20. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2017

Ungarisches

von Erhard Crome

Von vier Millionen Beschäftigten in Ungarn redete Viktor Orbán im Wahlkampf 2014. Das sei eine Rekordzahl. Die Gewerkschaften widersprachen: Da würden 200.000 Menschen mitgezählt, die in sinnlose öffentliche Beschäftigungsprogramme gezwungen wurden, und 400.000 Ungarn, die im Ausland arbeiten. Der Deutsche Mittelstandsbund zählt 2,5 Millionen Beschäftigte in der ungarischen Wirtschaft.
Ungarn hatte in der Zeit des Realsozialismus seine Modernisierung und Industrialisierung erfahren. Von den etwa neun Millionen Einwohnern des Landes arbeiteten 1938 etwa 350.000 in der Industrie, während 4,5 Millionen ihre Existenzgrundlage in der Landwirtschaft fanden. Die meisten lebten in tiefem Elend. Die Rede war von einem Land der „drei Millionen Bettler“, das waren (einschließlich Familienangehörige) 1,2 Millionen Zwergbauern, 600.000 Knechte auf den großen Gütern und 1,2 Millionen Tagelöhner. Für sie waren Milch und Zucker Luxusgüter, während Ungarn auf den Außenmärkten als Exporteur landwirtschaftlicher Produkte auftrat. Über 10.000 Menschen starben jährlich an Tuberkulose. Im Jahre 1945 wurden etwa 600.000 erwachsene Analphabeten gezählt.
In den achtziger Jahren war Ungarn ein modernes Industrieland mit entwickelter Landwirtschaft. Die Industrie produzierte das 15-Fache dessen, was 1938 geschaffen worden war, die Landwirtschaft auf verkleinerter Anbaufläche das Doppelte. Analphabetentum und Krankheiten wie Tuberkulose gehörten der Vergangenheit an. Ende der achtziger Jahre, vor den gesellschaftlichen Umbrüchen, hatte Ungarn 10,7 Millionen Einwohner, die Zahl der Beschäftigten betrug 4,9 Millionen Menschen. Heute lebt etwa ein Drittel der Bevölkerung Ungarns, etwa drei Millionen Menschen, unter dem Existenzminimum. 65 Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter gehen einer Arbeit nach oder sind selbstständig. Die Einwohnerzahl ist auf 9,8 Millionen gesunken.
Gáspár Miklós Tamás hielt kürzlich in Budapest vor internationalem Publikum einen interessanten Vortrag. Sein Thema war eigentlich der Aufstieg der Rechten und des Autoritarismus in Mittel- und Osteuropa. Biografisch wichtig: Tamás gehörte in der Zeit János Kádárs zur demokratisch-liberalen Opposition, war in der Umbruchszeit Mitbegründer der damals wichtigsten liberalen Partei, des Bundes Freier Demokraten (SZDSZ), und saß für sie 1990 bis 1994 im ersten demokratisch gewählten ungarischen Parlament. Angesichts der Verwerfungen im sogenannten Transformationsprozess stellte er sich in den neunziger Jahren auf strikt antikapitalistische Positionen. Aus seinem Amt als Direktor des Philosophischen Instituts der Ungarischen Akademie der Wissenschaften wurde er 2011 durch die Orbán-Regierung entfernt. Derzeit ist er Mitarbeiter des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.
Eingangs verwies er auf die weitreichende Rolle der Medien im Neoliberalismus, die auch die Linke nicht unberührt lässt: Da wird mit Emmanuel Macron ein entschiedener Vertreter des Neoliberalismus zum Präsidenten Frankreichs gewählt und die Linke feiert das als einen grandiosen Sieg über die Rechte. Sich selbst bezeichnet Tamás als „altmodischen“ Marxisten. Im Kommunistischen Manifest betonten Marx und Engels, die Kommunisten hätten allen anderen Sozialisten die Einsicht voraus, dass die Befreiung der Arbeiterklasse eine internationale Aufgabe ist, über alle nationalen Grenzen hinweg. Das größte Verdienst von Marx war nach Tamás, der Arbeiterklasse, allen Unterdrückten, den Armen ein eigenes Selbstbewusstsein, ein Gefühl der Würde gegeben zu haben. Das hatten sie so zuvor nie. Und das war der Anspruch, nicht nur gleichberechtigt zu sein, sondern die Macht zu übernehmen und die Gesellschaft zu verändern. Das – so Tamás – bleibe, auch wenn die Kommunisten an der Macht viele Fehler gemacht und Verbrechen begangen haben. In diesem Sinne seien Industrialisierung, Modernisierung der Gesellschaft und Vollbeschäftigung im Realsozialismus auch Ausdruck dessen gewesen, dass dies unter den obwaltenden Bedingungen umgesetzt wurde.
Die Bourgeoisie dagegen habe von Anfang an alles getan, um nicht nur diese Machtübernahme und die Gesellschaftsveränderung zu verhindern, sondern das Selbstbewusstsein der Arbeiter und Unterdrückten, ihr Gefühl der Würde zu zerstören. Der Faschismus hatte von Anfang an die Funktion, deren Protest- und Wutpotenzial von der Frage nach dem Kapitalismus abzulenken und auf andere Ziele zu richten, andere zu Schuldigen und damit zu Opfern zu machen: Juden, Einwanderer, Roma. Eine wirkliche Analyse des neuerlichen Aufstiegs der Rechten und des Autoritarismus hält Tamás für unmöglich, wenn dieser grundlegende Zusammenhang aus dem Blickfeld gerät.
Das Kollabieren des Arbeitsmarktes in Ungarn Anfang der neunziger Jahre, die Vernichtung von über einer Million Arbeitsplätze habe nicht nur der Einführung der neo-kapitalistischen Rationalität gedient, sondern vor allem auch der Zerstörung des Selbstbewusstseins, das mit der sozialistischen Idee verbunden war. Ein großer Teil der ungarischen Bevölkerung ist heute intolerant gegenüber Asylsuchenden und Migranten. Sie sind es nicht wegen Orbán, sondern Orbán regiert, weil die Bevölkerung so zugerichtet wurde.