von Erik Baron
Der entscheidende Satz in Kathrin Schmidts neuem Roman „Kapoks Schwestern“ steht gleich auf den ersten Seiten: „Die Zeit ist eine Dampframme, der nichts widersteht.“ Da ist sie wieder, die alte Fettvettel Zeit aus „Seebachs schwarze Katzen“, nunmehr mutiert als Dampframme, die alles unter sich zu zermalmen droht, wenn es uns nicht gelingt, ihr mit unserem Erinnerungsvermögen ein Schnippchen zu schlagen. Und erinnert wird sich viel in Schmidts neuem Roman.
Was zunächst als einzelner Ariadnefaden im Labyrinth der Vergangenheit beginnt, verwebt sich allmählich als feines Gespinst um Raum und Zeit und hält die Welt als Ganzes zusammen. Erinnern als zentraler Baustein des menschlichen Daseins – auf diesen Nenner ließe sich „Kapoks Schwestern“ bringen. Ohne das Erinnern würde die Dampframme das Zepter übernehmen. Dabei dreht sich in Schmidts Roman alles nur um zwei Familien – und umkreist doch die deutsch-jüdische Geschichte des letzten Jahrhunderts von 1914 bis zur Gegenwart des Jahres 2015. Familiengeschichte wird bei Kathrin Schmidt zur Weltgeschichte. Und umgekehrt. Das individuelle Schicksal lässt sich nicht losgelöst von den historischen Gegebenheiten betrachten, die wiederum vom Handeln eines jeden Individuums abhängen. „Kapoks Schwestern“ ist ein Musterbeispiel solch dialektischer Weltanschauung und Kathrin Schmidt eine Meisterin des Verknüpfens von Faktischem mit Fiktivem.
Werner Kapok kehrt nach über zwanzigjähriger Abwesenheit besuchsweise in sein Elternhaus in einer Berliner Einfamilienhaussiedlung zurück. Die Eltern leben schon lange nicht mehr. Und auch im Nachbarhaus haben sich seit Jahren, seit dem Tod ihrer Eltern, die Schaechter-Schwestern Claudia und Barbara niedergelassen, die Werner seit frühester Kindheit kennt. Mit ihnen ist er gemeinsam in den Kindergarten gegangen und hat sich später wechselseitig in sie verliebt. Doch mit der Wende und dem Weggang Kapoks vor 24 Jahren ist diese Dreisamkeit zerrissen. Und plötzlich, im August 2014, ist Werner Kapok, ein klassisches Wendeopfer, zurückgekehrt und wird zum Katalysator des Erinnerns.
In Rösselsprüngen durch die Vergangenheit und zurück in die Gegenwart beginnt nun eine intensive Zeit des Erinnerns. Allmählich fügen sich die Bilder der jüdischen Schaechter- und der deutschen Kapok-Familie zusammen. Fügen sich Mosaikstein für Mosaikstein in den Rahmen des vergangenen Jahrhunderts. Krieg und Vertreibung rissen die jüdischen Familien auseinander und verstreuten sie über den gesamten Globus. In der DDR dann die große Zeit der Hoffnung auf einen Neuanfang, der das Jüdischsein nicht existentiell in den Lebensmittelpunkt stellt. Im Sozialismus, so die Hoffnung der kommunistisch gesinnten Rückkehrer, sei das Jüdische nicht mehr wichtig, könne verdrängt werden. Ein Trugschluss, wie sich später herausstellte, denn die Verdrängung des Jüdischen kam vielfach einer Entwurzelung gleich.
Das ist den Schaechter-Schwestern – Kapoks Schwestern – in ihrem gemeinsamen Erinnern deutlich geworden. Dass sich ihre Eltern, immer wenn es auf das Jüdische zu sprechen kam, abgewendet haben. Dass ihnen nie das Jüdische von Vaters Kopfbedeckung in den Sinn kam, als er im Urlaub am Ostseestrand eine gehäkelte Kippa trug. Er trug sie aber eben auch nur im Urlaub. Im Alltag waren Joachim Schaechter und Kurt Kapok, der Vater von Werner, nicht nur Nachbarn, sondern auch Kollegen, arbeiteten als Journalisten bei der Gewerkschaftszeitung Tribüne, Schaechter mehr ein intellektueller Feingeist, Kapok eher dogmatischer Poltergeist. Aber dennoch an einem Strang ziehend, am sozialistischen. Da spielten die jüdischen Wurzeln Schaechters keine Rolle.
Und dennoch gärte es unter der Oberfläche. Joachim Schaechter bekam es immer wieder zu spüren, ob es wegen seines intellektuell-bürgerlichen Habitus oder seiner hinterfragenden politischen Haltung war. Sogar sein Freund Kurt Kapok war nicht frei von alten antisemitischen Vorurteilen. Selbstverdrängung des Jüdischen auf der einen Seite und der unterschwellig gärende Antisemitismus auf der anderen Seite – zwei Seiten einer Medaille, die sich offenbar bedingen.
Der Lebensweg der jüdischen Eltern von Joachim Schaechter war der vieler deutscher Kommunisten. Nach Machtantritt der Nazis fanden sie sich in der Moskauer Emigration wieder, kamen vom Regen in die Traufe – nur mit dem Unterschied, dass an dieser Traufe die Hoffnung auf eine menschliche Gesellschaft hing. Eine Hoffnung, die sie nie aufgaben. Trotz Verhaftung des Vaters und drohender Ausweisung aus der Sowjetunion (was den sicheren Tod in Deutschland bedeutet hätte).
Mit dem Ende des Krieges kehrten sie nach Deutschland zurück, wo sie 1946 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen. So blieb von der Schaechter-Familie nur noch Sohn Joachim übrig. Seine jüngere Schwester Lydia ist 1938 mit dreizehn Jahren an Ruhr verstorben und die jüngste Schwester Lea mussten sie wegen einer akuten Erkrankung schon bei ihrer Flucht 1934 in Österreich zurücklassen. Joachim hat sie nie wieder gesehen. Erst nach der Jahrtausendwende fand sich dank Internets eine Spur zu Lea, die, mittlerweile über 80 Jahre alt, in Sarajevo lebte. Sie wurde 1934 mit fünf Jahren nach der Flucht ihrer Eltern Richtung Moskau von jüdischen Freunden gesund gepflegt und später adoptiert. Sie landete in Bosnien, wo sie eine eigene Familie gründete, deren Kinder es bis nach Israel verschlagen hat.
So lebt auch die Schaechter-Familie, verstreut in alle Winde, weiter fort. Die familiäre Bande reicht bis nach Kalkutta, wo ein Großcousin mütterlicherseits lebt. Und natürlich lassen es sich Claudia und Barbara nicht entgehen, auch ihm einen Besuch abzustatten, wo es im Jahr 2000 zu jener wundersamen Kopfsturzgeburt Claudias kommt, die fortan ihr Leben bestimmen sollte. Durch das Fenster ihres Taxis in Kalkutta wurde ihr ein blutiges Bündel Leben auf den Schoß geworfen, ein kleines Mädchen mit einer offenen Wunde im Nacken, aus der bereits Maden krochen. Claudia fiel sofort in eine tranceähnliche Bewusstlosigkeit, die ihre Mutterinstinkte reaktivierten, die sie vor vielen Jahren bei einer Spontanabtreibung abgetötet hatte. Sie war von Werner Kapok schwanger gewesen, der damals jedoch mit ihrer Schwester Barbara liiert war. Sie fühlte sich schuldig und lud mit der Abtreibung eine noch größere Schuld auf sich, die sie nun in Kalkutta mit dem zugeworfenen Kind plötzlich abtragen zu können glaubte, indem sie es zum Patenkind nahm. Und dieses bengalische Patenkind, mittlerweile 18 Jahre alt, kommt sie am Ende des Romans im Jahr 2015 zu einem freiwilligen sozialen Jahr nach Berlin besuchen. Der Kreis der Schaechter-Familie schließt sich und nimmt globale Ausmaße an. Die Welt rückt – dank des gemeinsamen Erinnerns – enger zusammen.
Indem Kathrin Schmidt in ihrem opulenten Familienroman den Bogen horizontal von Berlin über Moskau, Sarajevo bis Kalkutta und vertikal zurück bis ins Jahr 1914 spannt, entwickelt sie die Familiengeschichte zu einem großen Gesellschaftsepos und erinnert in seiner Erzählstruktur an Regina Scheers Roman „Machandel“. Alles hängt mit allem zusammen. Mit gekonnter Hand verknüpft sie Fiktives mit Faktischem und legt beim Faktischen eine Detailverliebtheit an den Tag, die hin und wieder einen Zug ins Manieristische hat.
Mit „Kapoks Schwestern“ zeigt sie, dass die Befürchtung, das Jüdische könne nach dem Holocaust des letzten Jahrhunderts tatsächlich aussterben, unbegründet ist, dass in einer globalisierten Welt die jüdische Tradition und Kultur weiterzuleben vermag. Vorausgesetzt man verlernt das Erinnern nicht – sonst gerät nicht nur Familie unter die Dampframme Zeit.
Kathrin Schmidt: Kapoks Schwestern, Kiepenheuer & Witsch, 2016, 448 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: "Kapoks Schwestern", DDR, deutsch-jüdische Geschichte, Erik Baron, Exil, Globalisierung, Kathrin Schmidt