. Als völkerrechtliches Kriegszeiteninstitut verpflichtet die Neutralität einen Staat dazu, dass er als neutraler Akteur des internationalen Systems einerseits nicht am Konflikt der Kriegsparteien teilnehmen, diesen keine Hilfe erweisen darf und sie zugleich unparteiisch behandeln muss. Andererseits hat der neutrale Akteur die Unantastbarkeit seines Gebietes zu gewährleisten, so dass die am Krieg beteiligten Seiten keinerlei (für sich eventuell vorteilhafte) Kriegshandlungen auf dessen Hoheitsgebiet vornehmen können. Zugleich sind die Kriegsparteien zur strikten Respektierung gegenüber diesem neutralen Hoheitsgebiet verpflichtet.
Entsprechend den in den Haager Abkommen von 1907 verankerten Völkerrechtsregeln über die Neutralität in internationalen bewaffneten Konflikten erlangt ein Staat den Rechtsstatus der Neutralität im Kriege entweder auf Grund einer generellen Verpflichtung zur ständigen („immerwährenden“) Neutralität oder durch eine gesonderte Neutralitätserklärung. Letztere deklariert er im Falle des Ausbruchs eines bestimmten Krieges in Hinblick auf diesen und die an ihm beteiligten Kriegsparteien in gesonderter Weise. In der Zeit nach 1945 war es allerdings immer seltener geworden, dass Staaten, die nicht an einem internationalen bewaffneten Konflikt beteiligt waren, ihre Neutralität noch ausdrücklich erklärten. In einem Ergänzungsprotokoll zu den Haager Abkommen wurde seither summarisch von „neutralen und anderen nicht am Konflikt beteiligten Staaten“ gesprochen, wenn man andere als die Konfliktparteien bezeichnen wollte. Auch hatten sich unterdessen in der Praxis bestimmte differenzierende Formen der Nichtbeteiligung an bewaffneten Konflikten herausgebildet und die in den Haager Abkommen geforderte unparteiische Gleichbehandlung der Kriegsparteien deutlich relativiert. Diese äußerten sich so zunehmend in der unterschiedlichen (politisch oft deutlich negativeren und handelspolitisch sogar in den von der UNO-Charta gebotenen Sanktionsmöglichkeiten die Beziehungen einschränkenden) Behandlung eines Aggressorstaates. Gerade die letztgenannte Tendenz macht jedoch auch die Schwierigkeiten deutlich, an Hand des klassischen idealtypischen Haager Neutralitätskonzeptes heute eine Einordnung eines Aggressorstaates vorzunehmen, das im damals gültigen „Recht auf Krieg“ („ius ad bellum“) noch keine Unterscheidung zwischen Aggressor und Angegriffenen kannte.
Schon der Verlauf des Zweiten Weltkriegs hatte gezeigt, dass die Verstöße und Abweichungen gegen die Regeln der Neutralität gravierende Dimensionen erreichten. Im Falle Schwedens nutzten die Truppen des faschistischen Deutschlands das Eisenbahnnetz des Landes zur logistischen Unterstützung für die Kriegführung in Nordnorwegen und Nordfinnland, die Verletzung schwedischer Territorialgewässer durch Kriegsschiffe der Nazi-Marine war an der Tagesordnung. Erst nachdem die Anti-Hitlerkoalition die militärische Initiative gegenüber Nazi-Deutschland erlangt hatte (Stalingrad 1943 und Normandie 1944) gewährte Schweden dagegen wiederum den Alliierten im Gegenzug zunehmende „nichtneutrale“ Vorteile.
Ganz anders sah die Situation in Hinblick auf Finnland aus. Finnland war nach zwei Waffengängen mit der Sowjetunion (von November 1939 bis März 1940 im „Winterkrieg“) und (von Juni 1941 bis September 1944 im „Fortsetzungskrieg“ an der Seite Hitler-Deutschlands) um eine grundlegende Neuorientierung gegenüber dem großen östlichen Nachbarn bemüht. Nach dem Pariser Friedensvertrag von 1947 und schweren Reparationsauflagen von Seiten der UdSSR hatte es vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Kalten Kriegs 1948 auf sowjetische Initiative den Vertrag über Freundschaft, gegenseitige Hilfe und Beistand (FZB-Vertrag) abgeschlossen. Dieser Vertrag verpflichtete Finnland für den Fall von beiden Vertragspartnern als solche verifizierter Angriffsabsichten beziehungsweise eines tatsächlichen Angriffs gegen die UdSSR (mit ausschließlichem Bezug auf über finnisches Territorium vorgetragene Operationen oder entsprechend geplante Maßnahmen) zu Konsultationen über Abwehrmaßnahmen oder zum militärischen Zusammenwirken bei der Abwehr des Aggressors.
Dem während der gesamten Zeit des Kalten Krieges erklärten Streben Finnlands nach Neutralität begegnete man im Westen auf Grund des FZB-Vertrages mit dem diskriminierenden Begriff der „Finnlandisierung“, die der politischen Führung des Landes lediglich ein eingeschränktes Maß an Souveränität unterstellte. Kein Zweifel, die finnischen Aktivitäten für das Zustandekommen der KSZE und die Pläne für eine Kernwaffenfreie Zone in Nordeuropa waren in hohem Maße darauf gerichtet, mit der Untermauerung des Neutralitätsanspruchs eine Entspannung der militärischen Konfrontation im Norden Europas und damit eine praktische Obsolenz der militärischen Konsultationsklausel des FZB-Vertrages zu erreichen.
Die nordischen NATO-Mitgliedsstaaten Dänemark, Norwegen und Island berücksichtigten – wenn auch ab und an mit gewisser Zurückhaltung – wie Schweden im Rahmen der nordischen Zusammenanbeit – insbesondere in Gestalt des 1952 gegründeten Nordischen Rates – das spezifische Verhältnis Finnlands zur UdSSR ohne diskriminierende Häme. Das politische Zusammenwirken mit Finnland war allerdings für Schweden auf Grund seiner bündnisunabhängigen Stellung weitaus einfacher und effektiver. Die vom damaligen schwedischen Außenminister Östen Undén 1945 proklamierte außenpolitische Maxime: „Bündnisfreiheit in Friedenszeiten zum Zwecke der Neutralität im Krieg“ sollte im Zuge des konfliktreichen Auf und Ab des Ost-West-Konfliktes bis zum großen Umbruch im Osten Europas an der Wende zu den 90er Jahren eine bemerkenswerte Erweiterung erfahren. Schweden beschränkte sich auf vielen Feldern nicht mehr nur auf eine abwartende „passive“ Neutralität, sondern charakterisierte nunmehr selbst immer öfter sein Agieren in der internationalen Sphäre als „aktive“ Neutralitätspolitik. Und dies keineswegs unberechtigt.
Stellvertretend können an dieser Stelle nur einige Bereiche der internationalen Politik mit Spuren sichtlich schwedischer Prägung benannt werden: So die zwischen NATO und Warschauer Pakt oftmals auf der Basis eigener technischer Expertise offerierte Mittlerschaft durch Vorschläge zur Rüstungsbegrenzung und -reduzierung sowie zu ihrer Einhaltung durch eine zuverlässigere Verifikation entsprechend geschlossener Übereinkünfte. Dies galt vor allem in den Verhandlungen des Genfer Abrüstungsausschusses im Bereich der nuklearen Waffen.
Die internationale Glaubwürdigkeit der schwedischen Positionen war nicht nur 1968 durch den frühzeitigen Verzicht auf eigene Kernwaffen untermauert worden. Unbelastet von den Traditionen der großen Kolonialmächte erlangte Schweden große Resonanz in den sich entwickelnden Ländern der sogenannten Dritten Welt durch die umfangreiche materielle Unterstützung für rund 40 „Programm“-Länder seiner Entwicklungshilfe. Die entschiedenen Stellungnahmen des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Olof Palme gegen den Krieg der USA in Vietnam bis hin zur völkerrechtlichen Anerkennung der Demokratischen Republik Vietnam (1970) und gegen die Intervention des Warschauer Paktes in der damaligen CSSR (1968) hatten Schweden in der Bewegung der Nichtpaktgebundenen und Neutralen das in der Politik sonst kaum erreichbare Ansehen einer moralischen Instanz verliehen.
Der Rückhalt für die aktive Neutralitätspolitik, der sich zweifellos auf die damaligen Erfolge einer in großem Maße gelungenen sozialen Wohlfahrtsstaatspraxis der Sozialdemokratie im Inneren gestützt hat, datiert vor allem aus den 1960er Jahren und ist bis heute im Bewusstsein großer Teile der Bevölkerung verankert.
Ein derartiger Konsens in Hinblick auf eine außenpolitische Grundorientierung war damals weder bei den nordischen Nachbarn noch weltweit zu finden. Im Unterschied zur Neutralität anderer Staaten (zum Beispiel der Schweiz) wurden und werden die schwedischen Neutralitätspositionen nicht durch Verträge auf internationaler Ebene garantiert. Sie werden auch nicht durch einen innerstaatlichen Verfassungsakt (wie beispielsweise in Österreich) vorgeschrieben. Schwedens Neutralitätspolitik gründete sich auf eine parlamentarische Willenserklärung, über deren konkrete Interpretation im Rahmen der laufenden Politik des Landes selbst entschieden wird.
Natürlich bedeutet die Tatsache einer mehr als zweihundertjährigen (offiziellen) Nichtbeteiligung an Kriegen (seit 1814) einen Umstand, der in keiner der Auseinandersetzungen um die praktische Ausformung der Außen- und Sicherheitspolitik ignoriert werden konnte. Das Bestreben Schwedens, sich aus einem seinerzeit denkbaren Krieg in seinem näheren Umfeld durch aktive Neutralität heraus zu halten, bedeutete jedoch keinerlei ideologische Neutralität gegenüber dem westlichen Wertesystem. Aber es sah in der „alliansfrihet“, das heisst der Nichtzugehörigkeit zu einem Bündnissystem (trotz einer Reihe latenter Formen militärischer Kooperation und geheimdienstlicher Verbindungen mit den USA), auf Grund seiner eigenen international beachtlichen Rüstungsproduktion und entsprechender Streitkräftestärke bis in die 90er Jahre den günstigsten Weg zur Gewährleistung seiner staatlichen Souveränität und nationalen Sicherheit.

Fortsetzung folgt.