20. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2017

Das Beispiel Venezuela

von Ulrich Busch

Kommunistische Ideen oder Ansätze für ein sozialistisches Gesellschaftsmodell haben wir in den letzten Jahrzehnten des Öfteren scheitern gesehen, in Russland wie in Aserbaidschan, in der Mongolei, Vietnam, Angola, Mosambik, Äthiopien, Polen, Tschechien, Albanien, Bulgarien, Rumänien, Serbien, Moldova, Litauen, Libyen, Chile, Nikaragua oder der DDR. Die Aufzählung ist unvollständig und ließe sich fortsetzen. Weitaus übersichtlicher ist die Liste der Staaten, die vom einstigen sozialistischen Weltsystem übrig geblieben sind und die noch kommunistische Merkmale aufweisen: China, Kuba, Venezuela, Nordkorea. Aber auch sie haben den Pfad ihrer bisherigen Entwicklung inzwischen verlassen und durchlaufen Transformationsprozesse, die als „postsozialistisch“ bezeichnet werden, oder sind dermaßen deformiert, dass sie die sozialistische Idee eher diskreditieren als dass sie für deren Realisation stehen würden. Die Gründe für das historische Scheitern des Sozialismus sind so vielfältig wie die Volkswirtschaften, Traditionen, politischen Regime und Kulturen dieser Länder. Sie reichen von fehlenden objektiven (ökonomischen und sozialen) Voraussetzungen über Korruption, Ineffizienz, Vetternwirtschaft und Parasitentum bis hin zu subjektiven Fehlern, politischer Kurzsichtigkeit und Dummheit, Ignoranz, Personenkult und so weiter. Auch Einflüsse von außen, militärische Interventionen, Erpressung und Sabotage spielten gewiss eine Rolle. Darüber gibt es genügend Beobachtungen, Analysen und Studien, nicht zuletzt in den betroffenen Ländern selbst, die das Scheitern des Sozialismus als Befreiung und als Tragödie erlebt haben.
Das aktuelle Beispiel Venezuelas reiht sich hier ein, weist zugleich aber auf weitere Probleme hin, die für das Scheitern des Sozialismus generell von Bedeutung sind. Dies betrifft zum einen das Verhältnis von Politik und Ökonomie. Zum anderen die vorherrschende Auffassung über die Quellen von Wohlstand und Reichtum. Was die erste Frage anbetrifft, so ist die Regierung Nicolás Maduros (wie schon zuvor die Regierung Hugo Chávez‘) der Auffassung, dass die Politik, und damit sie, darüber entscheiden, was und wie viel produziert wird, wie viel konsumiert und wie viel investiert wird, zu welchem Preis exportiert und importiert wird, wie der Wechselkurs sich verhält … Objektive und gesetzmäßige Zusammenhänge in der Wirtschaft lassen sie nicht gelten: Alles sei, so ihre Ansicht, eine Frage des politischen Willens und der Macht. Man kennt das seit 1917. Man weiß auch, wohin es führt. Gestützt auf eine Wirtschaft, die ganz wesentlich auf der Ausbeutung natürlicher Rohstoffquellen beruht und nicht auf der gewerblichen Produktion, ist dies ein gefährlicher Irrtum. Venezuela lebt von Erdöl und Erdgas, die Vorkommen sind riesig und die Kosten für die Gewinnung vergleichsweise gering. Solange der Preis auf dem Weltmarkt hoch war, erzielte das Land riesige Gewinne. Da die Ölindustrie dem Staat gehört, flossen diese Gewinne direkt in den Staatshaushalt und von dort als „Geschenke“ an die Bevölkerung. Nach dem auch hierzulande von linken Umverteilungsaktivisten gerne proagierten Spruch „Geld ist genug für alle da“ praktizierte der Staat in Venezuela eine Entkopplung von Einkommen und Arbeit, indem er die Gewinne aus dem Ölexport großzügig an die Bevölkerung verteilte oder sie für teure und prestigeträchtige Sozialprojekte ausgab. So großartig sich bestimmte Sozialprojekte auch ausnehmen mögen, worauf es aber ankommt, ist die Wirtschaft. Investiert wurde hingegen nur wenig, alternative Wirtschaftszweige zum Öl wurden kaum entwickelt. Eine Wirtschaft, wie die Venezuelas, stellt ein „Rentenmodell“ dar, bei dem einem einseitigen und relativ starren Angebot (Erdöl und Erdgas) eine hohe und wachsende Nachfrage (auf dem Weltmarkt) entspricht, die den Preis bestimmt. Der Wert des Produktionsfaktors Ölindustrie leitet sich aus dem Preis des Öls her und ist nicht umgekehrt, wie sonst, ein Kostenfaktor, der den Ölpreis bestimmt. Mit dem Verkauf des Öls wird folglich ein Ertrag realisiert, der nichts mit den tatsächlichen Aufwendungen (Arbeit und Material) zu tun hat. Man spricht hier deshalb von einer „Rente“. Das Modell funktioniert, solange der Ölpreis hoch ist oder weiter ansteigt. Fällt er aber, wie seit 2010 der Fall, so kollabiert das Konstrukt zwangsläufig: Dem Staat geht das Geld aus, er muss sich verschulden, um die Bevölkerung bei der Stange zu halten. Um mehr exportieren zu können, wertet er die Währung ab, dadurch aber steigen die Importpreise und mithin die Inflation, was die Währung weiter unterminiert und so weiter. Und der fallende Ölpreis entwertet auch noch das Anlagekapital der Industrie. Alles, was wir hier sehen, ist ökonomische Logik. Und der ist mit Politik nun mal nicht beizukommen. Das will Präsident Nicolás Maduro nicht wahrhaben, ebenso wie vor ihm schon andere linke Politiker dachten, man könne mit einem Primat der Politik die Gesetze der Ökonomie aushebeln. Karl Marx dachte das nicht, sondern betonte vielmehr, dass „man jeder historischen Kenntnis bar sein (muss), um nicht zu wissen, dass es die Souveräne sind, die zu allen Zeiten sich den wirtschaftlichen Verhältnissen fügen mussten, dass aber niemals sie es gewesen sind, welche ihnen das Gesetz diktiert haben. Sowohl die politische wie die bürgerliche Gesetzgebung proklamieren, protokollieren nur das Wollen der ökonomischen Verhältnisse.“ (Karl Marx: Das Elend der Philosophie, MEW Band 4, Seite 109). Das gilt bis heute. Ein US-amerikanischer Präsident hat diese Überzeugung für unsere Zeit deshalb kürzer gefasst wiederholt: „It’s the economy, stupid!“ (Bill Clinton) In Venezuela hat man diese Wahrheit bisher ignoriert. Jetzt, wo die Katastrophe da ist, erscheint eine politische Diktatur als letzter Ausweg, um die Errungenschaften des Sozialismus zu retten. Aber man wird sie nicht retten, weil das ökonomische Fundament fehlt. Und zudem das Bewusstsein für ökonomische Zusammenhänge und die Abhängigkeit der Politik von den Voraussetzungen in der Wirtschaft. – Venezuela ist ein Lehrbeispiel dafür, dass eine Idee scheitern muss, die vielleicht gut gemeint ist, aber schlecht gemacht, und die auf einem nicht tragfähigen ökonomischen Konstrukt, einer „Rentenökonomie“, beruht.