20. Jahrgang | Nummer 9 | 24. April 2017

Politische Ökonomie des Sozialismus als Wissenschaft?

von Stephan Wohanka

Vor Tagen war ich Augen- und Ohrenzeuge eines Disputes darüber, was die Wissenschaft „Politische Ökonomie des Sozialismus“ zu leisten vermochte; mehr noch – ob sie unter den obwaltenden Umständen überhaupt eine Wissenschaft sein respektive werden konnte? Es geht in diesem Text nicht um den x-ten Nachweis, warum der Sozialismus scheiterte, sondern um eine wissenschaftstheoretische, eine methodologische Frage…
Unstrittig ist, denke ich, dass die Politische Ökonomie eine Wissenschaft ist. Ihr Schöpfer ist Karl Marx. Sie erklärt als geschlossene Theorie die Funktionsweise einer Produktionsweise – die des Kapitalismus. Und das deshalb, weil Marx seinerzeit als Zeitgenosse nur diesen analysieren konnte. Dass Marx sich auf Arbeiten von Adam Smith, David Ricardo und anderen stützte, ist unstrittig, schmälert aber sein Verdienst nicht. Da der Kapitalismus später in einem Teil der Erde dem Sozialismus zeitweise weichen musste, spricht man heute von der Politischen Ökonomie des Kapitalismus (gemeint ist damit eigentlich nur die klassische Marx-Wissenschaft Politische Ökonomie) und der des Sozialismus.
Ich bin der Auffassung, dass die Politische Ökonomie des Sozialismus im Unterschied zu der des Kapitalismus (oder eben der klassischen) keine Wissenschaft ist, keine in sich bündige Theorie bildet; besser gesagt – noch nicht bilden konnte. Warum? Wenn Hegel in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie schrieb, dass die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt, dann ist das ein Gedanke, der sich mit der Marxschen Einsicht deckt, dass erst aus der Anatomie des Menschen die des Affen zu erklären sei. Beide Worte gelten erst recht für eine Theorie, die sich ausdrücklich als historische begreift: Gesellschaften müssen eine gewisse Reife erlangt haben, ehe sie wissenschaftlich darstellbar sind respektive erst von einem höheren Entwicklungsstand derselben kann rückblickend etwas Substanzielles über ebendiese Gesellschaft und ihre Entwicklung gefolgert werden. Und noch weiter zurückschauend konnte Marx auch zu vorkapitalistischen Gesellschaften, ja zur sozial-ökonomischen Evolution generell Grundsätzliches beitragen – dass diese nach historischen Gesetzmäßigkeiten ablaufe. Ob dieser Theoriebestandteil des „Marxismus“ zu halten ist oder ob eher Kritikern wie Karl Popper recht zugeben ist, die derartige „überzeitlichen Drehbücher“ ablehnen, soll hier nicht weiter vertieft werden… Insgesamt ist daher Frage, die Horst Richter als Buchtitel wählt: „Die Politische Ökonomie des Sozialismus – eine Fehlleistung der Marxistischen Wirtschaftstheorie?“ zurückzuweisen; diese Theorie konnte keine „Fehlleistung“ sein, weil sie noch gar nicht in das Stadium der theoretischen „Leistungsfähigkeit“ eingetreten war, nicht eintreten konnte. Mit anderen Worten – die sozialistische Produktionsweise oder Gesellschaftsform existierte historisch zu kurz, um den bei Hegel und Marx unterstellten „Reifegrad“ erreichen zu können.
Der Sozialismus durchlief in den ihm zugehörigen Ländern mehr oder weniger ausgeprägt das, was Marx die ursprüngliche Akkumulation nannte, um eine sogenannte nachholende Industrialisierung ins Werk zu setzen, um eine materiell-technische Basis aufzubauen. (In der DDR wurden diese Phasen auch als „Störfreimachung“ – was für ein scheußliches Wort –, also als Entkopplung oder Entflechtung der ostdeutschen Industrie von der westdeutschen gehandelt). Diese Ausbauetappe meisterten die damaligen Volksdemokratien wesentlich in imponierender Art und Weise; sie zogen mit den entwickelten kapitalistischen Industrieländern qualitativ gleich – um historisch kürzeste Zeit später dieses Patt wieder zu verspielen. Um es kurz zu machen und beim Thema zu bleiben: Die Gründe dafür lagen paradoxerweise im Erfolg der bis dato legitimen administrativ-zentralistisch-repressiven Vorgehensweise, die sie dadurch in den Augen ihrer Anwender als einzig richtige und so dauerhaft anzuwendende erscheinen ließ. So konnte die „Politische“ Ökonomie nur eine „Ideologische“ werden; das heißt, dass die jeweiligen kommunistischen oder sozialistischen Parteien sich massiv in die „Wissenschaft“ einmischten und sie als Vehikel des „Klassenkampfes“ nach innen und nach außen missbrauchten. Ein weiteres, untergeordnetes Moment, das bewirkte, dass der Politischen Ökonomie des Sozialismus die Entfaltung zur Wissenschaft verwehrt wurde. Wobei diese ideologische Gängelung desgleichen ein Indiz für die Noch-Unreife des Systems ist.
Grundsätzlich beruhte die sozialistische Produktion auf dem gleichen linearen Muster wie die kapitalistische: Stoffentnahme aus Natur – Stoffverarbeitung – Wegwurf der produktiven und konsumtiven Exkremente. Darum änderte auch das minder oder mehr elaborierte System des heute so genannten Recyclings nichts. Insgesamt wurden die „Springquellen des Reichtums“ (Marx) – das heißt Natur und Arbeit – immer noch ausgebeutet, unzureichend genutzt oder vernachlässigt. Aber war nicht das „grundlegende Produktionsverhältnis“ vulgo das Eigentum an den Produktionsmittel ein diametral anderes? Privateigentum versus Volkseigentum? Jedoch schon in der Debatte um die Thesen von Fritz Behrens und Arne Benary wurde die Frage gestellt, ob allein die Veränderung des Eigentumsverhältnisses ausreicht, um eine neue Produktionsweise zu konstituieren. Diese Debatte und viele, viele andere nachfolgende – um das sozialistische Geld, die sozialistische Marktwirtschaft, Planung und so weiter – kreisten letztlich um die Frage, ob Sozialismus und Warenproduktion (Markt) miteinander vereinbar seien. Diese Frage spaltet noch heute die marxistische Linke in Befürworter und Gegner der These, dass Sozialismus ohne Warenproduktion theoretisch wie praktisch nicht denkbar sei. Das trifft in gewisser Weise den Punkt: Ohne eine hinreichend erprobte Praxis zum Zusammen- oder Wechselspiel von Plan und Markt ist aber eine geschlossene Theorie nicht möglich. Theoretische Überlegungen können zwar zu dieser oder jener Praxis raten, können zu praktischen Vorschlägen führen, aber erst die wissenschaftliche Analyse der sich dann herausgebildeten Praxis führt zu wissenschaftlichen Aussagen.
Summa summarum konnte sich die Politische Ökonomie des Sozialismus mit ihren Beiträgen nur sozusagen auf dem Erkenntnisniveau von Ricardo und Smith bewegen: Sie konnte Thesen liefern, die bei Fortexistenz des Sozialismus hätten in eine geschlossene Theorie, eine Wissenschaft eingehen können. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.