Die Grenze
Weit liegt die Landschaft. Berge, Täler und Seen. Die Bäume rauschen, die Quellen springen, die Gräser neigen sich im Wind.
Quer durch eine Waldlichtung, durch den Wald, über die Chaussee hinüber läuft ein Stacheldraht: die Grenze. Hüben und drüben stehen Männer, aber die drüben haben blaue Uniformen mit gelben Knöpfen und die hüben rote Uniformen mit schwarzen Knöpfen. Sie stehen mit ihren Gewehren da, manche rauchen, alle machen ein ernstes Gesicht.
Ja, das ist also nun die Grenze. Hier stoßen die Reiche zusammen – und jedes Reich paßt sehr auf, dass die Bewohner des andern nicht die Grenze überschreiten. Hier diesen Halm darfst du noch fauchen, diesen Bach noch überspringen, diesen Weg noch überqueren. Aber dann – halt! Nicht weiter! Da ist die Grenze. Einen Schritt weiter – und du bist in einer anderen Welt. Einen Schritt weiter – und du wirst vielleicht für etwas bestraft, was du hier noch ungestraft tun könntest. Einen Schritt weiter – und du darfst den Papst lästern. Einen Schritt weiter – und aus dir ist ein ziemlich vogelfreies Individuum, ein „Fremder“ geworden.
Pfui, Fremder –! Du bist das elendeste Wesen unter der Sonne Europas. Fremder –! Die alten Griechen nannten die Fremden Barbaren – aber sie übten Gastfreundschaft an ihnen. Du aber wirst von Ort zu Ort gejagt, du Fremder unserer Zeit, du bekommst hier keine Einreiseerlaubnis und dort keine Wohnungsgenehmigung, und dort darfst du keinen Speck essen, und da von da keinen mitnehmen – Fremder!
Und das Ding, das sie Europa nennen, ist ein Lappen von bunten Flicken geworden, und jeder ist fremd, wenn er nur die Nase aus seinem Dorf heraussteckt. Es gibt mehr Fremde als Einwohner in diesem gottgesegneten Erdteil …
Nach diesem Krieg, nach solchen Verschiebungen, gegen die die kleinen Tagereisen der Völkerwanderung ein Kinderspiel waren, nach blutigen Märschen der Völker durch halb Europa, sind die Kirchturmangelegenheiten jedes Sprengels zu höllischen Wichtigkeiten geworden. Greiz-Schleiz-Reuß ältere Linie und der Volksstaat Bayern und das autonome Oberschlesien und Frankreich und Kongreßpolen – es ist immer dasselbe. Jeder hält seinen Laden für den allerwichtigsten und ist nicht gesonnen, auch nur den kleinsten Deut nachzugeben. Zunächst einmal und zum Anfang ziehen wir eine Demarkationslinie. Wir trennen uns ab. Wir brauchen eine Grenze. Denn wir sind eine Sache für sich.
Eine Erde aber wölbt sich unter den törichten Menschen, ein Boden unter ihnen und ein Himmel über ihnen. Die Grenzen laufen kreuz und quer wirr durch Europa. Niemand aber vermag die Menschen auf die Dauer zu scheiden – Grenzen nicht und nicht Soldaten –, wenn die nur nicht wollen.
Wie lachten wir heute über einen, der mit schwärmerischem Pathos anfeuerte, die Grenzen zwischen Berlin und Magdeburg einzureißen! So, genau so wird man einmal über einen internationalen Pazifisten des Jahres 1920 lachen, wenn die Zeit gekommen ist. Sie rascher heraufzuführen, sei unser aller Aufgabe.
Peter Panter
Berliner Volkszeitung, 27.06.1920
Fragen zu einem Pressefoto
Die Krawall-Bilder vom G20-Gipfel in Hamburg sind noch in aller Munde. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen bestimmten tagelang die Schlagzeilen der deutschen und internationalen Medien. In zahlreichen Talkrunden wurde darüber hitzig und kontrovers debattiert und aus allen politischen Lagern wurde lückenlose Aufklärung gefordert. Trotzdem streitet sich Deutschland nach wie vor darum, wer Schuld an der Eskalation in Hamburg trägt.
Nun soll hier nicht diskutiert werden, ob solche Gipfel sinnvoll sind, ob die Hansestadt der richtige Austragungsort war, von wem die Eskalation ausging oder ob der Polizeieinsatz angemessen war. Nein. Mich hat ein Foto bestürzt, das in verschiedenen Zeitungen erschien. Das dpa-Foto trug den Bildtitel „Polizisten nehmen während der Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg unter Beobachtung von Journalisten einen Aktivisten fest“. Ein gespenstisches Foto. Von dem „Aktivisten“ ist allerdings nur der Unterkörper zu sehen. Zwei Polizisten in Schutzausrüstung halten ihn kniend auf dem Straßenpflaster fest. Daneben sind zwei Fotoreporter (mit Schutzhelm) ebenfalls auf die Knie gegangen, um eine Nahaufnahme des scheinbar Vermummten zu schießen. Zwei weitere Polizisten mit Videoausrüstung halten ebenfalls die Szene zur Beweissicherung fest. Doch damit nicht genug, drei andere Journalisten sind damit beschäftigt, weitere plakative Fotos von dem Geschehen zu erhaschen, wobei einer von ihnen wild mit den Armen gestikuliert, weil ihm offensichtlich ein Polizist im Wege steht.
Nur ein polizeiliches Geschehen unter „Beobachtung“? Fünf Fotoreporter (eigentlich sechs inklusive des DPA-Fotografen) scharen sich mehr als aufdringlich um eine Szene der polizeilichen Arbeit. Da sei die Frage gestattet: Ist das noch Informationspflicht oder schon Sensationshascherei? Man stelle sich vor, da springen Journalisten um einen Operationstisch herum oder belagern die Piloten im Cockpit – alles nur zur „Beobachtung.
Da werden härtere Strafen für Gaffer gefordert, die die Arbeit von Polizei- und Rettungskräften behindern – nur um Fotos oder Videos von einem Unfall zu ergattern, die dann im Netz kursieren. Auf der anderen Seite behindern penetrante Journalisten die Polizeiarbeit, um Sensationsbilder (ohne jeglichen Informationsinhalt) für eine kranke Gesellschaft zu liefern. Nur mit dem Unterschied: man hat eine Akkreditierung in der Hosentasche.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: ich weiß verantwortungsvollen Journalismus überaus zu schätzen – doch hier wende ich mich mit Unverständnis ab.
Manfred Orlick
1917 ante portas
Das Jubiläum der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution rückt näher und all überall in den Medienspitzen sieht man bereits die Exegeten sitzen. 100 Jahre nach dem unbestritten – zumindest zeitweilig – weltverändernden Geschehen in Russland hat der Kampf um die Deutungshoheit wieder einmal begonnen: Eine Revolution, so die einen, ein Putsch, so die anderen.
Wir werden – wie so oft und wie zuletzt in der Causa Erster Weltkrieg – nun überschüttet mit Informationen und Interpretationen, die bei allem hier mal freundlich unterstellten Bemühen um Objektivität natürlich stets auch subjektiv bleiben, das sie notwendig immer (!) durch das Prisma eigener Grundpositionen und Bewertungsmechanismen gebrochen sind. Das sollte man Historikern, jedenfalls jenen, die diesen Namen wirklich verdienen, auch nicht vorwerfen, denn, um ein Bibelwort zu adaptieren: Wer frei ist von Irrtümern und/oder Wissenslücken und/oder Verständnisgrenzen, der – und nur der – werfe den ersten Stein.
Aber ach, es wird Steinwürfe wieder nur so regnen, zumal in Zeiten, in denen man sich mehr und mehr über soziale Medien verbreitet, die an Unsozialem – jedenfalls nach Wikipedia-Definition – nur so wimmelt.
Es wird also wieder jedem selbst überlassen sein, welchen Quellen er welches Vertrauen schenkt, am besten, ohne nur danach zu suchen, was einem akklamationskompatibel erscheint, denn auch in der Angelegenheit des „Roten Oktober“ sollte abgeklopft werden, was es aus anderem als dem eigenen Blickwinkel zu sagen gibt. „Denken ohne Geländer“ – ach, Hannah Arendt, wieder einmal wird es einem in einer für die Weltgeschichte rückblickend, heutig und zukünftig grundlegenden Angelegenheit abverlangt. Dabei kann das geistige Leben doch so kommod sein, wenn man der Bibel oder bibelgleichen Werken, also einer quasireligiöser Weltsicht frönt…
Hella Jülich
Wehrhaftigkeit, fiktional
Dass wir in einem Rechtsstaat leben, hat sich herumgesprochen. Dennoch macht manch Erlebtes um einen herum es nahezu unabdingbar, dass man sich diesen epochalen Fortschritt staatlicher Verfasstheit immer aufs Neue bewusst macht. Mal sind es solche „Petitessen“ wie die allweilige Ohnmacht staatlicher Behörden, wenn es zum Beispiel darum geht, Immobilienbesitzer dazu zu zwingen, ihr Eigentum zu dem nutzbar zu machen, wofür es geschaffen ist: Bewohnbare Wohnungen zum Beispiel. Nein, da ist der Rechtsstaat vor, wie einschlägig beauftragte Anwälte es via reichlich vorhandener Gesetzesparagrafen durchzusetzen wissen.
Oder, um ein größeres Brötchen zu backen, ein Versammlungsrecht, das es – auch noch speziell gerichtlich erlaubt – dem Abschaum von Jungnazis erlaubt, ein Festival zu veranstalten, bei dem es vor Heil-Hitler-Rufen samt ausgestreckten Arm sowie Hass- und Hetzreden und/oder Liedern nur so wimmelt, das Recht sich aber außerstande sah, dies dank einschlägiger Formalien, zu unterbinden.
Oder auch: Dass es nicht nur gesetzesbrüchigen Einzelpersonen möglich ist, sich durch Selbstanzeige straffrei zu machen, sondern zum Beispiel sogar Mammutkonzernen wie jenen der Automobilindustrie. Wie wir wissen haben diese seit Jahren die Kunden nicht nur mit erlogenen Abgaswerten getäuscht, sondern dies und anderes per gesetzwidrig kartellierter Absprachen betrieben. Nun, da eh alles aufgeflogen ist, hoffen sie sich per Selbstanzeige straffrei machen zu können. Daimler, der Autobauer für die Ärmsten, wird womöglich den Triumph genießen können, da er als erster zu diesem Instrument der Kronzeugenregelung gegriffen hat. Chapeau!
Oder – ach nee, das hier soll ja lediglich eine Bemerkung sein, wer mag, kann sich ja durch die Nachrichtenwelt allein der letzten paar Wochen scrollen. Ich versichere, er wird fündig werden, weniger allerdings bei der Aufklärung der Frage, wie es um die Wehrhaftigkeit unseres Rechtsstaates außerhalb martialischer Gewaltunterbindung steht.
Helge Jürgs
Medien-Mosaik
„Es gab Putzfrauen, es gab Aristokraten, Künstler, alte Leute, junge Leute, und es gab 40 Prozent Frauen.“ So charakterisiert Stefan Roloff, Sohn des Pianisten und Widerstandskämpfers Helmut Roloff das Zusammenspiel verschiedener antifaschistischer Gruppen, die so gut aufeinander abgestimmt arbeiteten, dass ihr die Nazis den Namen „Rote Kapelle“ gaben. Christian Weisenborns Eltern Joy und Günther Weisenborn gehörten dazu und überlebten das Kriegsende im Gegensatz zu vielen anderen. Seinem Film über die Gruppe gab der Sohn den Titel eines Theaterstücks des Vaters, „Die guten Feinde“. Der Film konzentriert sich auf die Ehepaare Weisenborn und Harro und Libertas Schulze-Boysen, wodurch andere kurz und zu kurz kommen – Hilde und Hans Coppi sind beispielsweise nicht dabei – vielleicht, weil sie Kommunisten waren?
Trotzdem ist der Film mit privatem Filmmaterial, zeitgenössischen Aufnahmen und vielen Zeitzeugen eine hochinteressante Innenansicht, die zeigt, dass diese Helden eigentlich lebenshungrige junge Leute waren. Nicht verschwiegen wird Günther Weisenborns teilweise vergeblicher Kampf um Rehabilitierung der Gruppen in der Bundesrepublik, die Bemühungen der Überlebenden, den NS-Chefankläger gegen die „Rote Kapelle“, Roeder, vor Gericht zu bringen. Der konnte wie so viele andere bis zum Lebensende eine üppige Pension beziehen.
Die guten Feinde – Mein Vater, die Rote Kapelle und ich, Regie Christian Weisenborn, Edition Salzgeber, seit 27.7. in ausgewählten Kinos.
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In seinem Erinnerungsbuch „Als ich ein kleiner Junge war“ schildert Erich Kästner einen Besuch an der Ostsee. „Dabei dachte er auch an Vineta. Das Meer wähnte er voller Geheimnisse, mit versunkenen Schiffen und toten Matrosen. Und die versunkene Stadt stellte er sich so vor: „Nixen schwimmen durch die Straßen, glotzen in Hutläden und Schuhgeschäfte, obwohl sie weder das eine noch das andere brauchen. Komische Stadt.“
Der geheimnisumwitterten versunkenen Stadt hat Martina Krüger ein Buch gewidmet, eine Suche in Chroniken und Sagen, mit Spaten und Pinsel, in der Literatur und auf dem Theater. Sie weiß natürlich, dass sie nicht die erste Vineta-Jüngerin ist und greift verschiedene Vineta-Theorien über den besonderen Namen und die noch immer nicht geklärte Lage auf, vergleicht klug und kommt zu eigenen Schlüssen. Da das Buch reich illustriert ist, kann man es in der nassen Jahreszeit gern zur Hand nehmen und findet dann den Regen vielleicht sogar schön. Dass die Kartenabbildungen im Buch recht klein geraten sind, macht die große Karte auf dem Vorsatzpapier wett.
Martina Krüger: Vineta Trugbilder, Nordlicht Verlag, Karlshagen 2016, 130 Seiten, 19,90 Euro.
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Vor 60 Jahren stellte die 1955 gegründete DDR-Bilderzeitschrift Mosaik mit den Digedags auf monatliches Erscheinen um. Ab Januar 1976 eroberten die Abrafaxe dann das Mosaik. Seitdem sind (wer will, kann nachzählen) sage und schreibe 500 Hefte erschienen. Das wird mit einer Sonderausgabe gefeiert, die etwas dicker ist und eine Heftbeilage hat, in der die 500 drängendsten Fakten, die „Abrafakten“ mitgeteilt werden: Mit wem haben die Abrafaxe wo was erlebt, wer sind die Zeichner, wer die Autoren. Und wie wird so ein Heft überhaupt hergestellt? Noch immer wird mit der Hand und nicht am Computer gezeichnet, und so soll es auch bleiben. Der Clou an der 500. Ausgabe ist, dass die über 100.000 Exemplare fortlaufend nummeriert sind. Wer seine Nummer einschickt, hat die Chance auf einen Gewinn – der Hauptgewinner (welchen Geschlechts auch immer) wird als Comic-Figur in einem späteren Heft auftauchen, vielleicht als Gegenpart zu Martin Luther, Lucas Cranach oder Philipp Melanchthon, mit denen Abrax, Brabax und Califax jetzt viele Abenteuer erleben. Aber erst sollte man sich die Nr. 500 besorgen, mit einem besonders gelungenen Wimmelbild.
MOSAIK – Die unglaublichen Abenteuer der Abrafaxe, Heft 500, 52 Seiten, 3,80 Euro.
bebe
Wirsing
Der jüdische Berliner Schauspieler Ernst Lubitsch folgte schon in den frühen zwanziger Jahren dem Ruf Hollywoods, wo er sowohl als Regisseur wie auch als Produzent großen Einfluss gewann. 1935 wurde er von den Nazis wegen seiner Abstammung ausgebürgert und starb schon wenige Jahre nach dem Krieg. Im Juni erhielt nun seine Tochter Nicola die deutsche Staatsbürgerschaft, womit auch der Vater geehrt werden sollte. Das Berliner Event-Kino Babylon, wo Nicola Lubitsch mehrfach zu Gast war, brachte eine Presseerklärung heraus, in der es heißt: „Zu Ehren von Ernst Lubitsch injizierte Billy Wilder 1957 […] den Ernst Lubitsch Preis, der die beste komödiantische Leistung in einem deutschsprachigen Film ehrt.“ So kann man es auch nennen. Wilder hat dem deutschsprachigen Film in seine Lebensadern eine Injektion gegeben. Wer einen komischen Film dreht, soll stets an Lubitsch denken. Das war von Wilder eine großartige Infinitive!
Fabian Ärmel
Obszönitätenstadl
Drei Meldungen – alle diesen Tagen entnommen – aus einem Bereich, der bei Agenturen und Medien gemeinhin unter „Sport“ und nicht unter „Wirtschaft“ behandelt wird:
245 Millionen Euro hat der britische Klub Manchester United bisher ausgegeben, um sich personell für die kommende Saison aufzurüsten.
180 Millionen Euro stehen in Rede, damit der 18jährige Kylian Mbappé von Monaco zu Real Madrid wechselt.
245 Millionen Euro ist Paris St. Germain dem Vernehmen nach bereit auszugeben, um den brasilianischen Superstar Neymar vom FC Barcelona an die Seine zu holen.
Wenn’s Belege dafür braucht, in welch obszöner und kranker Welt wir leben, dann könnte dieser klitzekleine Ausschnitt menschenverachtender Profitmacherei schon genügen, denn nur um diese geht es bei allem, was sich volksverbunden sportlich gibt. Dass es sich vielfach um afrikanische Kicker handelt, die man quer durch Europa hin und her verkauft, hat mit Entwicklungshilfe so viel zu tun wie etwa die Zinsvergabe von Banken gegenüber ihren Kunden; weitere, gern noch passendere Vergleiche bitte hier einsetzen:…
HWK
Vierer mit
Salut Salon, das Hamburger Damen-Quartett mit Quotenmann, hält seinen Rhythmus: Alle zwei Jahre überrascht es seine wahrscheinlich inzwischen ebenso weltweite wie unüberschaubare Fangemeinde mit einem neuen Programm. Nun war es wieder soweit – am 19. Juli, Premiere an traditioneller Stelle: im Hamburger Thalia Theater.
Ob ihrer musikalischen Extraklasse, ihres hinreißenden Äußeren und ihrer mitreißenden Ausstrahlung völlig zu Recht über den grünen Klee gelobt worden sind Angelika Bachmann (Violine), Iris Siegfried (Violine), Sonja Lena Schmidt (Cello) und Anne-Monika von Twardowski (Klavier) in diesem Magazin bereits anlässlich ihrer vorangegangenen Programme „Ein Karneval der Tiere und andere Phantasien“ sowie „Die Nacht des Schicksals“. Was dabei gesagt wurde, muss hier nicht wiederholt, sondern allenfalls bekräftigt werden: Salut Salon bleibt ein Klangkörper, dem man sich am liebsten an den Hals würfe, vor dem man es aber der – Schicklichkeit halber – ein ums andere Mal beim virtuellen Niederknien belässt.
Dieses Mal durfte man besonders in Vorfreude schwelgen, haben die vier Grazien doch ein Thema gewählt, auf das man gerade bei ihnen seit langem besonders neugierig war – „Liebe“. Umso enttäuschender für alle Schlüssellochgucker: An intimen Details gibt es nur eines – nämlich die beiläufige Mitteilung, dass Combomitglied Oskar der einzige Mann sei, der es auf Dauer mit den Vieren, die 2017 immerhin bereits neun Jahre gemeinsam auf der Bühne stehen, ausgehalten habe. Das scheint für O. aber auch nicht das reine Zuckerschlecken zu sein, denn in „Liebe“ sieht er – hingestreckt auf dem Flügel – tief in die Flasche. So tief allerdings, dass er sein anschließendes Bandoneon-Spiel schmisse, nun auch wieder nicht.
Musikalisch gibt es an „Liebe“ insgesamt nichts zu meckern. Den Auftakt machen Astor Piazzolla („Libertango“) und Cole Porter („Let’s fall in Love“), denen Prokofjew folgt (mit Passagen aus „Romeo und Julia“ und der „6 Stücke aus ‚Cinderella‘ für Klavier“). Später gesellen sich die Kollegen Schumann („Romanze für Klavier, Op. 28 No. 2), van Beethoven („Bei Männern welche Liebe fühlen“) sowie Mozart („Reich mir die Hand, mein Leben“ aus „Don Giovanni“) hinzu und nach der Pause noch Glinka („Valse Fantaisie“) und Gershwin („Rhapsodie in blue“). Dazwischen immer wieder Zeitgenössischeres, eigene Kompositionen und Arrangements, Volksweisen.
Zu den besonderen Höhepunkten der Programme von Salut Salon zählen stets thematische Medleys. Darauf wartet das Publikum auch bei „Liebe“ nicht umsonst. „Liebesmord“ ist der passende Titel dazu.
Apropos Publikum: Das geizte schon zwischendurch nicht mit Beifall, war aber zum Schluss restlos aus dem Häuschen. Standing Ovations riefen die Damen ein ums andere Mal „vor den Vorhang“; sie kamen unter drei Zugaben nicht von der Bühne.
Gabriele Muthesius
Salut Salon: „Liebe“; Tournee-Daten unter www.salutsalon.de.
Die düstere Weltenschau eines „November Boy“
In den Blütezeiten des Progressive Rock – in den 1970er- und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – reüssierten Bands wie Camel, Emerson, Lake & Palmer oder Pink Floyd mit aufwendigen Konzeptalben. Die darauf enthaltenen Songs waren keine Loseblattsammlung, sondern bildeten eine Einheit. Sie behandelten Märchenstücke (Camel: The Snow Goose) genauso wie zeitkritische Anklagen (Pink Floyd: The Wall). Für das Drei-Minuten-Hitradio sind solche musikalischen Gesamtkunstwerke nicht kompatibel.
Nick & June haben nun auch ein Konzeptalbum veröffentlicht – über den „November Boy“. Das Nürnberger Folk-Duo Nick Wolf und Julia „June“ Kalass hat sich nach dem Debütalbum „Flavor & Sin“ (2013) mit einer Bassistin und einem Schlagzeuger zu einer 4-Personen-Combo verstärkt. Nick Wolf hat fast alle Lieder im Alleingang getextet und komponiert. Ausgangspunkt für das Album „My November My“ war eine selbst geschriebene Erzählung, aus dessen einzelnen Kapiteln dann die Songs auf dem Album entstanden sind.
Der Protagonist ist ein von der (Um-)Welt verbitterter Zeitgenosse; er fühlt sich nicht verstanden und flüchtet in eine imaginäre Welt. Es sind Reflexionen über Gefühle und gescheiterten Lieben, aber auch kluge und poetische Alltagsbeobachtungen („How the bus stop smiles at night…“, beginnt beispielsweise ein Lied).
Die Texte wurden dann in eine kammermusikalische Variante des Progressive Rocks gekleidet. Nur die weiblichen Gesangsanteile sollten künftig gesteigert werden, beim düster-melancholischen „November Boy“ und seinem „mix of fear and fear of people“ ist dieses Manko noch nachvollziehbar…
Thomas Rüger
Nick & June: „My November My“, AdP Records 2017, circa 16 Euro.
Friedvoll und unheimlich
Den Bildern von Markus Matthias Krüger, 1981 in der Altmark geboren, ist das Markenzeichen ihres Schöpfers auf den ersten Blick anzusehen – altmeisterliche, nachgerade naturalistische Feinmalerei. Allerdings mit Hintersinn.
Krüger bannt ausschließlich Natur auf seine Malgründe, und wo diese mit – völlig entvölkerten – Zivilisationsrelikten durchwebt ist, hat sie jeweils erfolgreich begonnen, sich die ihr einst vom Menschen entrissenen Flächen und Räume zurückzuerobern. Teilweise ziemlich brachial. Nicht wenige von Krügers Sujets haben dabei eine unheimliche, frösteln machende Ausstrahlung, als ob hinter den dargestellten Wäldern, Äckern und Wasserflächen eine unheilvolle Kraft lauert, deren Tücke durch die vordergründige Friedfertigkeit vieler dieser Bilder noch präsenter wird.
Die Rostocker Kunsthalle zeigt derzeit 40 Arbeiten Krügers aus den vergangenen zehn Jahres. Sehr sehenswert.
Clemens Fischer
Markus Matthias Krüger: Hortus, Kunsthalle Rostock; noch bis 13. August; weitere Informationen im Internet.
Blätter aktuell
Viktor Orbán verkündet offen, er wolle Ungarn in eine „illiberale Demokratie“ umwandeln. Auch in der Türkei sowie in den populistischen Bewegungen in Europa und den USA zeigt sich eine Abwendung vom liberalen Modell. Diese Entwicklungen haben jedoch historische Vorläufer, so die Philosophin Ágnes Heller. Sie erkennt in ihnen eine Form des Antiliberalismus, die völkisch-nationalistische Motive der totalitären Parteien des 20. Jahrhunderts aufgreift. Der Nationalismus ersetzt dabei zunehmend andere Identitäten wie die Klassenzugehörigkeit.
Zum 500. Jahrestag der Reformation stellen sich große Teile von Kirche und Gesellschaft in die Tradition Martin Luthers. Zahlreiche Vertreter der Bekennenden Kirche, dem christlichen Widerstand gegen das Dritte Reich, hatten dagegen ein gebrochenes Verhältnis zum großen Reformator. Unter ihnen hebt der Theologe Eberhard Lempp den heute in Deutschland weitgehend in Vergessenheit geratenen Hans Joachim Iwand hervor, der eine herrschaftskritische Lektüre Luthers unternahm. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus stritt Iwand zeitlebens für eine Aufarbeitung der historischen Schuld von Staat und Kirche sowie für die Verständigung mit Osteuropa.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Die neue Linke und die alte Gewaltfrage“, „AfD light: Lindners neue FDP“ und „Mittlerer Osten: Stabilität durch Despoten?“.
am
Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, August 2017, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.
Aus anderen Quellen
„Würde man eine ‚Sendung mit der Maus‘ zu dem Thema ‚Wer ist Armin Maiwald?‘ drehen, begänne sie so“, leitet Anke Schipp ihre Laudatio ein und trifft anschließend den Ton ziemlich genau: „Das isser, der Armin! Und was macht der so? Er erklärt viel. Ist der Armin Lehrer? Nee, isser nich. Der kennt sich aus, mit Stromkreisen und so. Isser vielleicht Ingenieur? Nee, auch wenn er fast so viel weiß wie einer. Aber was isser denn dann? Schau’n wir uns den Armin doch mal genauer an.“
Anke Schipp: Der Welterklärer, FAZ.NET, 17.07.2017. Zum Volltext hier klicken.
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Mit der menschlichen Dummheit ist es auch nicht so einfach. „‚Dunning-Kruger-Effekt‘ nennt sich“ so vermerken Stefan Schmitt, Ulrich Schnabel und Andreas Sentker, „die allzu menschliche Tendenz, das eigene Können zu überschätzen.“ Und fahren fort: „In ihren Studien stellten die Psychologen David Dunning und Justin Kruger fest, dass mangelnde Kompetenz nicht etwa zu Selbstkritik, sondern zu Selbstüberschätzung führt. ‚Wenn jemand inkompetent ist, dann kann er nicht wissen, dass er inkompetent ist‘, fasst Dunning die Ergebnisse zusammen. Um die eigene Unfähigkeit zu erkennen, brauche man schon eine gewisse Bildung.“
Im gleichen Beitrag informieren sie: „[…] es gibt zwischen wissenschaftlicher Skepsis und Beliebigkeit einen grundlegenden Unterschied, den Einstein einmal so ausdrückte: ‚Es lässt sich schwer sagen, was Wahrheit ist, aber manchmal ist es so einfach, eine Lüge aufzudecken.‘“
Stefan Schmitt / Ulrich Schnabel / Andreas Sentker: Bis zum Besserwissen, ZEIT.ONLINE, 03.05.2017. Zum Volltext hier klicken.
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Die Crux mit Künstlicher Intelligenz (KI) erläutert Éric Sadin folgendermaßen: „Der Mensch wird zweifach neu positioniert. Zum einen in ontologischer Hinsicht […]: Er gilt nicht mehr als das einzige mit Urteilsfähigkeit begabte Wesen, sondern wird durch eine neue, als überlegen angesehene Wahrheitsinstanz verdrängt. Zum anderen anthropologisch, denn nicht mehr der Mensch übt mithilfe seines Geistes, seiner Sinne und seines Wissens Gestaltungsmacht aus, sondern eine als leistungsfähiger angesehene Interpretations- und Entscheidungsgewalt, die ihn aus immer weiteren Lebensbereichen ausschließen soll, nicht zuletzt aus dem Arbeitsleben.“ KI wird sich umso rascher und tiefgreifender durchsetzen, je weniger diese Aspekte ins öffentliche Bewusstsein dringen, weswegen KI-Adepten gegensteuern: „Diese Entwürdigung der condition humaine ist so umfassend, dass sich die Verfechter der KI alle erdenkliche Mühe geben, diese in den Augen der Gesellschaft zu legitimieren.
Éric Sadin: Künstliche Intelligenz: Das geht zu weit!, ZEIT.ONLINE, 07.06.2017. Zum Volltext hier klicken.
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1961 „war das Jahr des Berliner Mauerbaus, die Kuba-Krise hatte schon begonnen“. Daran erinnert Wolfgang Bauer und schaut dann nach Zentralafrika: „Auch im Kongo standen die Machtblöcke von Ost und West kurz vor der Kollision. Der junge Staat, gerade von Belgien unabhängig geworden, war in drei Teile zerfallen. Stammesführer verweigerten der Zentralregierung die Gefolgschaft, das Militär meuterte. Die Sowjetunion und der Westen versuchten, das Chaos jeweils für sich zu nutzen. Die UN waren der letzte Puffer zwischen ihnen.“ Und: „Im September 1961 stürzte der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld mit seinem Flugzeug auf dem Weg zu Friedensverhandlungen im Grenzgebiet zwischen dem Kongo und Nordrhodesien ab, dem heutigen Sambia.“ Das offizielle Untersuchungsergebnis lautete: Pilotenfehler. Ließ aber zu viele Ungereimtheiten offen. So hielten sich Fragen wie: „War der Absturz kein Unfall, sondern Mord? Haben westliche Geheimdienste den UN-Generalsekretär bei einem Anschlag umgebracht?“ Sie sind bis heute nicht abschließend beantwortet, aber Hans Kristian Simensen, ein hartnäckiger Rechercheur, gibt nicht auf.
Wolfgang Bauer: Dag Hammarskjöld: War es doch Mord?, ZEIT.ONLINE, 13.06.2017. Zum Volltext hier klicken.
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