von Heino Bosselmann
Dem Begriff der Bildung ergeht es wie dem Wort Europa. Beide werden mit hochtransformiert positiver Konnotation aufgeladen und als Propagandismen eingesetzt. Wie alle Kampfbegriffe pauschal und mit totaler Schlagkraft. – Wer die Euro-Politik der Europäischen Zentralbank kritisiert, wer sich gegen die Nivellierung nationaler Eigenheiten wendet, der ist, wird ihm entsetzt vorgehalten, gegen Europa, dieses gute Ganze, mithin gegen die Teleologie, die propagiert, alles laufe ganz hegelianisch auf das Beste zu, wenn nur alle für Europa wären, das aber nur das Europa jener ist, die einschlägige politische Zuschreibungen vornehmen. Differenzierungen sollen ausgeschlossen sein, Alternativen erst recht, denn die kann es gegenüber dem besten Europa aller Welten ja nicht geben.
Es gelten, heißt es, sogenannte Grundvereinbarungen, deren Wesen übrigens darin besteht, dass sie nie irgendwer vereinbarte, schon gar nicht im Ergebnis einer breiten und kritischen Diskussion. Im Gegenteil: Wo solche Diskussionen und Abstimmungen je erfolgten, erwiesen sie sich gegenüber dem vormundschaftlichen Prinzip als so widerständig, dass die Mächtigen sie für null und nichtig erklärten und sogleich wussten, dass man es besser gar nicht erst hätte erlauben sollen. So geschehen, als Europa meinte, die Franzosen und Niederländer würden einer EU-Verfassung selbstverständlich zustimmen. Mitnichten, beide Nationen lehnten ab. Ach, hätte man sie doch besser nicht gefragt und es bei dem belassen, was sich einfacher machen lässt – der Verkündung von Zuschreibungen, und zwar möglichst so simpel, dass es jeder begreift: Man muss doch für Europa sein, wenn man gegen die mörderischen Materialschlachten des Ersten Weltkrieges sein will, diesen Horror, der – so heißt es – unweigerlich eine Folge des fatalen Nationalismus gewesen sei. Diese Grundvereinbarungen sind nichts anderes als politisch instrumentalisierte Behauptungen derer, die sie im Sinne von Macht und Nutzen deklarieren. Um alle anderen damit in die Pflicht zu nehmen.
Ganz ähnlich: Die heute als grundvereinbart geltende Bildung hat mit jener, die diesen Begriff einst idealistisch bildete, rein gar nichts mehr zu tun, denn vielmehr geht es ihr ganz pragmatischen Sinnes eher um education, so wie von den Reformern der Begriff des Coaching dazu dann auch als passend empfunden wird. Aber Bildung klingt so gut, so richtig, so positiv für Grundvereinbarungen. Bildung muss jeder wollen, ebenso wie Europa, und daher wird beides gleich mit der allergrößten Tugend verbunden, der Gerechtigkeit nämlich. So wächst aus dem Begriff der Bildung sogleich jener der Bildungsgerechtigkeit, umso mehr, wenn die Gesellschaft selbst immer ungerechter wird und überbaulich des tröstenden Ausgleichs bedarf.
Bildung und Europa muss jeder wollen, wird suggeriert, und zwar vernünftigerweise, wenn man nicht – wird gemahnt – Ungerechtigkeit und Schützengräben will, die – wiederum vernünftigerweise- keiner wollen kann. Völlig sekundär also, was mit diesen Begriffen etymologisch und geisteswissenschaftlich verbunden ist, denn es erfolgt mit der Umwertung der gewachsenen Bedeutung die Instrumentalisierung der tradierten Begriffe für ein neues Etikett, ein administrativ verklebtes Siegel, das Widerspruch verhindern will. Ganz ideologisch, klar.
Vergleiche hinken immer, aber man vergegenwärtige sich, wie der Nationalsozialismus mit dem Begriff der Ehre und der realexistierende Sozialismus mit jenem des Friedens umgingen; und man überlege, weshalb namentlich Ostberlin den dort Herrschenden als der „demokratische Sektor“ der zwischen einstigen Alliierten geteilten Stadt galt. Gelten sollte und musste. Alle Politik ist nur eines, Sprache nämlich, um tendenziöse Geltungen zu erzeugen. Und jeder Politiker ist ein Semantiker, die Diktatoren darunter die radikalsten.
Die Überspanntheiten des gegenwärtig so symptomatischen „korrekten Sprachgebrauchs“, immer im Sinne der „Antidiskriminierung“ (weil sich Diskriminierung ähnlich erledigt haben soll wie Kriege und Ungerechtigkeiten), offenbaren die Neurotisierung einer Gesellschaft, die gerade mit der von ihr zwangsläufig immer wieder generierten Ungerechtigkeit einem Kompensationsbedürfnis folgt, vorzugsweise wiederum in der Sprache. Politisch aber geht es um semantisch operierenden Gesinnungsterror, der durchaus antidemokratisch den Widerspruch der Widersprecher zu diskreditieren versucht, indem nur eines gelten soll, eben Europa statt Europa und Bildung statt Bildung.
Dies folgt einer sich eigendynamisch aufrüstenden Didaktik, die in einer grundlegend freien und eigentlich offenen Gesellschaft zunehmend die Kommunikation ideologisiert und daher Abwehrreflexe aufruft. Insofern dies als polemisch vitale Gegenrede im System der „Grundvereinbarungen“ beziehungsweise der „Correctness“ nicht mehr möglich ist, geschieht es eben von außerhalb – in Gestalt der rechten und des Populismus geziehenen Bewegungen, die mittlerweile gedanklich und publizistisch so intervenieren, wie es die Demokratie vielmehr in sich, parlamentarisch, nötig hätte – für Dispute, die sie nicht mehr führt. Wo blieb denn das Selbstvertrauen der selbsterklärten Demokraten? Wovor haben sie Angst? Vor der eigenen halbbewussten Einsicht, dass man nicht alles, was man für gut, richtig, menschlich und moralisch hält, von Kita bis Parlament anordnen kann, um wieder mal einen neuen Menschen herauszubilden? Mut zur dunklen Seite des Anthropologischen! Und offen damit umgehen! Man verliere Sophokles‘ Chor nicht aus der Erinnerung: Ungeheuer ist viel, aber nichts ungeheurer als der Mensch. Ihn per Dekret „verbessern“ zu wollen, darin erst liegt die Gefahr.
Man bemerke, wie viele Begriffe wegen veränderten oder instrumentalisierten Sprachgebrauchs schon apostrophiert werden müssten, und man schaue sich in dieser Weise eine Reihe anderer Worte an, die ebenfalls semantisch gewandelt oder gar verengt bzw. umgepolt werden, jenen der Toleranz etwa oder der Bunten Gesellschaft. Allein das provoziert schon die Frage: Ist diese „bunte Gesellschaft“ wirklich tolerant? Oder eher dabei, neu zu uniformieren?
Schlagwörter: Bildung, Europa, Heino Bosselmann, Politik, Semantik, Sprachgebrauch