von Mathias Iven
Am 15. August 1941 verlässt die „Uruguay“ den New Yorker Hafen. Zwölf Tage dauert die Überfahrt nach Rio de Janeiro. Unter den Passagieren befinden sich Stefan Zweig und seine Frau Lotte. Wenn Zweig nicht an seiner Autobiographie arbeitet, lernen sie gemeinsam Portugiesisch. – Bereits vor Jahren hat Zweig seine österreichische Heimat verlassen müssen. Sicher, der weltbekannte Autor war immer viel gereist, doch auf einmal sah alles anders aus. Es gab, auch wenn er es anfangs nicht wahrhaben wollte, kein Zurück mehr. „Die Welt von gestern“, sie existierte nicht mehr. Aus dem Reisenden war ein Exilant geworden.
„Das unmögliche Exil. Stefan Zweig am Ende der Welt“, so lautet der beziehungsreiche Titel des 2014 erschienenen und jetzt auf Deutsch bei C. H. Beck vorliegenden Buches des in New York lebenden Journalisten und Schriftstellers George Prochnik. Der Autor, selbst Nachfahre von Wiener Emigranten, zeichnet darin nicht nur die Umstände nach, die Zweig von England in die USA und schließlich nach Brasilien führten. In einer persönlichen Zeitreise vergleicht er Zweigs Schicksal mit dem seiner Familie. Dabei interpretiert Prochnik Zweigs unstete Suche nach einem neuen Lebensort als „eine sich dahinschleppende Kostümprobe vor der endgültigen Trennung von Europa“.
1936 hatte Zweig Brasilien zum ersten Mal besucht. Damals war er „fasziniert und gleichzeitig erschüttert“. Die Schönheit der Natur war überwältigend. Was ihn jedoch am meisten beeindruckte und was er so nicht erwartet hatte, war „eine ganz neue Art der Zivilisation“, die geprägt wurde von „Kühnheit und Großartigkeit in allen neuen Dingen“ und die dennoch ihre geistige Kultur bewahrte. Als er fünf Jahre später von Bord geht, fühlt er sich sofort geborgen: „Jene fürchterliche Spannung, die nun schon seit einem Jahrzehnt an unseren Nerven zerrt, ist hier fast völlig ausgeschaltet“. So lautet sein Bekenntnis in dem kurz nach seiner Ankunft veröffentlichten Buch „Brasilien. Ein Land der Zukunft“, das bei den Kritikern allerdings ein geteiltes Echo hervorrief, bemängelten doch einige zu Recht, dass Zweig „die unternehmerische Dynamik des Landes nicht angemessen gewürdigt“ habe.
Ein neues Zuhause soll und muss gefunden werden. Das nördlich von Rio de Janeiro gelegene Petrópolis erinnert Zweig an „ein deutsches Provinzstädtchen“. Die Zweigs mieten ein Haus in der Rua Gonçalves Dias 34, am 17. September 1941 ziehen sie dort ein. Noch am selben Tag spricht Zweig in einem an seine erste Frau Friderike gerichteten Brief die Hoffnung aus: „Wenn es nur gelingt, hier Europa zu vergessen […].“ Zweig wendet sich wieder seinen Manuskripten zu. Er schreibt an der „Schachnovelle“ und beschäftigt sich mit Montaigne und Balzac.
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Briefe sind für die Zweigs in den Jahren des Exils die einzige Verbindung zur Außenwelt. Rechtzeitig zum 75. Todestag legt der Berliner Verlag Hentrich & Hentrich jetzt einen Band mit all jenen Schriftstücken vor, die Stefan und Lotte Zweig zwischen Juli 1940 und Februar 1942 an ihre Verwandtschaft geschickt haben. Inhaltlich und zeitlich schließt das Buch damit an die 2013 bei S. Fischer edierte Korrespondenz zwischen Stefan und Lotte Zweig aus den Jahren 1934 bis 1940 an. Gegenüber der früheren englischen, französischen und portugiesischen Ausgabe wurde die deutsche Fassung wesentlich überarbeitet und erweitert. Hinzugekommen sind so neue Dokumente zu Zweigs Reise nach Uruguay im Herbst 1940 sowie wichtiges Material zu Lotte Zweigs Bildungshintergrund und zu Mitgliedern ihrer Familie, die sich schon früher in Brasilien niedergelassen hatten.
Die umfangreiche und sehr informative Einleitung fasst die den Schriftverkehr bestimmenden Themenkreise wie folgt zusammen: Da ist zum einen die Tatsache, dass die Zweigs in Brasilien und Argentinien zwar als Berühmtheiten gefeiert wurden, dass sie sich andererseits aber durchaus Sorgen um ihre finanzielle Absicherung machten. Des Weiteren erkundigten sie sich immer wieder nach den in Europa verbliebenen Familienmitgliedern und Freunden. Einiges ist über die naive Einstellung zur politischen Situation in Südamerika sowie die daraus resultierenden, die Kultur der Länder betreffenden Verallgemeinerungen zu erfahren. Und schließlich geht es immer wieder um die das Exil bestimmende Isoliertheit und den geistigen und körperlichen Verfall.
Der vierte Abschnitt des in fünf Teile gegliederten Bandes versammelt die letzten 30 Briefe, die zwischen dem 24. August 1941 und dem 21. Februar 1942 geschrieben wurden. Ende 1941, man hat sich in Petrópolis ein wenig eingelebt, bekennt Zweig seinem Schwager und dessen Frau: „[I]ch hätte niemals gedacht, dass ich in meinem sechzigsten Lebensjahr in einem kleinen brasilianischen Dorf sitzen und mich von einem barfüßigen schwarzen Mädchen bedienen lassen würde, meilenweit entfernt von meinem früheren Leben, meinen Büchern, den Konzerten, Freunden und Gesprächen.“ Am 1. Februar 1942 schmiedet er noch Pläne für die Zukunft: „Wir hoffen, dass nächste Woche die Entscheidung fällt, ob wir den Bungalow für die nächste Mietsperiode behalten können. – Wir wollen nicht umziehen und haben uns schon an die Gegend gewöhnt.“ Zehn Tage später der Stimmungsumschwung: „Alles wäre perfekt, wenn uns nur nicht unsere trüben Gedanken belasteten. Wir gehen still und ohne großen Eifer unserer Arbeit nach, denn es liegt etwas in der Luft, was einen träge macht.“
Die trüben Gedanken lassen sich nicht mehr vertreiben. Am 21. Februar 1942, einen Tag vor dem gemeinsamen Freitod lässt Stefan Zweig Lottes Bruder und dessen Frau wissen: „Uns hat es in diesem Land enorm gefallen, aber wir führten hier immer nur ein provisorisches Leben fern von unserem Heim und unseren Freunden.“ Zweig, ein „ungerührter Stoiker angesichts der Mysterien des Grabes“ (Prochnik), verliert dennoch nicht sein Vertrauen in die Geschichte. „Ich grüsse alle meine Freunde!“, so heißt in seinem „Declaração“ überschriebenen Abschiedsbrief: „Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.“
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Adressbücher verraten viel über eine Person. Dass man einer solchen Informationsquelle keine Beachtung schenkt, mag verwundern. Immerhin vergingen mehr als sieben Jahrzehnte, bis das letzte, in den Jahren 1940 bis 1942 von Stefan Zweig geführte Adressbuch in einer hervorragend edierten und kommentierten Fassung der literarisch wie biographisch interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Die 2014 in Brasilien publizierte, nunmehr in einer deutschen Übersetzung gleichfalls bei Hentrich & Hentrich erschienene Ausgabe erweist sich als ein kulturhistorisches und zeitgeschichtliches Nachschlagewerk par excellence.
Nach einleitenden Texten zur Entstehung und zum Inhalt des Adressbuches ist dieses in Gänze als Faksimile im Originalformat wiedergegeben. Dabei erlaubt es die ausgezeichnete Druckqualität, dass man selbst ausradierte oder überschriebene Einträge entziffern kann. Mit teils sehr umfangreichen biographischen Angaben werden anschließend die 158 Personen vorgestellt, die Zweig, wie Alberto Dines, Präsident der Casa Stefan Zweig im brasilianischen Petrópolis, sagt, „für sein Adressbuch ausgewählt hatte, um mit ihnen durch das Exil zu ziehen“. Dabei handelte es sich zum größten Teil um Menschen, denen Zweig erstmals auf seiner zweiten Brasilienreise in den Jahren 1940/41 begegnet war. Was die Auswahl von Adressen auf der anderen Seite des Atlantik bestimmte, bleibt fraglich. Dines meint: „Die Zusammenstellung dieser Galerie von dramatis personae war in sich nicht schlüssig, war beliebig, widersprüchlich, zufällig – Launen des Vergessens und Erinnerns.“ Wobei zu bedenken ist, dass Zweig vermutlich sein zuvor im englischen Exil benutztes Adressbuch bei sich führte und dass einige der einstigen Freunde und Kollegen nicht mehr lebten: Joseph Roth, Ernst Toller, Max Hermann-Neiße …
In Zweigs letztem Adressbuch finden sich unter anderem die Namen des Architekten Alfred Agache, des Musikkritikers Alfred Einstein und des seit 1934 mit Zweig bekannten Dirigenten Arturo Toscanini. Aufgeführt sind sein Testamentsvollstrecker Abrahão Koogan und der von Zweig zur Durchsicht seiner noch unveröffentlichten Texte vorgeschlagene, aus dem mecklenburgischen Güstrow stammende Victor Wittkowski. Die Schriftstellerin und spätere Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral, die einen der bewegendsten Texte über Zweigs Tod schrieb, findet sich ebenso wie der französische Literaturnobelpreisträger Roger Martin du Gard, der Zweig Anfang Januar 1942 brieflich in seinem Entschluss zum Selbstmord bestärkt hatte. Iwan George Heilbut, der Zweig um ein Vorwort zu seiner Gedichtsammlung „Meine Wanderungen“ gebeten hatte, und der an der Universidade do Brasil lehrende Literaturhistoriker Fortunat Strowski sind genauso verzeichnet wie Zweigs brasilianischer Verlag „Editora Guanabara“, die 1934 in New York gegründete deutsch-jüdische Zeitschrift „Aufbau“ oder die von Klaus Mann herausgegebene literarische Monatsschrift „Decision“. Daneben gibt es aber auch Einträge wie den zu der Schriftstellerin Dorothy Baker, bei der nicht bekannt ist, in welcher Beziehung sie zu Zweig stand.
Wer sich für Stefan Zweigs letzte Lebensjahre interessiert, wird um die drei hier angezeigten Neuerscheinungen nicht herumkommen!
George Prochnik: Das unmögliche Exil. Stefan Zweig am Ende der Welt, C. H. Beck Verlag, München 2016, 397 Seiten, 29,95 Euro.
Darién J. Davis und Oliver Marshall (Herausgeber): Stefan und Lotte Zweigs südamerikanische Briefe. New York, Argentinien und Brasilien 1940–1942, Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin 2017, 335 Seiten, 27,90 Euro.
Alberto Dines, Israel Beloch, Kristina Michahelles (Herausgeber): Stefan Zweig und sein Freundeskreis. Sein letztes Adressbuch 1940–1942, Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin 2016, 240 Seiten, 27,90 Euro.
Schlagwörter: Adressbuch, Brasilien, Briefe, Exil, George Prochnik, Hentrich & Hentrich, Lotte Zweig, Mathias Iven, Stefan Zweig