von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Berliner Theaterkönige im Abgang und ein neuer, der die Krone will, sowie der „Tristan“-Akkord via Computer in Bayreuth…
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Großes Hauptstadt-Theater: Zwei Giganten des europäischen Theaters haben ihre Kommandozentralen verlassen, nicht freiwillig, sondern weil es die Kulturpolitik so wollte (immerhin geht die Welt geht nicht unter: beide werden künftig als freie Künstler durch die Theaterlandschaft ziehen). – Zunächst also, nach einem Vierteljahrhundert, verließ Frank Castorf (66) seine unter ihm weltberühmt gewordenen „Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz“ (sein Nachfolger, ein belgischer Kunst-Kurator aus London, wird die programmatische Platzbezeichnung tilgen). Am Tag darauf, nach 18 Jahren, ging Claus Peymann (80) aus dem Theater am Schiffbauerdamm, das unter Brecht weltberühmt geworden war als Berliner Ensemble. Beide Epoche machenden Regisseure – Castorf vornehmlich in den 1990er Jahren, Peymann etwa 30 Jahre eher als Umstürzer des westdeutschen Gründgens-Nachkriegstheaterbetriebs – waren zugleich Intendanten mit ausgeprägt diktatorischem Führungsstil. Und bei aller sarkastischen Hochachtung einander verbunden durch ironisch-kritische Distanz.
Castorf verabschiedete sich mit einer für Außenstehende kaum nachvollziehbar selbstreferenziellen, angejahrt vierstündigen Inszenierung eines Ibsen-Stücks aus dem Repertoire („Baumeister Solness“); danach Massenparty draußen im Regen und spitze Reden aus Wut und Abschiedsschmerz. Peymann hingegen kreierte eine hinreißende Fünfstunden-Parade mit einem Halbhundert raffiniert arrangierter, köstlicher Häppchen aus den immerhin 190 Produktionen seiner Ära. Mit selbstbewusstem Seitenblick auf die ach so hochmögenden Kritiker, die ihn notorisch abwatschten als musealen Verfechter eines flügellahmen Literaturtheaters. Dabei stellte die finale Peymann-Show cool klar, welch Vielfalt an wichtigen zeitgenössischen, klassischen und klassisch-modernen Autoren er in sein Haus holte und welch Fülle gegensätzlicher großer Regisseure – und grandioser Mimen. In seinem BE waren alle Genres und Spielformen im Einsatz; freilich immer dem Text dienend. Peymanns Maxime: Dem Autor vertrauen, ihn in seiner Originalität und Autorität zur Erscheinung bringen – jenseits kleingeistig-privater Regie-Visionen. C.P. hasst ungeniert aggressiv das Herumkaspern auf der Bühne! Stets sah er sich als Fels in der Brandung aus „aufgeblasenem Nichtkönnen und billigem Jugendwahn“. Damit gewann er viel Medien-Feindschaft. Aber noch mehr Publikums-Freundschaft. Sein BE war stets rappelvoll (im Gegensatz zur Volksbühne).
Ja, es war eine herzbewegende Rückblick-Revue, auch eine Hommage auf Peymanns Halbjahrhundert-Leben als (einst) Epoche machender Big-Boss des Theatermachens (sein Regie-Alterswerk am BE blieb eher blass). Und es war ein Fest weher wie glückseliger Erinnerung mit dem gesamten Ensemble, mit Prominenz vom Wiener Burgtheater, mit Film, Musik, Gesang (unter anderen Grönemeyer, Nina Hagen). Dazu Liebeserklärungen an den Prinzipal mit dem Reißzahn im Fleisch der Öffentlichkeit (C.P. untertreibend: „Ich wollte nie den Skandal, ich habe nur Finger in offene Wunden gelegt.“). Am Ende schließlich, nachdem Cornelia Froboess-Ranjewskaja mit Tschechow letztmalig ihren Kirschgarten grüßte, stehende Ovationen bis die Beine schmerzten. Und, auch das noch, gemeinsame Abgesänge von Pop-Hits bis die Puste ausging. Keine Reden! Der Boss stand, die Zurückhaltung selbst, abgeklärt beiseite.
Dann aber, Mitternacht ist längst vorbei, stürzt alles raus zum Feuerwerk, vom Theater-Zampano mit seinem Sinn für Poesie und Zauberei höchst selbst bezahlt. Barocke Prachtentfaltung für 12.000 Euro. In die Stille danach schallt aus Boxen: „Es war eine herrliche Zeit. Es war eine mächtige Zeit. Es war die schönste Zeit.“ Die weiße BE-Fahne wird vom Dach geholt. Das staunende Volk ist gerührt und strömt in den Theaterhof zu Bier, Bratwurst, Tanz unter alten hohen Bäumen, die schon Brecht so liebte. Bis früh um fünfe, kleine Maus. Ohne Regen.
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Ich habe nie verstanden, warum Peymann immerzu aashaft lästerte über seinen Nachfolger, den so erfolgreichen Chef des Frankfurter Schauspiels Oliver Reese (53). Nur allzu gern nannte er ihn „das Frankfurter Würstchen“. Dabei sind beide nicht weit auseinander; stehen auf ein die Identität eines Theaters prägendes starkes Ensemble – erst recht jetzt „in einer Zeit, in der das Ensemble- und Repertoiretheater und die Profession des Schauspielers in Frage gestellt werden“, so Reese vor der Presse im BE kurz vor Peymanns tollem Abgang. Und beide halten/hielten den Hausgott Brecht hoch und setzen/setzten auf aktuelle Stoffe. Wobei Reese sonderlich Stücke lebender Autoren spielen will, wofür er extra ein Entwicklungslabor einrichtet. Der Berliner Dramatiker Moritz Rinke wird es betreuen.
Im Fokus also – was längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist ‑ die Schauspieler. „Menschendarsteller Ausrufezeichen, und nicht Funktionsträger für irgendwas; also Erzählkraft für packende Geschichten und Stoffe“, sagt Rinke. Wobei er sich zunächst auf Autoren aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum konzentrieren will. Seine Formel: „Kein Brexit aus der Dramatik“. Das ist, da kann doch auch Peymann nicht meckern, ein modern konservativer Ansatz. Goodbye Postdramatik ‑ verstanden auch als Gegengewicht zur gängigen Dominanz performativer Spielweisen wie demnächst zu erwarten an der Post-Castorf-Volksbühne unter Direktion des Theoretikers Chris Dercon von der Londoner Tate-Gallery, der das erzählende Schauspiel mit Drama, Konflikt, Menschendarstellung eher ablehnt.
Der neue BE-Hausregisseur heißt Michael Thalheimer. Er beginnt mit Brechts „Kreidekreis“. Hinzu kommt, was nicht ohne Witz ist, Frank Castorf als künftiger Dauer-Gast. Allein dieser mit seiner ausladend barocken Wucht und jener mit seinem geballt minimalistisch-archaischen Monumentalismus sind aparte Gegensätze, die für ordentlich Spannung sorgen werden. Wie die Riege von Regisseuren, die zwar als ruhmreich gelten, in Berlin aber noch eher unbekannt sind. Dieser für Vielfalt stehende Mix aus Regiestars und Newcomers ist so verheißungsvoll wie die neue Truppe. ‑ Schau‘n wir mal, ob aus all den prima Plänen eines Groß- und Weltstadttheaters das dicke „Wow!“ wird.
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Der Chef der zu Recht enthusiastisch gefeierten Komischen Oper Berlins, Barrie Kosky, geht, endlich, nach Bayreuth. Um zur Festspiel-Eröffnung die tiefgründig gewitzte „Meistersinger“-Komödie zu inszenieren. Wer die teuren Tickets nicht zahlen will, aber trotzdem Wagner mag nebst der märchenhaft markgräflichen Residenz, der sollte wenigstens Richards Stadtvilla inspizieren: Haus „Wahnfried“ ‑ „Wo mein Wähnen Frieden fand“.
Nach langjähriger Sanierung ist es jetzt wieder zugänglich zusammen mit dem Nebengebäude „Siegfried-Haus“ (zehn Jahre nach des Meisters Tod vom Sohn errichtet, von dessen Frau Winifred bewohnt bis zu ihrem Tod 1980) ‑ als nationale Gedenkstätte, gemäß der Größe des Hausherrn. Und als Ort, der, vornehmlich über so spannende wie erhellende Filmausschnitte, eine schwierig-deutsche Geistesgeschichte sachlich spiegelt (politische Vereinnahmung in der NS-Zeit, Antisemitismus). Dazu Wagner-Reliquien (Samtbarett, Goldrandbrille, Teetasse, Koffer, Federhalter), hübsche und bizarre Familienfotos sowie Kopien von Wagners massenhaften Schreibereien. Pointiert wird da ein sagenhafter Lebenslauf aufgeblättert, kritisch und auch für Laien nachvollziehbar seine komplexe Denk- und Werkgeschichte. In einem eleganten Neubau nebenan die szenischen Dokumente aller Bayreuther Festspielzeiten, ein Café mit Nischen zum Wagner-Hören über Kopfhörer aus dem Computer. Alles gut, edel, teuer. Das Tollste aber: Partituren auf Video, die Signifikantes via Notenbild und Musikeinspielung verstehbar machen. Beispielsweise der revolutionäre „Tristan“-Akkord. Oder das Es-Dur-„Rheingold“-Vorspiel, die in 136 Takten in Töne gebannte Welt-Schöpfung. Faszinierend. Lehrreich. Überwältigend. Oder einfach: schön!
Schlagwörter: Berliner Ensemble, Chris Dercon, Claus Peymann, Frank Castorf, Haus Wahnfried, Oliver Reese, Reinhard Wengierek, Richard Wagner, Volksbühne