von Michael Brie
Nikolai Bucharin berichtete später, dass Lenin im Smolny gelacht haben soll, hemmungslos und fast hysterisch, als er erfuhr, wie der Kommandierende der Matrosenwache am frühen Morgen des 6. Januar 1918 die Abgeordneten der Verfassungsgebenden Versammlung nach Hause geschickt habe: „Ich bitte darum, die Sitzung abzubrechen. Die Wache ist müde und will schlafen… Die Werktägigen brauchen Euer Geschwätz nicht.“
Lenin hatte auf diese Nachricht besorgt gewartet. Als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare hatte er angewiesen, die Abgeordneten nicht zu bedrohen und die Arbeit der Versammlung nicht zu behindern. Zugleich sollte es bei dieser einen einzigen Sitzung bleiben. Nach ihrem Ende sollte keiner mehr in den Tagungsort, den Taurischen Palast, zurückkehren dürfen. Die Bolschewiki, so auch Lenin, wie die linken Sozialrevolutionäre hatten die Beratung schon nach den Eröffnungsreden verlassen. Und Bucharin hatte von der Bühne der Verfassungsgebenden Versammlung noch „der bürgerlichen-parlamentarischen Republik den Kampf auf Leben und Tod“ erklärt. Eine neue Doppelherrschaft, jetzt zwischen Sowjetmacht und Konstituante, sollte ausgeschlossen werden.
Der Widerstand gegen die Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung blieb begrenzt. Eine Demonstration in Petrograd wurde gewaltsam aufgelöst. Es gab 21 Tote. Als sich Reste der Versammlung später in Omsk konstituierten, wurden sie durch General Koltschak, den Führer der Weißen, aufgelöst. Ein dritter Weg zwischen bolschewistischer oder konterrevolutionärer Diktatur wurde von beiden Seiten gewaltsam ausgeschlossen.
So wie die Diktatur des jakobinischen Wohlfahrtsausschusses 1793/4 den Höhepunkt der Großen Französischen Revolution darstellte und zugleich ihren Niedergang einleitete, so gilt dies auch für den Oktoberaufstand der Bolschewiki. Die Jakobiner hatten Zug um Zug die demokratischen Volksbewegungen entmachtet, den sansculottischen Versammlungen, beginnend bei den Frauen, ihre eigenständige Organisation untersagt, die Enragès unterdrückt, die Verfassung wie die Wahlen ausgesetzt. Aus der Diktatur mit dem Volk wurde eine über das Volk. Die materiellen Zugeständnisse an das Volk und die radikale Zuendeführung der Zerstörung der feudalen Altlasten gingen einher mit einer immer schnelleren Entmündigung aller Selbstorganisationsformen des Volkes. Aus den Sektionen der Volksgesellschaften, den „Organen des revolutionären Lebens“ (Pjotr A. Kropotkin), wurden Polizeiabteilungen des Staates. Die Jakobiner selbst schufen die Elemente des späteren bonapartistischen Systems.
Die Bolschewiki übertrafen ihre jakobinischen Vorbilder. Der Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung folgte die Verwandlung der Sowjets aus Räteorganisationen der Arbeiter, Soldaten und Bauern in reine Exekutiv- und Zustimmungsorgane der bolschewistischen Regierung. Die Pressefreiheit wurde beseitigt. Nacheinander wurden die nichtbolschewistischen Parteien verboten und aufgelöst. Die Gewerkschaften verloren ihre Eigenständigkeit. 1921 wurde Stalin auf Vorschlag Lenins Generalsekretär der KP Russlands. Damit fand der schon 1918 begonnene bürokratische Thermidor seinen Führer und Meister.
Wer gedacht hatte, dass die bolschewistische Diktatur nur eine Notmaßnahme im Bürgerkrieg war, wurde nach 1921 eines Besseren belehrt. Der Aufstand von Kronstadt, der eine dritte Revolution auf die Tagesordnung setzte – den Sturz der Einparteiendiktatur und umfassende Demokratisierung verlangend –, wurde mit aller Entschiedenheit niedergeschlagen. Die Bauernaufstände traf das gleiche Schicksal. Auch sie hatten mehr Demokratie und ein Ende der Zwangswirtschaft gefordert.
Unmittelbar nach dem totalen Sieg begannen Schauprozesse gegen die Sozialrevolutionäre, die sich noch 1919 auf die Seite der Bolschewiki gestellt hatten. Teil der sogenannten Neuen Politik war die von Lenin betriebene dauerhafte Legalisierung des Terrors gegen jene, die „objektiv“ (das heißt völlig unabhängig von ihrem Denken wie Tun) bezichtigt wurden, der bolschewistischen Macht zu schaden. Die Schauprozesse waren auf dieser „revolutionären Gesetzlichkeit“ begründet. Ein größerer Teil der kritischen intellektuellen Führungsschicht Russlands wurde zwangsausgewiesen. Zug um Zug erfolgte die Einschränkung und Zerstörung der Selbständigkeit der Sowjetrepubliken. Der X. Parteitag der KP Russlands leitete die Beseitigung der innerparteilichen Demokratie ein und die von Lenin auf dem Totenbett vorgeschlagene Erweiterung des ZK ermöglichte Stalin die schrittweise Entmachtung der alten Führungsschicht. Lenin hatte 1918 die Verfassungsgebende Versammlung als eine „Gesellschaft von Leichen“ bezeichnet. Zwanzig Jahre später waren dann seine engsten Getreuen ermordet, und Stalin konnte anlässlich des Jahrestages auf ihren Tod und die Liquidierung ihrer Familien „bis auf den letzten“ anstoßen.
Warum aber wurde nach dem Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg der „Raum der Freiheit“ (Hannah Arendt), die „Freiheit der Andersdenkenden“ (Rosa Luxemburg), die Demokratie der Sowjets nicht hergestellt, sondern ihr Schicksal sogar endgültig besiegelt? Wie war mit dem marxistischen, dem kommunistischen Gedankengut der Bolschewiki zu vereinbaren, den Arbeiterinnen und Arbeitern jede eigenständige Organisation zu verbieten? Über Jahrzehnte hatten sie glühend die Demokratie beschworen, das Volk aufgerufen, im Kampf gegen die zaristische Selbstherrschaft die politische Macht in die eigenen Hände zu nehmen. Jetzt aber konnte die Arbeiteropposition in der Kommunistischen Partei, die die Entmachtung der Arbeiter beklagte, mit geringer Mühe aus allen Entscheidungsgremien ausgeschlossen werden. Es galt geradezu als Kriterium kommunistischer Überzeugung, besonders erbarmungslos gegen Andersdenkende vorzugehen.
Für diesen Prozess gibt es viele mögliche Erklärungen: die autoritären russischen Traditionen, der sehr lange illegale Kampf gegen den Zarismus, die Wirkung von Krieg und Bürgerkrieg, auch Lenins eiserne Entschlossenheit, die Macht nicht mehr aus den Händen zu geben. Wären dies hinreichende Begründungen, so könnte sich die Linke bequem zurücklehnen. Denn all dies ist Geschichte. Es gäbe nichts zu lernen außer der Hoffnung, dass „beim nächsten Mal“ die Winde günstiger stehen. Dies aber wäre ein billiger und verhängnisvoller Trugschluss. Die Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung Russlands im Januar 1918 und die Zerstörung der Basisinstitutionen der so mühsam errungenen Demokratie waren kein Betriebsunfall in der Geschichte des Sozialismus.
Die Vielfachkrise der heutigen globalisierten kapitalistischen Zivilisation wird Entscheidungssituationen hervorbringen, wo es wie 1917 darauf ankommt, mit welchen Ideen, Überzeugungen und Machtvorstellungen man in diesen Momenten agiert. Wie der Vordenker des Neoliberalismus, Milton Friedman, schrieb: „Wenn eine Krise auftritt, dann hängen die Maßnahmen, die ergriffen werden, ab von den Ideen, die im Umlauf sind. Das ist meines Erachtens unsere Hauptfunktion: Alternativen zur heutigen Politik zu entwickeln, sie lebendig und bereit zu halten, bis das politisch Unmögliche politisch unausweichlich wird.“ Welche Ideen aber waren es, die die Durchsetzung einer zentralistischen Parteidiktatur durch die Bolschewiki und die Beseitigung aller demokratischen Freiheitsrechte beförderten, wenn nicht unausweichlich machten?
In deutlicher Distanz zu Thomas Hobbes hatte John Locke die bürgerliche Klasse davor gewarnt, auf eine „absolute Monarchie“ zu setzen. Gerade die Herrschenden dürften nicht über dem Gesetz stehen: Die Menschen (sprich die Bürger) könnten doch nicht so naiv sein zuzulassen, „dass alle außer einem der Beschränkung des Gesetzes unterliegen sollten und nur diesem einen die Freiheit des Naturzustandes (das heißt der Gesetzlosigkeit – M.B.) – erweitert noch durch Macht und ins Schrankenlose gesteigert durch seine Unantastbarkeit (als Inhaber aller staatlichen Gewalt – M.B.) erhalten bleiben möge! Wer dies denkt, hält die Menschen für so töricht, dass sie zwar ihr möglichstes tun werden, sich gegen jeden Schaden zu versichern, der ihnen durch einen Iltis oder einen Fuchs entstehen könnte, dass sie sich aber zufriedengeben, ja es als Schutz ansehen, von einem Löwen verschlungen zu werden“. Wieso also waren viele Bolschewiki bereit, „von einem Löwen verschlungen zu werden“?
Die Bolschewiki empfahlen den Arbeitern und Bauern Russlands genau dies: Gebt uns uneingeschränkt alle Macht, damit wir Euch schützen können. Sie waren dazu – auch – deshalb bereit, weil ihnen (und auch uns) Marx nicht nur keine wirksame Warnung vor kommunistischer Allmacht hinterlassen, sondern er selbst es faktisch unmöglich gemacht hatte, sich im Rahmen seiner Kommunismusvorstellungen auf den Schutz der Arbeiter gegen den Staat der Arbeiter, die Diktatur des Proletariats, vorzubereiten. Dies geht auf Marx’ Schriften von 1843/44 zurück, auf jene Zeit, wo er vom Standpunkt radikaler Demokratie zum Kommunismus überging. In seiner Schrift „Zur Judenfrage“ entwickelte Marx den Standpunkt, dass Emanzipation nur möglich sei, wenn die Trennung zwischen dem „bourgeois“ und dem „citoyen“, dem Privatbürger, dem ängstlich-selbstsüchtigen Esel, und dem Staatsbürger, seiner „politischen Löwenhaut“, aufgehoben werde. Marx schrieb: „… das Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen. […] Keines der sogenannten Menschenrechte geht … über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist.“ Daraus zog Marx dann die Schlussfolgerung, dass die Menschen ihre eigenen Kräfte als „gesellschaftliche Kräfte“ erkennen und organisieren müssten, was deren Formierung als besondere „politische Kraft“ erübrigen würde. Später wird er den unmittelbar gesellschaftlichen Charakter aller Arbeit in einer kommunistischen Gesellschaft postulieren. Wirkliche Konflikte zwischen den Interessen der Einzelnen, von Gruppen und denen „Aller“ haben in diesem Denken keinen Platz. Davon ausgehend konnte angenommen werden, dass die richtige Organisation aller auf der Basis des Gemeineigentums und eines gemeinsamen Willens die Freiheit der Einzelnen nach sich ziehen würde. Im ersteren Fall ist es die radikale Nutzung aller Freiheitsrechte der Einzelnen, die ein harmonisches Ganzes erzeugt; im zweiten Fall wären diese Freiheitsrechte eher Schutzrechte der Privatindividuen und würden einer wirklichen Emanzipation im Wege stehen.
Menschenrechte erscheinen von diesem Standpunkt als bürgerliches Hemmnis gegen kommunistische Politik. Dies war die Leninsche Position. Die marxistische Tradition hatte den Bolschewiki nichts hinterlassen, was sie davor zurückhalten konnte, die politischen Freiheitsrechte immer dann außer Kraft zu setzen, wenn sie dem kommunistischen Projekt im Wege zu stehen schienen. Und dies erwies sich als dauerhaft der Fall. In der vorgestellten sozialistischen oder kommunistischen Ordnung hatten die Freiheitsrechte der Einzelnen keinen legitimen Platz gegenüber den Ansprüchen der Gesamtgesellschaft.
Dies alles erklärt aber nur, warum den Freiheits- und Schutzrechten der Einzelnen und von Gruppen keine positive Bedeutung zugemessen wurde, sobald erst einmal eine kommunistische Macht errichtet worden war. Erklärungsbedürftig ist zudem, wieso dem Parteistaat derart bereitwillig absolute Macht zugesprochen werden konnte. Aber auch dies ist in der Schrift „Zur Judenfrage“ schon im Keim enthalten. Die Organisation der eigenen Kräfte als gesellschaftliche wird hier als Überwindung aller „Absonderung“ des Menschen vom Menschen gedacht. Später wird daraus der Schluss gezogen, dass dies nur auf der Basis eines gemeinsamen Eigentums aller möglich ist, die sich ihrem gemeinsamen Plan gemeinsam unterwerfen und alle ihre Arbeit als gesellschaftliche auf der Basis dieser gemeinschaftlichen Vorgaben leisten. Zu Freiheit sollte dies werden, weil es aus dem gemeinsamen Willen aller hervorgeht. Zudem sollte die Produktionsweise so umgewälzt werden, dass die Arbeit für die Gesellschaft zum ersten Lebensbedürfnis wird.
Die Diktatur aller über jeden Einzelnen konnte so als Prozess der Befreiung verstanden werden, gegen die jedes Widerwort und jeder Widerstand illegitim und konterrevolutionär ist. Auf ihrer Grundlage und im Gefolge ihrer Macht soll dann eine Gesellschaft entstehen, in der die „freie Entwicklung eines jeden zur Bedingung der freien Entwicklung aller“ wird. Bis dahin aber, so die bolschewistische Annahme, hat der diktatorische Wille aller Vorrang gegenüber den Sonderinteressen. Und diesen Willen repräsentiert die Partei „neuen Typus“.
Schon vor der Eroberung der politischen Macht hatte Lenin im Sommer 1917 in seiner Schrift „Staat und Revolution“ vorweggenommen, dass der Staat der Arbeiter ein Staat sein müsse, der auch gegenüber den Arbeitern Gewalt ausüben müsse. Er machte dies in Anknüpfung an Marx daran fest, dass das Prinzip der Entlohnung nach der Arbeitsleistung mit Zwang durchgesetzt werden müsse. In dieser Schrift fällt auch die Bemerkung, „dass es dort, wo es Unterdrückung, wo es Gewalt gibt, keine Freiheit, keine Demokratie gibt“. Die Vermittlung gegensätzlicher Interessen im Rahmen eines sozialistisch organisierten Gemeinwesens konnte im Kontext eines derartigen, marxistisch geprägten Verständnisses gar nicht gedacht werden. Die Anrufung radikaler Basisdemokratie und die Betonung absoluter Vorherrschaft des Willens aller, in Anspruch genommen durch den bolschewistischen Parteistaat, stehen fremd sich gegenüber. Im Konfliktfall sollten die diktatorischen Mittel immer die Oberhand über die emanzipatorischen Ziele behalten.
Die Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung durch die sowjetische Regierung im Januar 1918 bereitete den Weg, um mit der „bürgerlichen“ Demokratie schrittweise alle demokratischen Freiheitsrechte, die diesen Namen verdienen, zu beseitigen. Von den Sowjets blieb nichts als die äußere Hülle des bolschewistischen Parteistaats. Wie Rosa Luxemburg – eingesperrt hinter den Mauern eines deutschen kaiserlichen Gefängnisses – hellsichtig sagte, wurde aus der demokratischen Selbstermächtigung ein „Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element“ blieb.
Das Lachen Lenins am Morgen des 6. Januar 1918 war verfehlt. Er hatte genau jene Institution beseitigt, die die Bolschewiki hätten hindern können, Sozialismus und Demokratie in einen feindseligen Gegensatz zu bringen, der bis 1989 unaufgelöst blieb. Der notwendige Suchprozess wurde beendet, bevor er überhaupt begonnen hatte. Als Gorbatschow ihn siebzig Jahre später erneut auslöste, war die Führung der von Lenin begründeten Partei nicht in der Lage, die Geister, die dabei frei gesetzt wurden, unter Kontrolle zu behalten.
Schlagwörter: Bolschewiki, Demokratie, Diktatur, Jakobiner, Lenin, Michael Brie, Russland, Thermidor, Verfassungsgebende Versammlung