von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal eine avantgardistische Talenteschmiede im alten Berlin, eine Wiener Melange sowie eine Beschwerde an die Königliche Regierung zu Potsdam …
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Er war Stammgast im Romanischen Café und seine ständige Begleitung war ein kleiner Hund. Er schrieb Aufsätze für Ossietzkys Weltbühne, Sketche für Reinhardts Kabarett „Schall und Rauch“ und er lieferte das Konzept für „Menschen am Sonntag“, den Film, mit dem Billy Wilder und Robert Siodmak groß rauskamen. Doch das wirkungsvollste, nachhaltigste Verdienst des Multitalents Moriz Seeler, das in Publizistik, Theater und Dichtkunst reüssierte, war sein einzigartiges Gespür für Begabungen, für das Zukunftsträchtige in der Kunst. Mit gerade 25 Jahren gründete der aus Pommern stammende junge Mann 1921 in Berlin den Verein „Junge Bühne“, eine sagenhafte Talenteschmiede und das Sprungbrett für Autoren wie Brecht, Bronnen, Jahnn oder Zuckmayer, für Schauspieler wie Elisabeth Bergner, Heinrich George, Alexander Granach oder Veit Harlan.
Seelers „Junge Bühne“ mit ihren skandalumwitterten Sonntagsmatineen war eine Preziose der Theatergeschichte und zeugte vom Mut und Können, vom Instinkt und Wissen, vom außerordentlich starken Wollen des genialen Avantgardisten, eines bedeutenden Geburtshelfers des modernen Theaters. Er selbst blieb seltsam bescheiden eher im Hintergrund, anderen aber verhalf er zu bis heute nachwirkendem Star-Ruhm.
Mit dem Machtanritt Hitlers wurde alles anders. Seeler blieb nach 1933 zunächst in Deutschland, arbeitete im Jüdischen Kulturbund Rhein-Ruhr, floh später nach Wien, wurde verhaftet, kam ins KZ. Carl Zuckmayer bemühte sich um Freilassung und Ausreise. Vergebens. Vor 75 Jahren, am 15. August 1942, wird Moriz Seeler nach Riga deportiert und dort alsbald ermordet.
Grab eines Dichters
von Moriz Seeler
Immer segeln Wolken, weiße Dschunken,
Über diesem Grab und schimmern blank.
Doch der Hügel ist schon eingesunken
Und das Kreuz steht schräg im Untergang.
Niemand haust und wohnt in diesem Grabe
Und da west kein abgestorbner Rumpf.
Der drin lag, flog fort und sitzt als Rabe
Irgendwo auf einem Weidenstumpf.
Stumm und schwarz und frierend bleibt er hocken –
Aber einmal wird er grässlich schrein
Und dann stürzt der Bau der Welt erschrocken
Wie ein Ankerbausteinkasten ein.
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Liegt es am Ende womöglich doch am Wasser? Seit der letzte Kaiser Österreichs die Installation der damals super modernen Ringwasserleitung für seine Haupt- und Residenzstadt beförderte, mit dem Wasser aus den nahen Bergen, seither hat Wien selbst im heißesten Sommer eiskaltes Leitungswasser. Und was da frisch aus Gebirgsquellen strömt, das schmeckt. Wie der Wiener Kaffee, dessen bitteres Aroma zergeht auf der Zunge wie tiefschwarze Schokolade. Und mit Milch wird alles noch besser: zartbitter, sanft den Gaumen schmeichelnd. Und solch „ein Melange“ aus Mokka und fein geschäumter Milch ist denn auch der Klassiker. Dabei ist es so, dass auch der normale Kaffee, genannt „Brauner“, wie hierzulande doppelter Espresso schmeckt, was wohl doch am besonderen Wasser liegt, das alles das herauslöst, was den Kaffee so kräftig macht und Ingredienzien von sonst oft ätzender Würzigkeit neutralisiert. ‑ Im „Tiroler Hof“ hinter Albertina und Staatsoper kostet „ein Melange“ 4,20, mit Trinkgeld fünf. Aber man gibt gerne die Handvoll Euro. Denn im Wiener Kaffeehaus (UNESCO-Welterbe) wird Zeit und Raum konsumiert, doch bloß Kaffee steht auf der Rechnung.
Zum Raum gehören die Ausstattungs-Klassiker Lüster, Marmortisch, Zeitungsstand, Logen. Logen sind einander gegenüber stehende gepolsterte Sitzbänke etwa wie einst im Erste-Klasse-D-Zugabteil. Das mit den Zeitungen war schon im 18. Jahrhundert so. Die Kaffeesieder hatten die prima Marketing-Idee, mit der Auslage möglichst vieler der schon damals nicht sonderlich preisgünstigen Druckerzeugnisse der Konkurrenz Paroli zu bieten; je mehr Papier, desto mehr Publikum. – Aber warum wird bis heute zu jedem Kaffee auf dem Tablett ein Glas Wasser kredenzt? Etwa, um einem Koffein-Schock vorzubeugen? Falsch! Ein Glas reines Wasser galt im 19. Jahrhundert als Referenz für die Qualität des Brunnens, mit dessen Wasser gekocht wurde. Charmante Idee, noch heute diese kostenlos zusätzliche Erfrischung zu bieten, die ein aufmerksamer Kellner gern auch ohne Zweit-Kaffee nachreicht zum stundenlangen Festlesen in den Gazetten der Welt.
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Das Beschwerde-, Protest-, Dagegen-Unwesen grassiert nicht erst heutzutage. Vor gut einem Jahrhundert gab es einen komisch-grotesken Fall, der mich ein bisschen daran erinnert, was feine Leute neuerdings alles anstellen, um etwa Kindergeschrei auf Spielplätzen in der Nachbarschaft verbieten zu lassen.
Berlin Sommer anno 1911. Die Thermometer in der Reichshauptstadt auf Rekordhöhe: tagelang mehr als 35 Grad. So zogen Heerscharen ans Ostufer vom Wannsee, wo bereits 1907 eine „Öffentliche Badestelle“ amtlich ausgewiesen worden war und Jahrzehnte später Europas größtes und modernstes Strandbad entstehen sollte. Um die „öffentliche Stelle“ etablierten Kleinunternehmer ein Familienbad mit blickdichtem Zaun, diverse Kioske und Restaurationen mit Musik und Trallala. Es ging hoch her unter Volkes freiem Sommerhimmel – erstaunlicherweise schon ab sechs Uhr frühmorgens.
Doch nebenan und gegenüber prunkten die hochherrschaftlichen Villen, deren Besitzern der massenhafte Badespaß die Ruhe störte. Es hagelte Beschwerden gegen die „eingerissenen Zustände, die eine geistige Konzentration und ein Ausruhen unmöglich machten“. Auch der Maler Max Liebermann in seiner eben erst bezogenen Villa mit Garten, Strandpavillon und Bootssteg unterschrieb gemeinsam mit 27 steinreichen Grundbesitzern am 28. Januar 1912 einen Beschwerdebrief an die Königliche Regierung zu Potsdam bezüglich des „ruhestörenden Geräuschs im fiskalischen Familienbade Wannsee“. Schließlich suchte man „fern vom Getriebe der Großstadt mit ihrem lärmenden Vergnügen Muße zu künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeit sowie Erholung nach den Mühen anstrengender kaufmännischer Tätigkeit“.
Was für eine witzige Idee, aus diesem Konflikt zwischen Elite und Menge eine zauberhafte kleine Kunstausstellung zu entwickeln. Motto: „Streit am Wannsee. Von noblen Villen und Strandbadfreuden“ in der Liebermann-Villa im edlen Wannsee-Uferkiez Heckeshorn. Mit Unterstützung der Berliner Bäderbetriebe. Und nach der Besichtigung von Kunst locken Blumengarten, Park mit Birken und Seeblick sowie das Café Max mit Terrasse, Kuchen, Kaffeeausschank.
Da hängen denn in den luftigen Räumen neben den gemalten Idyllen von beispielsweise Max Liebermann die zünftigen Zeichnungen aus deftig halbnacktem Milljöh am und im Wasser von beispielsweise Heinrich Zille. Nebenbei wird so auch ein Häppchen Kulturgeschichte gegensätzlicher Lebensstile zur Kaiserzeit lebendig; ergänzt mit diversen Dokumenten aus dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv. – Übrigens: Im Sommer 1912, also ein gutes halbes Jahr nach Abfassung der großbürgerlichen Meckerei gegen die Plebejer, kam etwa eine halbe Million Bade- und Feierlustige an den Wannseestrand. Der Kaiser tat nichts dagegen; die Behörden auch nicht. Die unerhörte Beschwerde verhallte ungehört.
Schlagwörter: Berlin, Kaffee, Max Liebermann, Moriz Seeler, Reinhard Wengierek, Wannsee, Wien