20. Jahrgang | Nummer 11 | 22. Mai 2017

Bemerkungen

Affaire Amri – Parlamentarische Ablenkungsfeuer

Das Geschrei ist groß. Im Bundestag wird ein Untersuchungsausschuss gefordert. Das ist eine billige Übung: In vier Monaten sind Wahlen, der Ausschuss würde nichts, aber auch gar nichts mehr zu Wege bringen. Doch: Die jeweiligen Vortänzer einer jeden Partei bekämen noch einmal Gelegenheit, vor laufender Kamera das zu sagen, was alle schon gesagt haben, nur sie noch nicht. Und Talkshow-Einladungen zu Wahlkampfzeiten sind ja auch nicht zu verachten. Hintergrund: Im Berliner Landeskriminalamt wurden Akten „geschönt“, die auf ein erhebliches Versagen der Landesbehörde im Falle einer möglichen Festsetzung des Attentäters Anis Amri vor seiner Mordfahrt auf den Weihnachtsmarkt des Berliner Breitscheidplatzes am 19. Dezember 2016 belegt hätten. Mit mindestens derselben Lautstärke gingen sich die Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses in einer Aktuellen Stunde am 18. Mai an: Wahlweise wurden die Rücktritte von LKA-Chef Christian Steiof beziehungsweise Polizeipräsident Klaus Kandt gefordert. Eine bemerkenswerte Koalition von FDP, LINKE und AfD (!) sprach sich auch hier für einen Untersuchungsausschuss aus. Die SPD (die stellt derzeit den Innensenator – ihr mit Richtlinienkompetenz ausgestatteter Regierender Bürgermeister war 2016 übrigens derselbe wie jetzt), die CDU (die stellte seinerzeit den Innensenator und den für die Staatsanwaltschaft zuständigen Justizsenator) und die Grünen (die stellen derzeit den Justizsenator) hielten sich zurück.
Noch einmal zum Nachdenken: Das große Feldgeschrei hat nicht etwa das flächendeckende Versagen der Behörden der Bundesländer Berlin, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg sowie der entsprechenden Stellen des Bundes provoziert. Das große Geschrei entstand, weil einige wenige Landesbeamte versuchten, quasi posthum (zwölf Menschen starben, 67 wurden verletzt…) trocken durch den Regen zu kommen. „Dass Fehler im Fall Amri offenbar vertuscht werden sollten, ist ein riesiger Skandal“, tönten die beiden Fraktionschefinnen der Berliner Grünen-Fraktion – und lenkten mit großer Lautstärke von der Grundsuppe des Übels ab. Ein Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses wird nichts bringen: Mit Ausnahme von FDP und AfD hängen mittlerweile alle Parteien mitten in dieser Affaire – auch die LINKE, die nichts tun wird, um den großen Koalitionspartner zu verärgern. Niemand hackt da dem anderen ein Auge aus.
Der „Riesenskandal“ besteht darin, dass trotz mehrfacher Vorwarnungen Anis Amri eben nicht vor seiner Tat festgesetzt wurde. Gründe dafür gab es hinreichend, und neu ist das alles auch nicht. Die jetzt bekannt gewordenen Drogengeschäfte größeren Stils sind nur ein weiteres Steinchen im verschenkten Mosaik der polizeilichen und strafrechtlichen Möglichkeiten.
Und das hat eine ganze Menge mit politischen Vorgaben zu tun. Das wäre zu untersuchen – aber von unabhängigen Ermittlern. Politiker sollten die Finger von den Akten lassen. Vertrauen kann man zu diesen Leuten nur noch bedingt haben.

Günter Hayn

Niemals den Hals wirklich voll …

… kriegen auch Rüstungskonzerne. Das ist ein Gemeinplatz.
Damit dieses Urteil aber nicht zum Vorurteil degeneriert, bedarf es hin und wieder des empirischen Belegs, und für den sorgen in steter Verlässlichkeit – die Rüstungskonzerne. Gerade ist wieder so ein Beispiel den Annalen hinzugefügt worden.
Einstmals sollte die Bundesmarine zehn neue Korvetten erhalten. Es wurden dann wegen gravierender Qualitätsmängel nur fünf, und die kamen auch erst 54 Monate nach Plan sowie 120 Millionen Euro teurer. Das Blättchen hatte berichtet – „Korvettenposse“.
Da seit einiger Zeit ein weiteres mariniertes Rüstungsvorhaben, die Entwicklung und Beschaffung des Mehrzweckkampfschiffes (MKS) 180, der ursprünglichen Zeitplanung unaufholbar hinterherhinkt, kamen in trautem großkoalitionären Paarlauf zwei pfiffige Bundestagsabgeordnete, Eckhardt Rehberg (MdB-CDU) und Johannes Kahrs (MdB-SPD), auf die Idee, als Zwischenlösung die fünf ehemals fehlenden Korvetten doch noch – nunmehr außerplanmäßig und zusätzlich – zu beschaffen. Es gelang ihnen überdies, die Bundes-Uschi an Bord zu holen, dem knauserigen Bundesfinanzminister 1,5 Milliarden Euro für das Vorhaben abzuluchsen und die Signale im Haushaltsausschuss des Bundestag, dem die beiden Abgeordneten als haushaltspolitische Sprecher ihrer Fraktionen passenderweise angehören, auf Grün zu stellen. An dem Geschmäckle, dass die federführende Werft beim Bau und der spätere Heimathafen der Korvetten in den Wahlkreisen der beiden Abgeordneten liegen, sollte das Ganze natürlich auch nicht scheitern. „Korvettenposse 2.0“.
Doch die Rechnung war ohne die Rüstungskonzerne gemacht, in diesem Fall ein Konsortium von Lürssen und Thyssen-Krupp. Die haben jetzt dem Bundesverteidigungsministerium (BMVg) ihr Angebot für diesen Auftrag unterbreitet: 2,9 Milliarden Euro. Eine Verdoppelung der Kosten bereits vor Auftragserteilung!
Also wenn das Guinness-Buch dafür noch keine Kategorie hat, sollte man schnellstens eine kreieren. Dem Handelsblatt war kürzlich ein Zwischenstand zu entnehmen: „Mit der Verteuerung auf fast drei Milliarden sei […] eine Schwelle durchbrochen, die in der Öffentlichkeit Druck erzeugen dürfte, sagte ein Beteiligter. ‚Wenige Monate vor der Bundestagswahl ist dies äußerst ungeschickt gewesen.‘ Der Aufschlag sei zudem nicht nachvollziehbar. Vielmehr sei es wohl darum gegangen, bei einem sicher geglaubten Auftrag seine Rendite zu steigern. Als das Angebot […] bei Staatssekretärin Suder (im BMVg zuständig für Rüstungsbeschaffung – S.) vorlag, rief sie umgehend bei Lürssen an. Die Bremer Familienfirma hat die Führung in dem Konsortium und trägt wohl die Hauptschuld an der Kostenexplosion. Es sei ein sehr lautes Telefonat geworden, berichten Mitarbeiter des Ministeriums. Das Angebot fegte Suder vom Tisch.“
Auf den soll es aber demnächst zurückkehren, denn dem Vernehmen nach sucht das Konsortium derzeit nach Wegen einer Preiskorrektur nach unten. Auf das Ergebnis darf man gespannt sein. Und auf die Begründung dafür.

Sarcasticus

Die Mittagsgall

von Renate Hoffmann

Herr Morgenstern, der Hochverehrte,
der die Natur uns neu erklärte,
erfand den Eulenwurm
und den Giraffenigel.
Der eine haust im Fernsehturm,
der andre unterm Bechsteinflügel
von Erwin Schlosser, Pianist.

Herr Morgenstern konnt nachts schlecht schlafen,
weil eine Nachtigall den Braven
mit ihrem schmachtenden Gesang
die schönsten Träume unterbrach.
Das ging nun schon vier Nächte lang
und war ein lästig Ungemach.
Der Dichter griff zu einer List;

und erfand für diesen Fall
ein neues Tier – die Tagtigall.
Das war ein großes Labesal.
Denn nun entschwand er punkt-um-neune
diesem irdschen Jammertal
und versank in seine Träume.
Die Dichterseele kam zur Ruh.

Vor meinem Fenster im Gebüsch
singt seit Montag inbrünstüsch
schmelzend eine Nachtigall.
Zur Mittagszeit, ganz ungewohnt.
Wohltönend und mit lautem Schall
schluchzt sie zur Sonne, statt zum Mond.
Begeistert hörn die Spatzen zu.

Das sei bestimmt ein junger Sprosser,
sagt mein Nachbar Erwin Schlosser.
Auch ein Vogel könne irren.
Ich solle mich nicht täuschen lassen
wie von den wilden Tageswirren
und mich fortan in Gleichmut fassen.

Das eben wollt ich nicht!

Herr Christian möge mir vergeben.
Ich rief erneut ein Tier ins Leben:
– Die Mittagsgall –
Nun schmettert sie zur Mittagspause
für alle Mieter hier im Hause.
Welch freudevoller Zwischenfall.

Die Müll-Ecke

Falko Hennig teilte der geneigten Leserschaft der Berliner Zeitung kürzlich die Ergebnisse seiner Suche nach den ältesten Berliner Pflanzen mit. Die sind wahrlich wundersam. Immerhin wissen wir jetzt, dass Robin Hood und Kollegen den Eiben, die „in Berlin in Parks und auf Friedhöfen wachsen“ einiges zu danken haben: Sie „waren durch ihr hartes Holz unbesiegbar“. Vielleicht sind die Royals eben deswegen so gerne in unserer Stadt? 1107 hingegen entsprang ein Eichen-Sprössling dem Tegeler Sandboden und wäre damit „über 800 Jahre“ alt. Das ist eine vage Zahl, wir helfen gern: Das Bäumchen ist jetzt akkurat 910 Jahre alt. Aber was sind schon einhundert Jährchen… Ja, was sind schon eintausend Jährchen: Vor 11.000 Jahren schwoll der Urstrom nach den Recherchen des neugierigen Autoren „zwischen dem heutigen Prenzlauer Berg und dem Kreuzberg“ (jetzt wissen wir um die persönlichen Koordinaten wackerer Hauptstadtjournalisten) ab, vor 10.000 Jahren war das Eis abgeschmolzen – was war eigentlich mit dem Schmelzwasser? – , seit jener Zeit wuchsen in der beschriebenen Gegend Maiglöckchen. Schön muss das ausgesehen haben. Ich mag das Blümchen. Immerhin sei das 9.000 Jahre vor der Stadtgründung gewesen. Die erste Urkunde Cöllns ist aber auf 1237 datiert. Das gilt gemeinhin als Gründungsdatum, damit schreiben wir jetzt nach der Arithmetik der Berliner Zeitung das Jahr 2237. Aber was sind schon zweihundert Jährchen… Bei aller Begeisterung für die Rechenkünste provozierende Pflanze: Zur Herbeiführung von Rauschzuständen empfehlen wir den Kollegen Convallaria majalis nicht. Der Genuss eines jeden einzelnen Pflanzenteiles führt zum Herzkollaps.

Alfred Askanius

Aus anderen Quellen

„In den wenigen Monaten seit seinem Einzug ins Weiße Haus demonstriert Präsident Trump immer klarer, dass er mit der Anwendung militärischer Gewalt keinerlei Problem hat“, stellt Michael T. Klare, Professor für Friedens- und Sicherheitsstudien am Hampshire College in Amherst, Massachusetts, fest und fährt fort: „So hat er der militärischen Spitze – „meinen Generälen“, wie er sie zu nennen pflegt – mehr Ermessensspielraum bei der Planung und Durchführung von Militäraktionen in Kriegsgebieten gewährt, also etwa in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Somalia oder in Sy­rien und im Jemen. […] Im Übrigen gehen viele Beobachter davon aus, dass dieses neue Motto ‚Lass den Kommandeur vor Ort entscheiden‘ zum Teil für den fatalen Luftangriff auf ein Wohngebiet in Westmossul verantwortlich war, bei dem am 17. März mehr als 200 irakische Zivilisten umkamen, darunter viele Kinder.“ Der Autor fragt: „Womit müssen wir angesichts des Trump’schen Eskalationskurses als Nächstes rechnen? Am wahrscheinlichsten sind Präventivangriffe gegen Nordkorea und/oder den Iran.“ Und er warnt: „Zweifelsohne sind die USA in der Lage, jeden denkbaren militärischen Konflikt auf eine höhere Eskalationsstufe zu treiben, doch die unvermeidlichen ‚Kollateralschäden‘ wären enorm – hinsichtlich der Zahl der Opfer wie der Folgen für die globale Stabilität. Deshalb sollten wir das allergrößte Interesse haben, Trump zu stoppen, wenn er zunehmend auf militärische Gewalt und mutwillige Konflikteskalation setzt.“
Michael T. Klare: Trump und der Reiz der Waffen, Le Monde diplomatique, 11.05.2017. Zum Volltext hier klicken.

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„Das ‚Kapital‘“, so Michael Brie, „wird von den meinungsprägenden Zeitungen immer dann zitiert, wenn eine neue Krise den Glauben an den Kapitalismus erschüttert. Kaum jemand kommt jedoch dabei auf die Idee, seine sozialistischen oder kommunistischen Zielstellungen ernstzunehmen. Zuletzt wieder 2008/2009. Marx erscheint als Prophet der Krise ohne jede Vision einer Alternative.“ Und: „Man könnte auch sagen, dass es erstens die heutige wissenschaftliche und publizistische Rezeption des ‚Kapital‘ ist, die Marx‘ Werk immer wieder neu in einen Trümmerhaufen verwandelt. Man bedient sich je nach Gusto einzelner Teile seines Werks. Die Marxsche Frage aber, wie gerade wegen der immer noch wachsenden Herrschaft der Kapitalverwertung über Arbeit, Natur und Gesellschaft und in ihrem Rahmen Bedingungen einer nachkapitalistischen Ordnung entstehen können, ist weitgehend ad acta gelegt.“
Michael Brie: Der ausgetriebene Geist, neues deutschland (online), 29.04.2017. Zum Volltext hier klicken.

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„Den meisten Amerikanern ist klar, dass es zwei Gruppen gibt, die bei ihren Bewegungen im Land regelmäßig überwacht werden. Die erste Gruppe wird gegen ihren Willen auf der Grundlage eines Gerichtsbeschlusses überwacht, der sie zum Tragen einer elektronischen Fußfessel verpflichtet. Die zweite Gruppe umfasst alle anderen“, so zitiert Shoshana Zuboff einen Berater der Kfz-Versicherungsbranche zu den Vorzügen der „Kraftfahrzeugtelematik“, um dann darzulegen, dass dies und mit welchen Folgen bereits ein allgemeines Merkmal unseres Wirtschaftssystems geworden ist: „Der Überwachungskapitalismus ist eine neue ökonomische Mutation, hervorgegangen aus der heimlichen Verbindung der gewaltigen Macht des Digitalen mit der radikalen Gleichgültigkeit und dem angeborenen Narzissmus des Finanzkapitalismus und dessen neoliberaler Vision, die das Wirtschaftsleben vor allem in den angelsächsischen Volkswirtschaften beherrscht. […] Es handelt sich um eine beispiellose Form von Markt, die im rechtsfreien Raum wurzelt und gedeiht. Sie wurde von Google entdeckt, konsolidiert, dann von Facebook übernommen und verbreitete sich rasch im ganzen Internet.“
Shoshana Zuboff: Überwachungskapitalismus. Wie wir Googles Sklaven wurden, FAZ.NET, 05.03.2016. Zum Volltext hier klicken.

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„Wir ruinieren das Klima? Unmöglich, wir retten doch das Klima! Wer, wenn nicht wir? So sehen sich viele Deutsche. Schließlich wurde in den vergangenen Jahrzehnten alles Mögliche dafür getan, man hat Windkrafträder auf die Felder gestellt und Solarpanels auf die Dächer, Häuser gedämmt, Elektroautos subventioniert, politische Pläne verabschiedet und Gesetze aller Art. Außerdem hat das Land mit Angela Merkel eine Kanzlerin, die auf allerlei Gipfeln immer wieder den Kampf gegen den Klimawandel versprochen hat“, schreibt Petra Pinzler und fährt fort: „Alles Selbstbetrug. Nichts ist besser geworden. Die CO₂-Emissionen Deutschlands sind weder in den vergangenen sieben Jahren gesunken, noch tun sie es derzeit.“
Petra Pinzler: Der Schnee von morgen, ZEIT ONLINE, 15. April 2017. Zum Volltext hier klicken.