20. Jahrgang | Nummer 16 | 31. Juli 2017

„Ich bin scheinbar ein hervorragender Redner …“

von Mathias Iven

Der Berliner Verlag Hentrich & Hentrich, der anlässlich des 75. Todestages von Stefan Zweig bereits zwei herausragend gestaltete und kommentierte Bücher mit Dokumenten zu Zweigs Leben veröffentlicht hat (siehe Blättchen 4/2017), legt jetzt die hochwertige Faksimile-Edition einer Zweig-Rede vor. Es handelt sich dabei um einen Text, der acht Jahrzehnte auf seine deutsche Erstveröffentlichung warten musste, jedoch nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat.
Am 27. August 1936 hielt Zweig im Konzertsaal des Instituto Nacional de Música in Rio de Janeiro eine Rede, die zu einem „kulturgeschichtlichen Hymnus“ geriet. Unabhängig davon, dass sie, wie Alberto Dines, Präsident der Casa Stefan Zweig in Petrópolis, in seiner Einleitung herausstellt, in Wirklichkeit lediglich „eine Sammlung von Utopien“ war.
Zweig war euphorisiert von der Stimmung und dem Empfang, der ihm in Brasilien bereitet wurde. In seinem Tagebuch bemerkte er dazu: „der Saal natürlich überfüllt, […] das ganze Publicum, 2000 Personen erheben sich mir zu Ehren, der ich mich furchtbar schäme und schwitze.“ Der Vortrag unter dem Titel „L’unité spirituelle de l’Europe“, später von Zweig selbst in „Zur geistigen Einheit der Welt“ umbenannt, war der abschließende Höhepunkt seiner ersten Brasilien-Reise. Gut zwei Wochen danach erschien die portugiesische Übersetzung des Textes in zwei regionalen Tageszeitungen. Das erst jetzt publizierte, heute im Besitz der Casa Stefan Zweig befindliche Originalmanuskript hatte Zweig kurz vor seiner Abreise dem brasilianischen Außenminister José Carlos de Macedo Soares als Dank für die ihm erwiesene Gastfreundschaft geschenkt. Dieser überließ es seinerseits Helena Conceiçäo Alves de Lima, die Zweig bei seinen Besuchen in Campinas und Santos begleitetet hatte.
Zu Beginn seiner Rede verwies Zweig auf die für jedermann sichtbaren Vorboten eines kommenden Krieges. Waren doch die europäischen Fabriken Tag und Nacht damit beschäftigt, „die großartigsten und genialsten Instrumente der Zerstörung zu schaffen“. Dennoch, so führte er weiter aus, „dürfen wir uns einem Pessimismus nicht schwächlich hingeben“, da dieser nichts weiter als „ein destructives Element“ sei. Und schließlich solle niemand an der über allem stehenden „Kraft der Vernunft“ zweifeln.
Seine Argumentation entwickelte Zweig im Rückgriff auf allen Zuhörern bekannte historische Ereignisse. Er begann mit dem Turmbau zu Babel, der versinnbildlicht, „dass aller Streit auf Erden immer aus einem Nichtverstehen stammt“. Demzufolge sei es „unsere höchste Aufgabe […], um jeden Streit zu vermeiden, möglichst viel zu verstehen und gegen jedes Volk und jeden Menschen aus diesem Verstehen im höchstem Maße gerecht zu sein“. Mit Bezügen zur Geschichte Roms, zur Renaissance und Reformation versuchte er im weiteren Verlauf, den unbestritten vorhandenen „Willen zur moralischen Einheit der Welt […] als eine Continuität zu zeigen“.
Ganz unabhängig von den historischen Geschehnissen und der schrittweisen Herausbildung des Nationalismus hatte sich, darauf legte Zweig besonderen Wert, im Verlaufe der Zeit aber auch eine für alle verständliche „neue Sprache über den Sprachen [entwickelt]: die Musik“. Sie sei „die eine und einzige, die gleich zu allen Seelen spricht […], weil sie nur das Allmenschliche ausdrückt“. Als „ewiges Symbol unserer Verbundenheit“ wird sie, so Zweigs Hoffnung, immer allen Völkern zu eigen sein.
Die Quintessenz seiner „dem zeitlosen Gedanken der Humanität“ verpflichteten Überlegungen fasste Zweig in zwei Punkten zusammen. Zum einen habe Europa „das Recht auf die geistige Führung verwirkt“, da es nach dem Ersten Weltkrieg keinen „wirklichen Frieden“ erreicht hatte. Und zum anderen sei „trotz aller Bewunderung nicht zu viel von der Technik für den moralischen Fortschritt der Menschheit zu erhoffen“.
Vier Jahre später kam Stefan Zweig erneut nach Brasilien. Er recherchierte nicht nur für sein im Jahr darauf in Stockholm veröffentlichtes Brasilien-Buch, sondern reiste auch in das Nachbarland Argentinien. Dort hielt er mehrere Vorträge, so am 29. und 31. Oktober 1940 in Buenos Aires. Mit Blick auf die politische Entwicklung in der Welt hatte er den Text seiner Rede von 1936 aktualisiert. Zweig forderte nun unter anderem: „Lasst uns an der unumstößlichen Überzeugung festhalten, dass unsere Welt von Katastrophe zu Katastrophe eilen wird, solange sie sich der Vorstellung einer geistigen Einheit verweigert.“ Die daraus resultierende Aufgabe bestehe darin, „die unsichtbaren Hindernisse zwischen uns zu überwinden und inmitten von Ruinen die geistige Einheit der Welt zu errichten“. – Der vollständige Wortlaut dieser Fassung wurde zwar im Januar 1942 veröffentlicht, blieb aber gleichfalls bis heute unbeachtet.
Welche Rolle die Vortragstätigkeit für Zweig zu dieser Zeit überhaupt spielte, geht aus einem am Tag nach seinem zweiten Auftritt in Buenos Aires geschriebenen Brief an seine Schwägerin und deren Mann hervor. Darin hieß es: „Ich bin scheinbar ein hervorragender Redner, möchte jedoch nicht bei diesem Metier bleiben und sehne mich nach richtiger Arbeit.“

Casa Stefan Zweig (Herausgeber): Stefan Zweig: Die geistige Einheit der Welt, Fünfsprachige Ausgabe (Deutsch, Englisch, Französisch, Portugiesisch, Spanisch) mit Beiträgen von Alberto Dines, Celso Lafer, Jacques Le Rider und Klemens Renoldner, Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin 2017, 184 Seiten, 27,90 Euro.